Was für eine Zuschreibung ganz am Anfang des Romans von Gerd Ledig. Was folgt, ist ein Höllenritt. Cover: Suhrkamp. Bild erstellt mit Canva.

Ein radikaler Roman. Wer ihn liest, behält Bilder zurück. Jahre, Jahrzehnte habe ich sie nach der ersten Lektüre mit mir herumgetragen, sie sind beinahe unauslöschlich. Fast bin ich versucht, die martialische Sprache zu verwenden, mit der oft beschrieben wird, was Bomben mit einer Stadt anrichten, auf die sie fallen. Doch das würde diesem Roman nicht gerecht, der gerade durch seine karge, knappe und kommentarlose Sprache nachwirkt.

Am Ende von Gert Ledigs Vergeltung bleibt der Leser in gewisser Hinsicht atemlos zurück. Hinter ihm liegt ein Höllenritt. Sommer 1944. Deutschland im Bombenkrieg. Eine Stunde aus diesem Gemetzel, dem hunderttausende Zivilisten, Soldaten, Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und alliierte Luftwaffenangehörige zum Opfer gefallen sind.

Formulierungen wie diese wirken nach der Lektüre hohl. Phrasen. Auch die Zahlen scheinen nichts mehr auszusagen, sondern Fakten verbergen, wie ein Schleier vor der Wahrheit. Denn Ledig lässt den Leser mit den Opfern leiden, wenn diese verbrennen, verglühen, von herumfliegenden Splittern getroffen, unter Trümmern begraben, von Bordwaffen und Explosionen zerfetzt werden und sterben. Oft ganz beiläufig – plötzlich sind sie tot.

Fiel mit ausgebreiteten Armen vom Gehweg. Auf die Fahrbahn. In den flüssigen Asphalt.
Es zischte. Der Teer warf Blasen.
Von Schmerz gepeinigt, wälzte er sich als schwarzer Klumpen in zäher Masse.
Er schrie nicht, kämpfte nicht. Seine Bewegungen dirigierte die Hitze.
Sie krümmte ihn zusammen, warf seinen Kopf hoch. Sie breitete seine Glieder auseinander, als umarmte er die Erde. Er glich keinem Menschen mehr, er glich einem Krebs.
Er starb nicht nach einer Todesart, die bereits erfunden war. Er wurde gegrillt.

Gert Ledig: Vergeltung

Die  Schilderungen sind schwer erträglich, die völlig unberechenbare und absurde Auswahl jener, die sterben, macht fassungslos. Der Tod selbst scheint den Verstand verloren zu haben, wie die Personen in diesem Buch – die handeln, reden, Entschlüsse fassen und fallen lassen, aber auf eine zerrüttete, aus den Fugen geratene Weise. Es gibt absolut nichts Heroisches, nichts Sentimentales, nichts Verklärendes.

Gott ist da. Er wird ganz am Anfang erwähnt, durch einen Bibelvers; und auch am Ende, wenn das von Gustav Adolfs Schweden ins Reich gebrachte und von der Wehrmacht aufgegriffene Motto »Gott mit uns« genannt wird. Das wirkt angesichts dessen, was den Menschen widerfahren ist, was sie einander angetan haben, wie purer Hohn. Ganz am Ende heißt es noch, die Vergeltung, deren man Zeuge geworden ist, wäre nicht das Jüngste nicht gewesen. Dabei ist eine Steigerung schwerlich vorstellbar.

Sie rannten durch Vorhänge aus Asche, sprangen über Flammen und wateten durch Glasscherben wie durch zersplittertes Eis.

Gert Ledig: Vergeltung

Es ist nur eine Stunde, die geschildert wird. Dabei springt die Erzählung zwischen mehreren Perspektiven hin und her. Eine amerikanische Bomberbesatzung, Flakbedienungen, Feldpolizei, ein Ehepaar, ein Mann auf der Suche nach seinen Angehörigen, sowjetische Zwangsarbeiter, Zivilisten in Bunkern – manchmal kreuzen sich ihre Wege, oft verhängnisvoll, ebenso oft wirr, gespenstisch und zutiefst verstörend.

Wer vermag sich vorstellen, wie es in einem Bunker zugeht, der zusammenstürzt und die Insassen verschüttet? Und wer, dass ein überlebender Mann die Situation ausnutzt, und eine ebenfalls überlebende Frau vergewaltigt, obwohl beide in einer brenzligen, wie sich herausstellt: aussichtslosen Lage sind?

Wer sich ausmalen, dass auf einen amerikanischen Soldaten am Fallschirm gefeuert wird, viele Soldaten und Zivilisten fordern, ihn zu lynchen – stellvertretend für die Verwüstungen, die von der US-Luftwaffe angerichtet wurden? Und wer, wie sich ein Arzt gegenüber diesem schwer verwundeten Amerikaner verhält?

»Was ich jetzt brauche!« flüsterte der Arzt, »das ist eine Peitsche!«

Gert Ledig: Vergeltung

Die Menschen, Opfer und Täter, bleiben nicht gesichts- und namenlos in diesem Roman. Oft wird nur ihr Rang oder ihre Tätigkeit genannt, doch hat Ledig kurze biographische Skizzen eingefügt, die über eine Person knapp Auskunft geben. Sprachlich brechen diese Abschnitte die atemlose Hatz, sind nüchtern und sachlich gehalten, was die Schicksale noch bedrückender erscheinen lässt.

Vergeltung von Gert Ledig ist ein eindrückliches Buch über die völlige Entmenschlichung des Bombenkrieges. Wer sich diesem kritisch nähert, fragt, ob es für den Kriegsverlauf wirklich nötig gewesen ist, so viele Zivilisten gezielt zu töten, bekommt auch von Historikern sachlich fundierte Antworten, etwa im letzten Band der vorzüglichen Reihe Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg. Wer diesen Roman liest, macht sich keine Illusionen um den Preis, der von Unschuldigen gezahlt wurde.

Gert Ledig: Vergeltung
Suhrkamp
Taschenbuch
234 Seiten
ISBN 978-3518188514