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Schlagwort: Aufklärung

Thomas Willmann: Der eiserne Marquis

Ein historisches Epos mit einer barocken Sprache. Man sollte sich Zeit nehmen, um es langsam und voller Genuss zu lesen. Cover Liebeskind-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Der britische Comedian, Schauspieler, Autor und damit noch lange nicht erschöpfend beschriebene Ricky Gervais hat sich einmal über jene Menschen lustig gemacht, die angesichts von mehr als dreitausend Göttern in der Geschichte der Menschheit ausgerechnet jenen einen, an den sie glauben, als den einzig Wahren ansähen. Alle anderen wären nur Auswüchse von Nonsens. Müll.  Er macht sich also weder über Gott noch über den Glauben, sondern den kuriosen Absolutheitsanspruch angesichts der überwältigenden Konkurrenz lustig.

Für den Tod gilt das nicht. Es gibt nur einen einzigen Tod, vor dem tatsächlich alle Menschen gleich sind, denn alle Menschen müssen sterben. Manchem gilt diese wahrhaft göttliche Absolutheit des Todes als eigentlicher Grund für die Neigung des Menschen, sich Götter zu suchen: Ein Versuch, dem Tod in seiner Allmacht entgegenzutreten, ein Placebo gegen die Angst vor dem Sterben. Aber es gibt eben auch das Streben nach Unsterblichkeit, das in vielfältiger Weise Einzug in menschliches Leben gehalten hat.

Damit betreten wir das Erzählreich von Thomas Willmann, der sich in seinem Roman Der eiserne Marquis dem Bestreben mehrerer Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts widmet, das Geheimnis des Lebens zu ergründen und den Tod zu besiegen. Schon im Prolog erfährt der Leser, dass die Sache schrecklich schiefgegangen ist, die Hauptfigur sitzt fest, mutmaßlich ein Kerker, und bezichtigt sich gegenüber seinem Publikum, einigen Ratten, mehrerer schwerer Vergehen.

Mit jenen Sätzen, glaube ich heute, setzte er mich erst recht auf die Bahn meiner fatalen Suche nach der treibenden, lebenden Kraft unserer Welt.

Thomas Willmann: Der eiserne Marquis

Bis alle Gründe für die missliche Lage offenbart sind und die letzte aller Schuld offengelegt ist, vergehen neunhunder opulent gefüllte Seiten. Die Erzählung beginnt in der Provinz, eine klassisch anmutende Begabten-Geschichte, in der jener vom Schicksal mit einigen Talenten ausgestattete Held mit seinem eher schlichten Umfeld kollidiert. Dank einer hilfreichen Hand gelingt es ihm nach Wien zu gelangen und Lehrbub beim angesehenen Uhrmacher Servasius Weisz zu werden.

Die Fein-Mechanik ist das Gebiet, in dem die Talente der Hauptfigur liegen. Die Uhrmacher-Zunft bietet ihm ein interessantes Betätigungsfeld, zumindest wenn die Uhren die nötige Qualität und Komplexität aufweisen. Darüber hinaus eröffnet die Kaiserstadt noch zahlreiche andere Möglichkeiten der Bildung, vor allem mit einem kundigen Führer wie Ferdinand, der ebenfalls für Weisz arbeitet.

Der Leser ist zu diesem Zeitpunkt längst im üppigen, bildstrotzenden Erzählstil Willmanns versunken, dessen Sprache vom einem geradezu märchenhaften Reichtum ist. Die Welt, in der sich die Figuren tummeln, wird so lebendig. Aber auch die Innenwelten der Personen, insbesondere der Hauptperson, die sich dank der Rückschau immer wieder selbst durchleuchtet und bestimmte Charakterzüge hervorhebt, meist verbunden mit Selbstbezichtigungen.

Auch Weiszens Antlitz machte erste Anstalten, sich dem Alter zu ergeben – unter Kind und Augen begann die noch gut ausgepolsterte Haut herabzusacken, feines Adergekrakel schrieb ihm die Neigung zu üppiger Speise und Trank auf die Wangen; und selbst die Fröhlichkeit hatte in seinen Zügen als Schnitzmesser für Fältlein gewirkt.

Thomas Willmann: Der eiserne Marquis

Das Beispiel zeigt schön, auf welche Reise sich der Leser dieses Romans begibt. Wer so schreiben und Bilder erschaffen kann, dem ist es möglich, die vielfältigen Zwischenwelten der menschlichen Existenz stärker auszuleuchten, als es viele andere Schriftsteller können. Das braucht Zeit, der Autor hat sie sich genommen und der Leser sollte es ihm nachtun und diese literarische Reise durchschreiten, um sie zu einem Erlebnis zu machen, das sich einem im Leseleben nicht oft bietet.

In Wien erleidet der Protagonist einen verheerenden Schicksalsschlag, den er zwar nicht ausgeführt hat, aber hätte abwenden können. Er verliebt sich in eine Grafentochter namens Amalia, es gelingt ihm sogar, sich ihr zu nähern, was Willmann in einer wirklich fabelhaften Weise erdacht hat, doch will er zu viel und beschwört durch seine kindische, dickköpfige, selbstverliebte und larmoyante Art eine Katastrophe herauf.

Ein Zwischenspiel folgt, die Hauptfigur flieht aus Wien und nimmt einen klingenden Namen an: Jacob Kainer. Er tritt der preußischen Armee bei und kämpft im Siebenjährigen Krieg, allerdings nicht mit dem Gewehr, sondern der Trommel, wenn man so will, dem Taktgeber der Armee und damit eine Art Echo des Uhrwerks. Willmann lässt den Leser an den Unbilden des Kriegsdienstes und Kriegsgeschehens mehr teilhaben, als diesem manchmal lieb ist. 

Alles, was noch geschehen sollte, war nicht Strafe oder zwingende Folge seiner bedingungslosen Hingabe an die Vernunft – sondern eben seine letztlich menschliche Fehlbarkeit darin.

Thomas Willmann: Der eiserne Marquis

Die Schlachtfelder verlässt Jacob Kainer versehrt und wird in einem Lazarett von einem Marquis entdeckt, nach Paris mitgenommen und werkelt dort gemeinsam mit seinem neuen Gönner, Freund und Schicksalsgenossen daran, dem Leben sein Geheimnis zu entlocken und dem Tod die Stirn zu bieten. Wie das Zitat zeigt, folgt das Duo, das sich ab einem gewissen Zeitpunkt durch die bezaubernde und kluge Arianne zu einem Trio erweitert und von einem stummen Diener namens Mael unterstützt wird, zunächst dem Pfad der Vernunft.

Der weitaus größte Teil des Romans widmet sich diesem Wirken, über den Inhalt will ich kein Wort mehr verlieren. Was geschieht und wie ist ganz wunderbare Literatur, die tief hineinführt in die großen menschlichen Fragen. Der Kampf gegen den Tod ist vor zweihundertfünfzig Jahren so aussichtslos wie in der Gegenwart, wer auf das »sture, bedächtige Voranschreiten der Vernunft und Verantwortlichkeit« setzt, kann angesichts der verstreichenden Lebenszeit das Ziel persönlich nur verfehlen.

Das Dilemma kann man akzeptieren, man kann sich selbst und seine Tätigkeit aufgeben oder den Pfad der Vernunft verlassen und ins Obskure, Okkulte abgleiten. Dieses Nebeneinander von Vernunft und Aberglaube prägt den Roman auf großartige Weise. Im Falle des Marquis sind beide Strömungen in einer Person enthalten, anders als bei Theodor Storms Der Schimmelreiter, in dem Moderne (neuer Deich) und Aberglaube (etwas Lebendiges muss ins Fundament des Deiches) unterschiedlichen Personengruppen zugeordnet ist.

›Meine Vernunft?! Oh, die ließ mich schon lange! Mir blieb meine Verzweiflung.‹

Thomas Willmann: Der eiserne Marquis

Der Marquis ist hochgebildet, aufgeklärt, spöttisch gegenüber dem Aberglauben (und vielen anderen Dingen) und macht sich trotzdem auf den Weg des dumpfen, morastigen Geschwurbels. Der Mensch in diesem Roman, selbst der hoch veranlagte, ist eben trotzdem zum Scheitern, zum Abgleiten verurteilt, seine Stärke nur ein Schein, der in der Konfrontation mit dem Tod, mit Krankheit und Vergehen zusehens verblasst.

Willmanns Der eiserne Marquis beginnt nicht nur im Untergründigen, Dunkeln, Verlies, sondern endet dort auch, sowohl im übertragenen wie im realen Sinne. Der Weg in den Abgrund beginnt viel früher, wie der Erzähler dank der Rückschau durchaus erkennt; er führt die Personen in ihrem verzweifelten Kampf gegen den Tod in ein schauriges Reich, das bereits Mary Shelley mit Frankenstein literarisch betreten hat.

Jede Form von Horror-Literatur ist mir zutiefst zuwider, das gilt auch für ihre zahllosen Ableger und Sub-Genres, auch die viel geschätzte Mystery. Daher ist mir anlässlich des Finales ein wenig unbehaglich geworden, was viele andere Leser nicht weiter schrecken wird. Willmann hat seinen Marquis aber zu einem wirklich überzeugenden Ende geführt. So darf ich uneingeschränkt froh darüber sein, dass sich der Autor auf das Abenteuer eingelassen hat, über mehr als ein Jahrzehnt dieses Opus zu schaffen.

Thomas Willmann: Der eiserne Marquis
Liebeskind Verlag 2023
Gebunden, 928 Seiten
ISBN: 978-3-95438-165-4

Angela Steidele: Aufklärung

Ein Historischer Roman aus der Sicht einer Tochter Johann Sebastian Bachs, stimmungsvoll, atmosphärisch und in besten Sinne aufklärerisch. Cover Insel-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Ein literarisches Gegenspiel, eine Gegenbiographie, die aufklärt darüber, wie es nach Ansicht des erzählenden Ichs tatsächlich gewesen ist. Das weicht erheblich von dem ab, was aus Männerfedern auf Papier geflossen ist und die Überlieferung geprägt hat. Doch geht die Autorin noch – mindestens – einen Schritt weiter und lässt ihre Erzählstimme keineswegs unangefochten berichten – sie wird immer wieder infrage gestellt, unterbrochen, korrigiert, während sie schreibt. Kleine Sätze der Rechtfertigung sind hier und da in Klammern eingeflochten.

Im besten Sinne der Aufklärung bleibt es also am Ende beim Leser, wem und was er Glauben schenken will. Aufklärung ist ein großer Lesespaß! Man muss sich ein wenig einlesen, in den Stil, den die Autorin Angela Steidele sanft koloriert hat und etwas zeithistorisch klingen lässt, was den Lesefluss befördert sowie lustig und einfach schön ist, ohne diese träge, staubige Schwere alter Grammatik.

Die Geschichte ist in der Ich-Form präsentiert, die Erzählerin ist Dorothea Bach, eine Tochter von Johann Sebastian Bach, von der nahezu nichts überliefert ist. Ein gefundenes Fressen für eine Autorin von einem Historischen Roman, denn diese Leerstellen wollen gefüllt werden – mit Fiktion. Steidele widmet sich dieser Aufgabe mit Hingabe, Leichtigkeit, Humor, bisweilen bissigem Sarkasmus und lässt eine ganz wundervolle Welt vor den Augen der Leser entstehen.

Sie ist voller Musik, Herzenswärme, Literatur, gelehrten Gesprächen, Spott, Neid, Eifersucht, Streit – aber auch berührt von den Unbilden der Zeit. Der Macht des Todes, der Krankheit, der Armut, die Verheerungen der Kriege Friedrichs II. und die Zudringlichkeiten einer unaufgeklärten Welt. Dabei gelingt es Steidele, den leichten Tonfall beizubehalten, hier wird nicht stiefeltrampelig einer Wahrheit Bahn gebrochen, der Leser wird geradezu aufgefordert, selbst zu denken.

Ganz besonders atmosphärisch sind die kleinen Anmerkungen unten auf der Seite, die auf die Werke Johann Sebastian Bachs verweisen, von denen in der Erzählung die Rede ist. Man kann sie problemlos anhören und mit dem vergleichen, was die Erzählstimme und andere Zeitgenossen zu sagen haben. Aber auch Literatur ist aufgeführt, Dramen, Theaterstücke, Romane, Sachbücher aller Art, in die ohne große Schwierigkeiten ein Blick geworfen werden kann, denn diese zeitgenössische Literatur steht im Internet zumeist zur Verfügung.

Apropos Internet. Anlässlich einer Lesung beim Göttinger Literaturherbst hat Angela Steidele neben vielen anderen sehr aufschlussreichen Bemerkungen auch gesagt, sie habe heimlich etwas über die Gegenwart erzählen wollen. Das wollen – gute – Historische Romane ja oft. Und so darf man sich fragen, ob Lautentius Gugl nur zufällig diesen Namen trägt oder die Zwitscherblättchen, die – weil gedruckt – anonym über andere Zeitgenossen herziehen, vielleicht auf eine moderne Kommunikationserscheinung anspielen.

Angela Steidele macht sich zudem ein großes Vergnügen daraus, große Männer von ihren Sockeln zu holen. Gotthold Ephraim Lessing etwa kommt nicht gerade gut weg, Friedrich II., der so genannte „Große“, verdiente sich ganz andere Beinamen. 

Rousseau? „Ein armes Irrlicht aus Genf, der sich mit allen verkracht“, lässt sie den Leser aus dem Munde Luise Gottscheds wissen, verbunden mit einem didaktischen Hinweis für die Gegenwart: „Weil sich jeder über ihn aufregt, erhält er so viel Resonanz. Da müssen wir seine absurden Ansichten nicht auch noch ventilieren.“  Don´t feed the troll, würde man heute sagen.

Das Ende ist ganz fabelhaft gelungen. Vier Zeilen eines Gedichtes machen noch einmal deutlich, worum es in dem Roman Aufklärung eigentlich geht: Jene ins richtige Licht rücken, die bislang im Schatten standen, dorthin das Licht leuchten lassen, wo Dunkelheit, (Ver-)Schweigen und Vergessen bis heute Vieles verborgen hat, was ans Licht gehört.

Mit großem Vergnügen verweise ich auf eine ebenso vorzügliche wie ausführliche Buchvorstellung von Marius Müller, der durch seinen sehr anregenden Text verantwortlich dafür ist, dass ich diesen wunderbaren Roman gelesen habe.

Angela Steidele: Aufklärung
Insel Verlag 2022
Gebunden 602 Seiten
ISBN: 978-3-458-64340-1

Göttinger Literaturherbst 2023 – Nachlese

Fünf Bücher kann ich ohne Bedenken empfehlen, eines interessiert mich nicht und eines war eine Enttäuschung. Ein wenig Festspielatmosphäre, tolle Veranstaltungsorte, gute Lesungen mit interessanten Autoren und überwiegend guten Gesprächspartnern.

Der Applaus klingt noch im Ohr: Gerade erst habe ich die Veranstaltung mit Bonnie Garmus verlassen, die mit ihrem Roman Eine Frage der Chemie einen Bestseller gelandet hat. Das Buch kenne ich nicht und werde es auch nicht lesen, mich hat vor allem interessiert, wie eine Lesung verläuft, wie die Kommunikation funktioniert, Moderatorin und Vorleserin ihre Aufgabe lösen und das Publikum reagiert. Das war sehr aufschlussreich.

Ich bin zu insgesamt acht Veranstaltungen gegangen, was den Festival-Charakter des Göttinger Literaturherbst in Spurenelementen erlebbar machte. Das gilt besonders für den Freitagabend vorletzte Woche, als ich zunächst Daniel Kehlmann für Lichtspiel und direkt im Anschluss Andrej Kurkow mit Samson und das gestohlene Herz erleben durfte. Zwei Lesungen direkt nacheinander – geht das? Ja, ganz prima sogar.

Zweimal bin ich unvorbereitet zu einer Lesung aufgebrochen, im Falle von Ralf Rothmann an seinem Buch Die Therorie des Regens durchaus interessiert, was sich nach der Lesung jedoch erledigt hatte. Einen Roman werde ich von dem Autor sicher lesen, Im Frühling sterben steht schon im Regal bereit. Die Lesung war dennoch alles andere als eine Enttäuschung, Gespräch und Vortrag haben unterhalten, es gab kluge Fragen seitens des Gesprächspartners und aus dem Publikum.

Das ist ein gutes Stichwort, denn bei der Lesung von Andrej Kurkow wirkte der Gesprächspartner – nun, sagen wir: indisponiert. Das Gespräch versandete im Nebel des Ungewissen – glücklicherweise hatte das Publikum Fragen, die wie ein kommunikativer Rettungsring wirkten. Die Nachfragen erlaubten dem sehr sympathischen und gut Deutsch sprechenden Autor viel zu erzählen – auch zu anderen Romanen, von denen ich mir gleich einen gekauft habe. Graue Bienen, die wenigen Worte, die Kurkow darüber verloren hat, klangen sehr interessant.

Leichtigkeit heißt nicht oberflächlich

Leichtigkeit prägen Kurkows Samson-Romane wie auch Kehlmanns Lichtspiel, in Steffen Schroeders Planck – oder wie das Licht seine Leichtigkeit verlor, ist das Wort sogar Teil des Titels. Ganz besonders trifft es auch auf den Roman Aufklärung von Angela Steidele zu, wenngleich der Titel auf sperrige Kost schließen lässt. Mehrfach wurde thematisiert, wie die Schriftsteller ganz planmäßig versucht haben, die Lesbarkeit durch Elemente der Leichtigkeit zu erhöhen.

Aber Leichtigkeit ist nicht mit oberflächlich zu verwechseln! Leider habe ich bei mehreren Besprechungen und Rückmeldungen zu einigen Romanen schon merken müssen, dass zu leichtfertig, vielleicht auch zu flüchtig gelesen wurde. Das ist schade, denn die Leichtigkeit gibt dem Leser den nötigen Raum, um über die schweren Dinge der Handlung nachzudenken – das gilt für dieses Quartett, das ich nachdrücklich zur Lektüre empfehlen möchte.

Das gilt auch für den Brocken von einem Buch namens Der Frühling der Revolution von Christopher Clark. Der Historiker beleuchtet die Revolution von 1848/49 aus einer gesamteuropäischen Sicht, was eine Menge neuer Sichtweisen und Erkenntnisse öffnet, darunter einige hochspannende, die Revolutionsträumer wie eine kalte Dusche ernüchtern sollte. Sklavenbefreiung – eine gute Sache, aber mehr als ein Teufel steckt im Detail, zum Beispiel, wenn die Sklavenhalter gar keine Weißen sind, sondern Schwarze bzw. Angehörige einer Mischbevölkerung.

Eine Enttäuschung gab es auch: Felicitas Moklers Vortrag über das hochspannende Thema Kosmologie schöpfte wie ihr Buch nicht aus, was möglich wäre. Kurioserweise fehlt es an sprachlicher Präzision, didaktisch ansprechender Struktur und thematischer Verflechtung. Ich lese ihr Buch trotzdem, denn für meine Intention ist es durchaus geeignet: Ausloten, wo die Grenzen meines Verstehens sind.

Alles in allem bin ich sehr zufrieden und hoffe auf ein ähnlich gutes Programm im kommenden Jahr.

Göttinger Literaturherbst 2023

Meine glorreichen Sieben – das sind die Veranstaltungen des Göttinger Literaturherbstes 2023, auf die ich mich am meisten freue. Das Programm ist in diesem Jahr großartig, vielleicht schaue ich mir noch die eine oder andere Sache zusätzlich an, denn – von der ewig-hässlichen Stadthalle (brrr) einmal abgesehen – gibt es viele sehr schöne, atmosphärische Veranstaltungsräume.

Heute beginnt für mich der Göttinger Literaturherbst 2023 mit einer zweifellos großartigen Veranstaltung: Der Historiker Christopher Clark spricht über die Revolution von 1848/49 in Europa – womit das Thema aus seinen nationalen Brutkästen geholt wird. Clark hat ein voluminöses Buch zu dem Thema verfasst, das Frühling der Revolution betitelt ist. Wie in seinen berühmten und diskutierten Die Schlafwandler wird der Leser mit neuen Perspektiven konfrontiert, los geht es mit der Revolution in – nein, nicht Paris – Palermo (nach einem Vorspiel in der Schweiz).

Es ist das einzige historische Sachbuch meines persönlichen Programms, das – wie man sieht – vier Romane, ein historisches und ein naturwissenschaftliches Sachbuch sowie ein Kompendium mit einem sehr persönlichen Zugang zum Thema Schreiben umfasst.

Thematisch geht es historisch-politisch zu. Aufklärung von Angela Steidele ist zum Glück kein Buch über die Abgründe des Sexualkundeunterrichts, sondern führt den Leser ins 18. Jahrhundert, ein Historischer Roman, auf den ich mich sehr freue (danke noch einmal an Marius Müller von Buch-Haltung für die schöne Besprechung).

Andrej Kurkow lässt seine Helden Samson und Nadjeschda durch die blutigen Wirren des »Bürgerkriegs« im Gefolge des Ersten Weltkrieges in Kyjiw (Kiew), Ukraine, taumeln. Dabei ist es ihm in seinem ersten Teil gelungen, die Gewalt anklingen zu lassen, ohne in Voyeurismus zu verfallen; stattdessen wählt er einen plüschigen Ton, was die Ereignisse nicht weniger grausam, aber erträglicher gestaltet. Auf den zweiten Teil bin ich sehr gespannt – den werde ich allerdings erst im Anschluss lesen können.

Der Roman Lichtspiel von Daniel Kehlmann lässt den Leser am bewegten Leben des Regisseurs W.G. Pabst und zahlreichen anderen Zeitgenossen teilhaben. Schon das erste Viertel des Romans zeigt, was Kehlmann gelungen ist: Er hat eine leicht lesbare (laut Wolfgang Herrndorf eine unterschätzte literarische Qualität) und wirksame sowie angemessene Erzählform gefunden, ohne ins Seichte abzugleiten. 

Das lässt sich auch über Planck oder Als das Licht seine Leichtigkeit verlor von Steffen Schroeder sagen, der den Leser in die Zeit führt, zu der das Hitlerreich in den Todeskampf eintrat und sich seine Monstrosität nach dem gescheiterten Attentat Stauffenbergs nur noch durch einen Sieg der alliierten Truppen beenden ließ. Plancks Sohn ist ihm Mahlwerk der Gestapo und SS gefangen, der Tonfall der Erzählung bleibt dabei in einer gewissen Weise lakonisch, sarkastisch, boshaft-heiter.

Bei Lichtspiel und Planck oder Als das Licht seine Leichtigkeit verlor wird ganz nebenbei immer auch deutlich, was Deutschland bzw. die deutschsprachige Welt der 1920er Jahre verloren hat, als das braune Pack die Macht übertragen bekam. Ich weigere mich jedoch, diese Romane als »wichtig« zu bezeichnen, weil sie »uns« etwas für unsere eigene Zeit zu sagen hätten oder eine Warnung bereithielten. »Wir« haben »uns« noch nie davon beeindrucken lassen.

Ralf Rothmann hat mit seiner Theorie des Regens ein Kompendium seiner Notizen aus vielen Jahrzehnten zusammengestellt. Hier werde ich ganz ohne vorherige Lektüre an der Veranstaltung teilnehmen, von Rothmann habe ich noch kein einziges Wort gelesen. Ich bin voller Neugier, auf das Gespräch und darauf, wie es ist, völlig unbedarft zuzuhören.

Schließlich noch eine Form des wissenschaftlichen Eskapismus. Felicitas Mokler hat ein Buch veröffentlich, dessen Titel für sich selbst spricht: Die Evolution des Universums: Vom Urknall bis in die Ewigkeit. Als alter Science Fiction-Leser und Teleskop-Sternegucker (es ist kalt in klaren Herbst- und Winternächten) lasse ich mich gern auf den neuesten Stand der Kosmologie bringen. Wobei – verstehen werde ich sicherlich nicht alles, doch darum geht es gar nicht. Die eigenen Grenzen des Verständnisses kennenzulernen, ist meines Erachtens oft genauso wertvoll, wie das Verstehen selbst.

Jürgen Kaube: Hegels Welt

Ein perfektes Buch für einen Zaungast der Philosophie. Cover Rowohlt, Bild mit Canva erstellt.

In der Philosophie bin ich nur Zaungast. Für mich ist das Buch Hegels Welt von Jürgen Kaube perfekt geeignet, um mich an und über meine Grenzen des Verständnisses hinauszuführen, gleichzeitig einen umfassenden Einblick in Zeit und Welt des Gelehrten zu erhalten. 

Hegel lebte in einer Zeit tiefgreifender Umwälzungen. Die Aufklärung sorgte für beträchtliche Unruhe, ehe die Französische Revolution ganz Europa in Aufruhr versetzte. Hegel hat das nicht vor Ort in Frankreich, wie manch anderer flammender Geist, sondern aus der Ferne verfolgt. Ebenfalls die Entartung dieser Revolution zum jakobinischen Terror und ihre Häutungen hin zur Alleinherrschaft Napoleon Bonapartes.

Dessen Kriegszüge führten auch nach Deutschland, mitten hinein in Hegels Welt, der realen wie gedanklichen. Davon erfährt man viel, auch welchen Einfluss beides auf den Denker und seine Anhänger und Gegnerausübte; aber auch hier gilt, was eingangs bereits gesagt wurde: Ich bin bei den ausführlich geschilderten philosophischen Gedankengängen an meine Verstehensgrenzen gestoßen.

Besonders interessant war für mich der berufliche und private Weg Hegels. Das akademische Leben zu dieser Zeit unterschied sich dramatisch von dem der Gegenwart, daher sind die Ähnlichkeiten bemerkenswert, etwa wie sich erste Netzwerke bildeten, die zur gegenseitigen Unterstützung fungierten. Bis er einen bezahlten Posten zu erhielt, musste Hegel als Hauslehrer und Schulmeister arbeiten, als Leser erhält man auf diesem Wege erhellende Einblicke in die Lebensumstände dieser Zeit.

Wirklich überrascht hat mich, wie Hegel über Schule nachgedacht hat. Sein Ansatz und der seiner Gegner stehen sich bis in die Gegenwart gegenüber, zumindest im Grundsätzlichen. Autor Jürgen Kaube schildert ausführlich, wie Hegel sich schulisches Lernen vorstellt – man kann das auf die Gegenwart übertragen und zum Beispiel anhand der Frage, ob Latein oder lieber Informatik bzw. Wirtschaft Schulfach sein sollte, durchdeklinieren.

Ein tiefer Schatten liegt über Hegels Sicht von und Handeln gegenüber Frauen, insbesondere seiner Schwester. Schaudernd möchte man sich angesichts des Unheils abwenden, dem diese – auch dank ihres gedankenlos agierenden Bruders – ausgesetzt war. Das aber gehört genauso zu „Hegels Welt“ wie jene Gedanken und Werke sowie das akademische Wirken des Philosophen und findet zum Glück angemessene Beachtung in diesem vorzüglichen Sachbuch.

Jürgen Kaube: Hegels Welt
Rowohlt Berlin 2020
Gebunden 592 Seiten
ISBN: 978-3-87134-805-1

© 2024 Alexander Preuße

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