Es lohnt sich, das Titelbild der Graphic Novel Die Strasse von Manu Larcenet eine Weile zu betrachten. Vor dem Weiß des stürzenden Wassers heben sich zwei graue Gestalten ab. Eine kleiner, jünger, die andere größer, älter, hinter einem Gefährt, das mit allerlei Undefinierbarem beladen ist. Die beiden sind in Lumpen dick vermummt, vor dem Gesicht des Jüngeren ist ein Mundschutz gezogen. Markant ragen die beiden Spiegel von dem Gefährt ab.
Die beiden wirken durch die rechts und links aufragenden, weit über ihren Köpfen sich wieder fast schließenden massiven Felsen regelrecht verloren. Es ist, als durchschritten sie gemächlich eine Art Pforte. Ein völlig zertrümmerter PKW auf der linken Seite und eine zerfetzte Leitplanke auf der rechten zeigen an, was dem Betrachter durch die Perspektive verborgen bliebe: Sie befinden sich auf einer Straße.
Im Hintergrund donnert das Wasser von den Felsen herunter, die Überreste von kahlem, toten Geäst ist zu erkennen, auf der anderen Seite eine Art halbzerstörter Leiter, die irgendwohin nach oben führt. Eine überwältigende Leere und Trostlosigkeit gehen von der Umgebung aus, die Mühsal des Gehens auf dieser Straße ist fühlbar. In dieser Welt ist nichts in Ordnung, in dieser Welt ist das, was wir als Gegenwart kennen, nur noch eine ferne, fahle Vergangenheit.
Die Rückseite der Graphic Novel ist drastischer: zwei Kräne, einer zerbrochen, der andere noch intakt, doch von dessen Ausleger hängen drei Tote herab, die dort aufgeknüpft sind. Die Welt ist nicht nur materiell zerstört, sondern auch moralisch und gesellschaftlich. Gewalt prägt den Alltag, über allem liegt die stete Drohung für Leib und Leben. Es ist eine totale Welt, in die der Leser eintritt.
Grau, krisselig wie das grobkörnige Bild eines alten Schwarz-Weiß-Fernsehers sind die Zeichnungen, quellende, unförmige Wolken, wie über schweren Bränden, Dunkelheit, alles ein schreckliches Nichts. Ein Mann liegt unter einem behelfsmäßigen Wetterschutz, dick vermummt, bärtig, abgerissen und zerlumpt. Das Gesicht eines Fliehenden, in das sich die Entbehrungen und Erschöpfung eingefressen haben. Neben dem Mann ein Junge, schwarze Ränder unter den Augen.
Schweigen über Seiten hinweg. Der Mann erhebt sich und beobachtet durch einen Feldstecher die Gegend. Was er sieht, ist eine Trümmerlandschaft nach einer vernichtenden Katastrophe, verkrüppelte Bäume, Ruinen, Reste der Zivilisation im Verfall begriffen. Leblose Stille überall, nichts rührt sich, was kein schlechtes Zeichen ist, wie man später erfährt. In dieser reglosen, toten Landschaft verschwinden die beiden Menschen regelrecht, die Umgebung ist überwältigend.
Die ersten Worte sind die einer kurzen Begrüßung, der Aufbruch geschieht wortlos, eine Routine, entstanden durch eine lange Zeit der Wanderung. Das Duo muss den Ort verlassen, man werde keinen weiteren Winter überstehen. Wenn gesprochen wird, dann nur kurz und knapp. Die Themen sind situationsbezogen oder drehen sich um Tod, Töten, Gut und Böse, manchmal in Form einer Selbstvergewisserung.
Wir würden nie jemanden essen, oder?
Manu Larcenet: Die Strasse
Aber nein, natürlich nicht.
Auch wenn wir verhungern?
Das tun wir doch schon!
Aber wir werden nie jemanden essen?
Nein, niemanden.
Egal, was passiert?
Niemals. Egal, was passiert.
Weil wir die Guten sind …
Genau.
Mit der Zivilisation ist alles zerbrochen. Kannibalismus, wie diese Textstelle andeutet, ist verbreitet. Spuren davon begegnen den beiden immer wieder, manchmal auch mehr. Wie hält ein Junge das aus? Gewöhnlich versuchen Erwachsene ihre Kinder davor zu behüten, derart grausame Dinge zu sehen, doch in der Welt, die Vater und Sohn durchziehen, geht das nicht. Tote liegen überall, grausam zugerichtet von katastrophalen Ereignissen oder anderen Menschen, den »Bösen«, von denen es »ganz schön viele« gibt.
Schutz für die Seele gibt es nur, in dem man sich gegenüber den Unholden abhebt. Lügen funktionieren nicht, denn die Wirklichkeit entlarvt diese allzu rasch und schmerzlich konsequent. Wenn der Junge fragt, ob sie sterben würden, wenn die Bösen sie fingen, kann der Vater nicht mit »Nein« antworten. Er kann ihm nur mit der Wahrheit Mut machen, dass sie Glück haben und irgendwann Nahrung finden und bis dahin lange am Leben bleiben würden, wenn ihnen Wasser zur Verfügung stehe.
Auf der Suche nach Nahrung und brauchbaren Gegenständen sind sie gezwungen, Gebäude zu betreten. Dort treffen sie auf entsetzliche Überreste menschlicher Wahnsinnstaten, manchmal entkommen sie selbst nur äußerst knapp dem sicheren, grausamen Tod. Auch auf der Straße, auf der kleine und größere Gruppen umherziehen, bewaffnet, fürchterlich ausstaffiert, wie man es aus Endzeitfilmen kennt, aber ohne jede Spur Coolness. Larcenet hat die neuen Herren der Straße als Höllenkreaturen gestaltet und derartige Szenen in einem passend rötlichen Ton gehalten, von dem Schmerz auszugehen scheint.
Manu Larcenet hat sich gegenüber dem Roman eine Reihe von Freiheiten herausgenommen. So verlegt er die Handlung, die in der Vorlage in einem hochherrschaftlichen Haus spielt, in ein Farmgebäude; etwa später finden die beiden Wanderer ein sehr ähnlich aussehendes Gebäude – die Erlebnisse in beiden Behausungen könnten unterschiedlicher nicht sein. Nichts ist kalkulierbar oder vorhersagbar, alles ist ein Vabanque-Spiel mit ungewissem, manchmal lebensbedrohlichem Ausgang. Es gibt kein Ausweichen vor dieser totalen Welt.
Zu meinen Lieblingsstellen in Roman und Graphic Novel gehört jene in einer verlassenen Tankstelle. Der Vater nimmt den Hörer eines öffentlichen Münztelefons ab und hält diesen sich ans Ohr. Der Junge fragt, was er da mache. Die Antwort ist erschüttertes und erschütterndes Schweigen. In der neuen Welt ist Kommunikations-Technik sinnlos, die Reste in den daneben liegenden Öl-Kanistern sind dagegen kostbar, denn die wenigen Tropfen ergeben zusammen ein wenig Brennstoff für eine Lampe. Alles ist auf den Kopf gestellt, an die alte Welt erinnernden Gesten sind noch nicht ganz vergessen, aber sinnentleert.
An einer Stelle gibt es eine kleine Hommage an den 2022 verstorbenen französischen Zeichner und Karikaturisten Sempé, bekannt vor allem durch die Figur des Petit Nicolas. Der Junge findet in einer Zuflucht, die Vater und Sohn für kurze Zeit eine Atempause schenkt, das Buch Enfances (auf Deutsch Kindheiten) von Sempé und schmökert darin. Das Titelbild in Die Strasse und der Realität zeigt einen Schwarm Vögel, einen Anblick, den es nach der Katastrophe nicht mehr gibt.
Der krasse Gegensatz zwischen dem relativen Frieden und der Welt, die geprägt ist von dem Krieg aller gegen alle, macht die Rückkehr auf die Straße umso düsterer und deprimierender. Das Meer, ihr Zielort, eine weitere Enttäuschung, die Gefahren nehmen nicht ab, immer wieder färben sich die Bilder rot – tiefrot, sogar. Der Tod ist nah und das Ende dieser überwältigenden Graphic Novel wie das des Romans Die Straße von Cormac McCarthy nur ein Funken im Abgrund.
[Rezensionsexemplar]
Manu Larcenet: Die Strasse
Nach dem Roman von Cormac McCarthy
Aus dem Französischen von Maria Berthold und Heike Drescher
Lettering: Tim Gaedke
Reprodukt 2024
ISBN: 978-3-95640-423-8