Das Jahr 1923 hat einiges an dramatischen Ereignissen zu bieten, für meinen Geschmack kommt in diesem Sachbuch die Erklärebene zu kurz. Cover HarperCollins, Bild mit Canva erstellt.

Vor einhundert Jahren erlebte das Deutsche Reich aka Weimarer Republik ein Horror-Jahr: 1923 hat vieles zu bieten, das einem Demokraten die Haare zu Berge stehen lässt. Putsch- und Aufstandsversuche von Ultrarechts bis Ultralinks; ein undurchsichtig agierendes Militär, das bestenfalls ein distanziertes, eher ablehnendes, oft hasserfülltes Verhältnis zur Republik pflegt; Agitation – auch lange vor Twitter & Co.; Reparationslasten und Ruhrbesetzung; eine völlig überforderte und dilettantisch handelnde Regierung Cuno; und natürlich: Inflation!

Jutta Hoffritz berührt in ihrem Buch Totentanz – 1923 und seine Folgen einige dieser Aspekte, womit bereits ein großes Manko und in gewisser Hinsicht auch Vorzug des Werkes genannt ist. Allzu komplex ist dieser Totentanz nicht, denn er schildert das Jahr aus der Sicht einzelner Zeitgenossen: eine berühmte Tänzerin namens Anita Berber, die Künstlerin Käthe Kollwitz, der Großindustrielle Hugo Stinnes, der Reichsbankpräsident Rudolf Havenstein.

Es ist ein mittlerweile vertrautes Vorgehen, einen bestimmten Zeitraum der Gesichte aus der multiperspektivischen, sehr unmittelbaren Sicht von Zeitgenossen zu schildern. Hoffritz’ Figurenauswahl ist gut, sie schöpft die Möglichkeiten aber nicht aus, sondern beschränkt sich allzu sehr auf Individuelles. Die erklärenden, analytischen Ergänzungen fehlen etwas, damit erhält der Leser auch keinen ausreichenden Zugang zu Erklärungsversuchen, warum etwas geschehen bzw. nicht geschehen ist. Beispielsweise bleibt völlig unklar, was Inflation eigentlich bedeutet und wo ihre Ursprünge lagen.

Viele damals lebende Menschen waren tatsächlich mehr oder weniger ahnungslos, durchschauten nicht die politischen und wirtschaftlichen Hintergründe, ja nicht einmal ihr eigenes Unwissen und griffen nach einfachen Lösungen und Parolen. Wenn das aber dem Leser einhundert Jahre später vorenthalten wird, ist das problematisch, vor allem im Zusammenhang mit weitreichenden Thesen, etwas, dass die Republik von Weimar nach 1923 eine auf Abruf gewesen sei. Das kann man durchaus so sehen, doch liefertTotentanz viel zu wenige Substanz, um die Ansicht zu stützen.

Wer das unmittelbare, alltägliche Erleben von politischen und wirtschaftlichen Schlüsselfiguren sowie Prominenten sucht, wird hier fündig.

Jutta Hoffritz: Totentanz – 1923 und seine Folgen
HC 336 Seiten
HarperCollins 2022
ISBN: 978-3-365001301