So bestimmt die Geopolitik mehr und mehr unser tägliches Leben, von der Pandemie über den Krieg in der Ukraine bis hin zum beschleunigten Klimawandel, und eine Serie von Krisen führt zu der Feststellung, dass im 21. Jahrhundert niemand die übrige Welt ausblenden kann.
Émilie Aubry, Frank Tétart: Die Welt der Gegenwart.
Angesichts der dramatischen Umwälzungen in den frühen 2020er Jahren, allein in Europa in Form von Covid-19, dem genozidalen russischen Angriffs- und Vernichtungskrieg gegen die Ukraine und dem Terrorangriff der Hamas auf Israel direkt spürbar, ist ein Atlas mit geopolitischem Schwerpunkt grundsätzlich ein sehr begrüßenswertes Vorhaben. Das gilt noch mehr, wenn ein globaler Ansatz verfolgt wird, denn die genannten Disruptionen sind nur ein Teil weltweiter Veränderungen, die fortschreitende Erderhitzung allen anderen vorangehend. Ausblenden lässt sich das alles nur noch mit einiger Mühe.
Die Welt der Gegenwart von Émilie Aubry und Frank Tétart nimmt sich dankenswerterweise vieler Perspektiven an, die auch Leser von großen, überregionalen Tageszeitungen nicht immerverfolgen können. Alle fünf Erdteile werden in den Blick genommen, es ist tatsächlich positiv, dass zum Beispiel Schweden und Polen in Europa oder nicht ganz so oft im Fokus stehende Länder wie Äthiopien oder Australien mit ihren sehr spezifischen Problemen und Sichtweisen ins Bild rücken.
Ein wenig erinnert der Atlas dem »Weltspiegel« in schriftlicher Form. Die vielen übersichtlichen und multiperspektivisch, d.h. nicht nur aus der Sicht Europas gezeichneten Karten, werden von zusammenfassenden Info-Texten begleitet. Selbstverständlich führt diese Herangehensweise zu Verkürzungen und Verzerrungen, die unvermeidbar Analysetiefe vermissen lassen.
Es ist völlig unmöglich, einen Atlas in seiner Fülle an Informationen in einem Beitrag zu würdigen, ohne sich in Plattitüden und Leerformeln zu verlieren. Ausführlich widme ich mich in diesem Beitrag dem Kapitel über Russlands Krieg gegen die Ukraine, und zwar mit einem kritischen Tonfall. Viele dort genannte Aspekte sind in ihrer Darstellung fragwürdig, sie atmen an einigen Stellen das Propaganda-Gedröhn des Kreml, was bei etwas mehr (sprachlicher) Sorgfalt hätte vermieden werden können.
Sprache ist ein gutes Stichwort, denn Die Welt der Gegenwart setzt mittelbar »russischsprachig« mit »prorussisch« gleich. Die Trennung der Sprachen und politischen Ausrichtung in einen westlichen, ukrainischsprachigen und prowestlichen und einen östlichen, russischsprachigen und prorussischen Teil entspricht dem Propaganda-Narrativ des Kreml und dem Bedürfnis nach einfachen Zuschreibungen, ist aber falsch.
Die russische Sprache gehört uns, wir geben sie Putin nicht her.
»Alles ist teurer als ukrainisches Leben«
(Oleksiy Radynski)
Man könnte es sich einfach machen und auf die vielen Millionen russischen Muttersprachler in der Ukraine verweisen, die gegen Russlands Invasion kämpfen oder Opfer von dessen Aggression werden. Aber auch in klugen Beiträgen ukrainischer Autoren (Alles ist teurer, als ukrainisches Leben, Aus dem Nebel des Krieges), russischprachiger ukrainischer Schriftsteller (Andrej Kurkow, Tagebuch einer Invasion) oder den Büchern von westlichen Historikerinnen wie Gwendoly Sasse, die von »kontextabhängiger Bilingualität« sprechen, wird ein differenzierteres und wirklichkeitsnäheres Bild gezeichnet.
Richtig ist, dass der Kreml die angebliche Kombination aus russischsprachig und prorussisch nutzt, um Einfluss auf ehemalige Sowjetstaaten auszuüben, und zwar als vorgeschobene Rechtfertigung für eine aggressive Politik der Einmischung bis hin zur Annexion. Der folgen Deportationen, Filtrations- bzw. Folterlagern, in denen jene, die keine Russen sein wollen, mit Gewalt zu solchen gemacht werden, sowie die Ansiedlung von ethnischen Russen – alles in wohlbekannt stalinistischer Tradition.
Das alles verschwindet hinter der Begrifflichkeit, die in Die Welt der Gegenwart verwendet wird. Das gilt auch für den sorglosen Gebrauch von Begriffen wie »Ukrainekonflikt« bei gleichzeitiger Vermeidung der zutreffenden Begriffe wie Vernichtungskrieg und Angriffskrieg. Mit nebulösen Formulierungen wie der nachfolgenden wird der Eindruck erweckt, beide Seiten begingen im gleichen Maße Kriegsverbrechen.
In den Augen der Europäer ist dies die Rückkehr eines Territorialkrieges, eines »schmutzigen Krieges« samt Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Émilie Aubry, Frank Tétart: Die Welt der Gegenwart.
Russland ist der einzige Aggressor in diesem Krieg, es allein zielt mit Terrorangriffen auf Zivilisten, zivile Infrastruktur und Energieversorgung, außerdem gehen gezielte Massentötungen, Folter, Deportationen von Zivilisten allein auf das Konto russischer Streitkräfte. Der Ukraine wird durch die fehlende Nennung von Ross und Reiter ein ähnliches Maß an Kriegsverbrechen unterstellt.
An anderer Stelle wird ein unzulässiger Zusammenhang zwischen den so genannten Minsker Abkommen und dem im Budapester Abkommen vom Westen und Russland (!) anlässlich der freiwilligen Abgabe der ukrainischen Atomwaffen garantierten Staatsgebiet der Ukraine und der »schwierigen Umsetzung« der des »Vertrages« hergestellt. Die »Kontrolle ihrer Grenzen« wäre für den »ukrainischen Präsidenten Selinskyi (sic!) eine nicht verhandelbare Vorbedingung für eine Einigung«. Die Rolle von Täter (Russland hat ein ganzes Bündel bestehender Verträge gebrochen) und Opfer wird so vertauscht.
Leider wärmen die Autoren das längst widerlegte Motiv der Nato-Osterweiterung abermals auf. Mit der Aufnahme der baltischen Staaten stünde »von nun an die Nato an den russischen Grenzen und [ließ] das Gefühl der Einkreisung wiederaufleben«. Allein der Begriff der »Einkreisung« (vom »wieder« gar nicht zu reden) ist angesichts der Grenzen mit Kasachstan, der Mongolei und China unangebracht, ebenso, da Russland im Zuge der verheerenden Niederlagen in der Ukraine sämtliche Grenzen mit der Nato militärisch entblößt hat.
Ímmerhin verweisen die Autoren auf die verhängnisvollen Aktivitäten Russlands im Nahen Osten und Afrika, auch wird die Allianz unter Ungleichen mit China beleuchtet und es werden auch die zunehmend dramatischen Folgen für die wirtschaftliche und soziale Lage in Russland erwähnt. Gemeinsam mit den sehr informativen Karten entspricht das dem, was von einem modernen Atlas mit geopolitischem Schwerpunkt zu erwarten wäre, umso bedauerlicher erscheinen die problematischen Darstellungen im Zusammenhang mit der Ukraine.
Wie wichtig sprachliche Genauigkeit ist, zeigt sich auch am Beispiel des sogenannten »Sechstagekrieges«. Die im Buch gewählte Formulierung erweckt den Eindruck, Israel habe einen Angriffskrieg unternommen und dabei »seine heutige territoriale und geopolitische Stellung« erobert. Die vom ägyptischen Präsidenten vorher unternommenen Schritte, Sperrung einer wichtigen Seestraße für israelische Schiffe und Aufmarsch einer mächtigen Angriffsarmee an der Grenze Israels, bleiben unerwähnt.
Letztlich zeigt sich an diesem Beispiel auch, wo die generellen Erkenntnisgrenzen eines Buches wie Die Welt der Gegenwart sind. Wichtig wäre, diese explizit zu nennen und auf weiterführende Literatur oder Webseiten zu verweisen, die umfassender informieren.
[Rezensionsexemplar]
Émilie Aubry, Frank Tétart: Die Welt der Gegenwart.
Ein geopolitischer Atlas
Aus dem Französischen von Anna Leube und Wolf Heinrich Leube
C.H.Beck / arteEDITIONS 2024
Klappenbroschur 224 Seiten
ISBN: 978-3-406-81404-4