Wer aus Bequemlichkeit den Begriff »Ukrainekrieg« verwendet, wird das nach der Lektüre dieses Buches infragestellen, wie vieles andere auch. Cover C.H.Beck, Bild mit Canva erstellt.

Der vollumfängliche Angriff Russlands ab dem 24. Februar 2022 gegen die Ukraine rückt erst mit Seite 98 dieses Buches in den Fokus. Damit berührt man schon einen wichtigen Punkt dieser Darstellung: Der Krieg lief bereits und trat da erst in seine dritte Phase ein. Die erste und zweite haben nach Einschätzung von Autorin Gwendolyn Sasse bereits im Jahr 2014 eingesetzt. Die Invasion mit Vernichtungsabsicht stellt also eine Eskalation dessen dar, was Russland schon seit Jahren praktizierte.

In ihrer sehr lesenswerten Schrift Der Krieg gegen die Ukraine klärt die Autorin sachlich, ausgewogen, wohlinformiert und fundiert über die Wurzeln dieses russländischen Kieges auf. Es mag umständlich erscheinen, auf den Begriff »Ukrainekrieg« zu verzichten, doch dafür gibt es gute Gründe: Das Wort ist ein Echo russländischer Propaganda, es assoziiert einen internen oder gar von der Ukraine ausgehenden Krieg, und verdeckt so die Wirklichkeit eines genozidalen Angriffs- und Vernichtungskrieges.

Sasse räumt en passant mit bei deutschen Sofapazifisten liebgewonnenen Unwahrheiten auf. Der unselige Sprachenstreit in der Ukraine wird durchleuchtet und schrumpft vom propagandistisch aufgeblasenen Scheinriesen zum Zwerg. In Deutschland mag es schwer nachvollziehbar sein, doch ist die sprachliche Realität in der Ukraine geprägt von einer »kontextabhängigen Bilingualität«. Manche sprechen tatsächlich nur die eine oder andere Sprache, andere wechseln zwischen Ukrainisch und Russisch abhängig davon, ob sie Zuhause oder anderswo sind; manchmal spricht eine Person Ukrainisch, die andere Russisch.

Ein Verständnisproblem besteht nur für begriffsstutzige und wirklichkeitsverschlichtende Deutsche. Schlimmer noch ist der Kurzschluss, ein Russisch sprechender Mensch sei auch pro-russisch eingestellt, was hanebüchener Nonsens ist. Die Identität ist nicht allein aus dem Sprachgebrauch abzuleiten – eine Binsenweisheit, die auch für Loyalität gilt. Ganz davon ab: Selbst wenn es gegenüber Kyjiw Vorbehalte oder Ablehnung gab, hieß das noch lange nicht, dass diejenigen automatisch für einen Anschluss an Russland wären.

Das Buch von Sasse räumt mit einer Reihe von Vorurteilen auf, auch was die vielbeschworene Nato-Ostererweiterung anbelangt. Das ist wohltuend in einer Welt, in der Medien auf Einschaltquoten schielen und handfeste Propagandisten in ihre Studios bitten. Überhaupt ist die Informationsdichte in dem kurzen Buch sehr hoch, es informiert über die Staatswerdung der Ukraine nach 1991, rückt absurde Formulierungen in rechte Licht. Die Krym war kein „Geschenk“ Chruschtschows an die Ukraine.

Naturgemäß ist das Ende des Krieges gegen die Ukraine offen. Trotzdem ist das Buch unbedingt lesenswert für alle, die sich noch einmal vor Augen führen wollen, was im Osten Europas gerade geschieht. Kriegszeiten sind immer auch Zeiten der Verunsicherung, doch da dieser Krieg eine lange Vorgeschichte hat und seit vielen Jahren auf niederschwelliger Ebene geführt wird, bietet die Lektüre auch eine Form der Sicherheit.

Besonders lobenswert ist, dass Sasse einen Ausblick auf die Folgen wagt. Monate nach der Niederschrift des Buches, als von einer umfangreichen Rückeroberung großer Gebiete durch die Ukrainer noch nicht die Rede sein konnte, geschweige denn von einer umfassenden Gegenoffensive, lesen sich die Punkte immer noch sehr stichhaltig und realitätsnah. Einige der Voraussagen haben sich mittlerweile bewahrheitet – ein weiteres Qualitätsmerkmal.

Gwendolyn Sasse: Der Krieg gegen die Ukraine
C.H.Beck 2022
Softcover 128 Seiten
978-3-406-79305-9