Wie erlebt jemand im Land des Aggressor den russländischen Angriffs- und Vernichtungskrieg gegen die Ukraine? Antworten gibt es in diesem Tagebuch. Cover Suhrkamp Verlag, Bild mit Canva erstellt.

In Russland ist der Zweite Weltkrieg bis in die Gegenwart sehr präsent. Die russländische Version des Zweiten Weltkrieges, sollte man sagen, in der dieser erst im Juni 1941 beginnt, in der es keinen sowjetischen Angriffskrieg gegen Finnland, keine Annexion des Baltikums und Bessarabiens und erst recht keine Eroberung Ostpolens gibt, Hand in Hand mit den Nationalsozialisten.

Diese geschichtlichen Erzählungen dienen nur der Propaganda; aber natürlich gibt es auch die Erinnerungen Einzelner, mündlich, in Berichten, Tagebüchern, Briefen oder Romanen, die von den Kriegserlebnissen erzählen. Der erste Kriegstag nimmt dabei eine besondere Rolle ein, wenn die Welt aus den Angeln gehoben wird und alles umstürzt.

Das sollte man beachten, wenn man jenen Satz liest:

Ich hatte nie gedacht, dass es auch in meinem Leben einmal einen ersten Kriegstag geben würde.

Natalja Kljutscharjowa: Tagebuch vom Ende der Welt

Natalja Kljutscharjowa schreibt diesen Satz in ihrem Tagebuch vom Ende der Welt, angesichts der nicht abreißenden Kette an größeren und kleineren Kriegen rund um den Erdball, den nicht enden wollenden Bürgerkriegen und Kämpfen zwischen Kriegsherren und Machtgruppen in zerfallenden Staaten, wirkt er zunächst einmal etwas seltsam.

Doch auf Russland bezogen, auf das durch die spezifisch russländischen Erinnerungen (ich weigere mich, das Kultur zu nennen) an den Zweiten Weltkrieg gefütterte Selbstbild und die darin beschworene Rolle als Opfer, heroischen Zentrum des Widerstands und letztlich auch des einzigen echten Siegers entfaltet dieser Satz seine ganze Wirkung: Russlands erster Kriegstag als verbrecherischer Aggressor.

Irgendwann später im Tagebuch findet sich eine Stelle, in der die Autorin das explizit so schreibt; man kann darüber ein wenig die Nase rümpfen, an Tschetschenien, Georgien, Syrien denken oder an die hybride Kriegführung gegen den Westen, doch unterscheidet sich der russländische Angriffskrieg gegen die Ukraine allein durch Umfang und Ziel, vor allem aber Offenheit von allen anderen. Es ist ein – verlogener, propagandistisch vernebelter Krieg, aber eben auch ein unübersehbarer.

Es ist also ein erster Kriegstag mit allen niederschmetternden Folgen, die nicht nur jene betreffen, die seinen direkten Auswirkungen ausgesetzt sind (wie zum Beispiel in der ukrainischen Frontstadt Charkiw bei Zhadan, Skalietska, Gerassimow), sondern auch fern von der Front, von allem Geschützdonner, dem Brüllen und Toben der Kampfhandlungen.

Ich dachte immer, jemand, der aus eigener Erfahrung weiß, was Krieg bedeutet, würde ihn nie unterstützen. Wie sich nun herausstellt, weiß ich sehr vieles nicht über die Menschen.

Natalja Kljutscharjowa: Tagebuch vom Ende der Welt

Die Reaktionen vieler Mitmenschen auf den Kriegsausbruch sind für Natalja Kljutscharjowa oft schwer erträglich, die eigene Ohnmacht ist noch schlimmer. Fragen umschwirren sie wie garstige Moskitos. Was hätte man tun können? Was kann man tun? Die Anti-Kriegsdemos sind auf eine niederschmetternde Weise geschildert, nach innen hatte das Putin-Regime seinen Angriffskrieg bestens vorbereitet.

Die Erschütterung angesichts des Unheils, die der Krieg heraufbeschwört, ist ein Motiv, das in vielen älteren Kriegstagebüchern auftritt; die Worte, die Hermann Stresau im September 1939 findet, klingen so vertraut; auch die Zerrissenheit, sich weder Sieg noch Niederlage wünschen zu können, das fürchterliche Unheil aber vorauszuahnen, ist spürbar.

Was das Tagebuch vom Ende der Welt besonders macht, ist die Offenheit, mit der Natalja Kljutscharjowa von ihrer Scham spricht, die sie empfindet, Teil Russlands zu sein. Das Bedürfnis nach Flucht aus dem Land, dem viele nachgeben (müssen) und das schlechte Gewissen, wenn der Druck etwas nachlässt. Sie wird zum Nachrichten-Junkie, als könnte ein dauerhafter Strom an Informationen etwas ändern, eine Ersatzhandlung, um die Hilflosigkeit zu überdecken.

Die Scham macht ein Häkchen: gut, alles okay, sie weint. Weinen ist erlaubt.

Natalja Kljutscharjowa: Tagebuch vom Ende der Welt

Wie sehr der Krieg das Leben zumindest Einzelner aus den Angeln hebt, sie tief verstört, wird deutlich als die Autorin schreibt, sie habe die Bedeutung der berühmten Worte, dass die Lebenden die Toten beneiden würden, begriffen. Babi Jar ist von einer russländischen Rakete getroffen worden. Jene Verstorbenen, die gegen die Nationalsozialisten gekämpft und geglaubt haben, sie stünden auf der Seite des Guten, ist es besser, das nicht erlebt zu haben.

Eine besondere Angst der Autorin gilt jenen, die aus dem Krieg zurückkehren und das, was sie gelernt haben, in der Heimat fortsetzen. Das geschieht bereits, Wagner-Söldner, ehemalige Verbrecher aus Gefängnissen, die ihren Dienst in der Ukraine überlebt haben, führen ihr Tun in Russland weiter.

Die Morde bei Butscha lassen sie fürchten, »der nie vertriebene Dämon von 1937« würde zurückkehren, eine finstere, apokalyptische Vision. Wie begegnet man derlei? Mit einem Zitat aus Dune von Frank Herbert: »Ich darf keine Angst haben. Angst tötet das Bewusstsein. Angst ist der kleine Tod.«

[Rezensionsexemplar]

Natalja Kljutscharjowa: Tagebuch vom Ende der Welt
Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt
Suhrkamp 2023
Broschur, 167 Seiten
ISBN: 978-3-518-12781-0