Ich hätte es ungern früher in die Hände bekommen. Es ist das richtige Buch zum richtigen Zeitpunkt. Anatomy of Story von John Truby hat meine Sicht auf Texte und mein Schreiben beeinflusst und verbessert. Es gibt eine Zeit vor und nach Truby, das merke ich an meinen eigenen Texten, aber auch an denen, die ich seitdem testgelesen, redigiert und lektoriert habe.
Zu den kuriosen Umständen gehört, wie ich auf Truby gestoßen bin: Ein Youtube-Video zum Thema Game of Thrones, in dem die Charakterentwicklung von John Snow in der letzten Staffel kritisch beleuchtet wurde. Der Ersteller hat Truby zitiert – und dessen Aussage hat den Nagel auf den Kopf getroffen. Und mich dazu verleitet, seine Anatomy sofort zu kaufen.
Komplexität statt Schlichtheit
Zum Glück habe ich noch gut ein Jahr gewartet, ehe ich mich wirklich darangesetzt habe, es zu lesen, denn zu diesem Zeitpunkt waren die Voraussetzungen erheblich günstiger, um den vollen Nutzen aus der Lektüre zu ziehen und seinen Nachteilen zu entgehen. Es ist einer jener Momente gewesen, in dem ich mich von Schillers Götterfunken berührt fühlte: von einem Aha-Erlebnis zum nächsten!
Machwerke zum Thema Schreiben gibt es zahlreiche. Die englische Schriftstellerin Hilary Mantel hat einmal – verhalten spöttisch, nehme ich an – gesagt, dass es nie verkehrt wäre, ein Buch darüber zu lesen, wie man etwas macht. Es schade selten. Ihre geniale Cromwell-Trilogie wäre aber niemals entstanden und erst recht nicht in der Form, die sie gewählt hat, wäre sie manchem wohlmeinenden Rat aus Schreibratgebern gefolgt.
But ironically, this intense spotlight on the hero, instead of defending him more clearly, only makes him seem like a one-note marketing tool.
John Truby: Anatomy of Story
Anatomy of Story von John Truby steht für das Gegenteil: Eine extrem dicht gewobene Darstellung von Bestandteilen einer guten Geschichte, die tatsächlich etwas vom analytischen und abstrakten Charakter eines medizinischen Werkes über die menschliche Anatomie hat. An dessen überbordende Komplexität reicht Trubys Buch – glücklicherweise – nicht heran.
Lesen und Schauen
Um wirklich etwas daraus mitnehmen zu können, sollte man sehr viele Bücher gelesen, viele (z.T. sehr alte) Filme gesehen und einige tausend Seiten geschrieben haben. Wer „Tootsie“ nicht kennt, wird aus diesem Buch signifikant weniger herausziehen können, als jemand, der diese brillante, vierzig Jahre alte Komödie kennt. „Casablanca„? „L.A. Confidential„? Anschauen! Dann lesen und nochmals anschauen.
Gilgamesch und Enkidu? Ein einziger, kleiner Hinweis in der Anatomy, aber wer das Epos kennengelernt, also sich durch seine sperrige Form hindurchgefochten und es für sich erschlossen hat, wird diesen kleinen Hinweis nicht einfach überlesen, sondern als Gewinn empfinden: das erste Buddy-Duo der literarischen Weltgeschichte!
The strategy of using the buddy relationship as the foundation of the character web is as old as the story of Gilgamesh and his great friend Enkidu.
John Truby: Anatomy of Story
Eine Gefahr droht: Der Kreative wird zum Erfüllungsgehilfen
Es liegt in der Natur der Herangehensweise, dass eine Anatomie sehr strukturell, abstrakt und formal angelegt ist. Die Gefahr, die sich daraus für den Kreativen ergibt, liegt auf der Hand: Die einzelnen Schritte, die Truby für gutes Erzählen als essentiell hält, abarbeiten und ausfüllen wie eine Formular. Der Urheber als Erfüllungsgehilfe.
Truby selbst weist an vielen Stellen darauf hin, dass man das bitte zu unterlassen habe – doch die verlockende Sogwirkung struktureller Muster ist enorm. Ich war daher sehr froh, dass ich bereits 3.000 und mehr Seiten geschrieben hatte, bevor ich dieses Buch zu Lesen bekam. Das ist eine Art Schutz gewesen, ein dicker Panzer, der es erlaubte, die hilfreiche Wirkung der Anatomy zuzulassen, ohne in formales Schreiben abzugleiten.
Es gibt so viele Bücher, Filme und Serien, die an formalen Erfüllungswahn leiden, ja von ihm zerstört werden. Er bleibt eine vorhersehbare, für den Leser oder Zuschauer erschöpfende Abfolge von einander ähnelnden Erzähllinien angereichert mit absurden Twists. Wer sich an die von Truby vorgeschlagenen Schritte sklavisch hält, kann ebenfalls in diese Falle tappen und sollte sich besser wappnen.
Sehr wahr, als reiner Erfüllungsgehilfe möchte niemand wahrgenommen werden, schon gar nicht, wenn es um einen schöpferischen Prozess geht. Nur verführt diese berechtigte Abneigung viele Autoren offenbar dazu, sich erst gar nicht mit dem Handwerk zu beschäftigen. Sie machen da etwas ganz persönliches, sind ganz bei sich, schöpfen nur aus ihrer Fantasie… auch das geht häufig schief und findet kein Publikum…
Ja, das ist richtig. Was häufig übersehen wird: Auch geniale Schriftsteller haben das Schreiben gelernt, z.B. durch umfangreiche Lektüre, eigene Schreibversuche (die nicht veröffentlicht wurden) und Debatten. Mich bewegt die Frage, wann und wie man sich mit dem „Handwerk“ befassen soll. Um bei Truby zu bleiben: Er stützt sich auf eine große Anzahl Filme und Bücher, die wichtigsten sollte man lesen / anschauen, wenn man seine Anatomy durcharbeitet. Das dauert und ist anstrengend. Und wer nimmt sich die schon?