Schriftsteller - Buchblogger

Schlagwort: Azteken

Giuliano Da Empoli: Die Stunde der Raubtiere

Nach der Lektüre fühlte ich mich, als wäre über mich eine Staffel Eurofighter im Tiefflug hinweggedonnert. Cover C.H.Beck, Bild mit Canva erstellt.

Zu Beginn seines Buches wählt Giuliano da Empoli das anschauliche Bild eines Epochenbruchs, der mehrere Jahrhunderte in Vergangenheit zurückliegt. Er schildert, wie die politische Elite des Aztekenreichs, Herrscher Moctezuma II. und seine Berater, auf die Kunde von der Ankunft der Spanier um Hernán Cortés reagierten. Zunächst betont da Empoli die Fremdheit der Ankömmlinge in der Wahrnehmungswelt der Azteken, ein zentrales Motiv. Es erschwert die Einschätzung, mit wem man es zu tun hat und welche Absichten die Fremden verfolgen.

Undurchdringliche Rüstungen, Feuerwaffen, Kampftaktik und Pferde ließen kaum einen Zweifel an deren technologischer Überlegenheit, dennoch wäre es laut da Empolis möglich gewesen, die wenigen Spanier in Meer zu werfen. Das Problem lag in der Einordnung der Fremden, die nur innehalb der eigenen Vorstellung, des Referenzrahmens geschehen konnte: Waren es Barbaren, Götter oder gar eine Verkörperung des eins vertriebenen Quetzalcóatl? Die Reaktion auf die Ankunft hing von der Beantwortung der Fragen ab. Angesichts der fehlenden Eindeutigkeit geschah – nichts.

In der Zwickmühle einander widersprechender Meinungen tat der Herrscher, was Politiker aller Zeiten in solchen Situationen tun: Er entschied, sich nicht zu entscheiden.

Giuliano Da Empoli: Die Stunde der Raubtiere

Das meint, Moctezuma entschied sich gegen den Krieg, um in das eigene Herrschaftsgebiet eindringenden Fremden zu vernichten, also gegen einen schmerzhaften und riskanten Schritt mit unwägbarem Ende. Stattdessen habe er Botschafter und Geschenke geschickt, ihnen jedoch den Zutritt zu seiner Hauptstatt verweigert. Am Ende dieser Zögerlichkeit habe er Krieg und Schande geerntet, »was in allen Zeiten aus dergleichen Zögerlichkeit hervorgeht.«

Diese Interpretation von Moctezumas Verhalten wird dem Aztekenherrscher möglicherweise nicht gerecht, folgt man neueren Forschungen, wie etwa Camilla Townsends Fünfte Sonne. Sie bestreitet die Vorherrschaft religiös motivierter gegenüber rationalen Einschätzungen, unterstreicht die technologische Unterlegenheit (»die Welt der Sumerer trifft auf die Renaissance«) bei gleichzeitiger Entschlossenheit der Eroberer und verweist auf die begrenzten Ressourcen des aztekischen Herrschaftsbereiches. Alles zusammengenommen machte einen militärischen Erfolg gegen die Spanier unwahrscheinlich. Trotzdem widerlegt das da Empolis Vergleich keineswegs, im Gegenteil.

Moderne Herrscher können sie nicht wie der von Da Empoli skizzierte Moctezuma auf Unwissen berufen. Sie wissen zum Beispiel in Bezug auf Wladimir Putin sehr genau, was auf sie zukommt; gleiches gilt für China. Auch die erodierende Wirkung der Sozialen Medien auf die Fundamente der Macht ist ihnen mittlerweile bekannt, sie ahnen, dass KI es nicht besser machen lässt. Trotzdem verweigern sie entschlossenes Handeln, obwohl sie – anders als der tragische Aztekenherrscher – eben nicht unterlegen sind bzw. im Falle der KI waren. Im Grunde genommen ist das Versagen also noch viel dramatischer als von Da Empoli für Moctezuma skizziert.

So oder so folgte der Ankunft der Spanier die Auslöschung der Azteken und anderer indigener Völker, die Versklavung von Millionen Menschen, die Ausbeutung südamerikanischer Silbervorkommen, womit endlose Kriege in Europa einschließlich der Abholzung ganzer Landstriche finanziert wurden. Darin liegt eine Botschaft von Die Stunde der Raubtiere, dass nämlich derartige Verheerungen auch durch die modernen Technologie-Konquistadoren verursacht werden. Wenn blöd läuft, eine globale Unterwerfung, vielleicht auch die Auslöschung der Menschheit.

Konfrontiert mit Blitz und Donner des Internets, der sozialen Netzwerke und der KI, unterwarfen sie [die Politiker A.P.]  sich in der Hoffnung, ein wenig Feenstaub werde auch auf sie niedergehen.

Giuliano Da Empoli: Die Stunde der Raubtiere

Da Empoli spricht in seiner sehr persönlichen Analyse von »Degradierungsritualen«, denen er in den vergangenen Jahrzehnten beigewohnt habe. Was er dann in wenigen Sätzen skizziert, ist niederschmetternd, denn es zitiert Bilder, dem jeder Leser von TV-Bildschirmen, aus dem Internet oder der Tagezeitung kennt. Nur unterfüttert er sie mit einer Auslegung, die sich diametral von den Medien unterscheidet; er beruft sich auf seine Erfahrung als politisch Aktiver, Berater und Beobachter. Da alles steht auf den ersten zweieinhalb Seiten. Dem Leser kann dabei schon apokalyptisch zumute werden.

Das Gefühl verstärkt sich während der Lektüre von Die Stunde der Raubtiere. Immer wieder greift der Autor auf historische Motive zurück, vor allem den Untergang der Republik von Florenz, aber auch auf die von Niccoló Macchiavelli beschriebenen Borgia. An deren Handlungsweisen spiegelt er moderne Machtergreifungs- und sicherungsstrategien, etwa die des Mohamed Ben Salman, einer »Figur, die ummittelbar Macchiavellis Werk entstiegen ist.«

Eine besondere Rolle bei den historischen und modernen »Borgianern« spielt die Aktion, die rasche, zielgerichtete und vor allem überraschende Handlung. Das Ziel, so Da Empoli, liegt in der »Schockstarre«, die auf eine Aktion folge. Damit bekommt der Beginn des Buches, die Betonung der Handlungsunfähigkeit und –unwilligkeit moderner Politiker ein noch viel stärkeres Gewicht. Hier wird ein wichtiger Grund für die mit den Händen zu greifende Wehrlosigkeit des gewohnten Politikbetriebes genannt.

Das Zeitfenster, in dem ein Regulierungssystem noch hätte eingerichtet werden können, hat sich heute wieder geschlossen.

Giuliano Da Empoli: Die Stunde der Raubtiere

Die Einschätzung ist dramatisch. Das Kind liegt im Brunnen und ertrinkt. Damit geht Da Empoli noch über Anne Applebaum oder Timothy Snyder hinaus, die solche Regulierungen als Gegenmaßnahmen empfohlen haben. Dafür ist es zu spät, die Macht der global agierenden Konzerne und die Ruchlosigkeit ihrer Schöpfer und Lenker zu groß; sie brauchen sich längst nicht mehr hinter vorgeschützter Harmlosigkeit zu verstecken.

Die Kapitel, in denen sich das Buch mit den US-Demokraten befasst, werden vielen links-progressiven Lesern übel aufstoßen. Wer aus diesen Kreisen hört schon gern, dass für die Borgianer der »Wokismus ein gefundenes Fressen [ist], der ideale Brennstoff, um ihre Chaosmaschinerie am Laufen zu halten.«? Anhand eines dramatischen Treffens anlässlich von Obamas Abschied aus dem Weißen Haus im November 2017 zeigt Da Empoli, welche Steilvorlagen aus diesem Bereich für die Trumpisten gegeben wurden und bis in die Gegenwart gegeben werden.

Dummerweise hülfe auch ein wenig mehr Klugheit möglicherweise nicht (mehr) weiter. Der für mich haarsträubendste Abschnitt befasst sich mit dem Putsch der Bolschewisten unter der Führung von Leo Trotzki im Herbst 1917. Alexander Kerenski, der die Macht in den Händen hielt, war laut Da Empoli weder schwach noch unfähig, obendrein entschlossen. Trotzdem fegten ihn eine Handvoll Bolschewisten hinweg, weil diese die überkommene Aufstands-Schlachtordnung umstürzten.

Der wahre Antizipationsroman über die KI ist Der Prozess von Kafka, in dem niemand versteht, was vor sich geht, weder der Angeklagte noch die Richter, die ihn anklagen, und doch nehmen die Ereignisse unaufhaltsam ihren Lauf.

Giuliano Da Empoli: Die Stunde der Raubtiere

Das Zitat müsste vielleicht noch durch Kafkas Das Schloss erweitert werden, auf das sich Da Empoli auch bezieht. Am Ende führt der Autor noch vor, wie die Neue Welt unter der digitalen Fuchtel aussieht. Nicht aussehen könnte, denn »für einige ist das Schloss bereits da«, beispielsweise die Zusteller. Oder das Örtchen Lieusaint in Frankreich, das bereits spürt, wie es ist, unter der Optimierungs-Zuchtrute einer KI zu leben. Der Brückenschlag macht aus der bis dahin bildgewaltigen, aber eher abstrakten, literarisch unterfütterten Darstellung schlagartig Alltagsrealität. Der Leser fühlt sich, als wäre eine Staffel Eurofighter im Tiefflug über ihn hinweggedonnert.

Ich bedanke mich für das Rezensionsexemplar, das mir freundlicherweise vom Verlag C.H. Beck zur Verfügung gestellt wurde.

Giuliano Da Empoli: Die Stunde der Raubtiere
Macht und Gewalt der neuen Fürsten
Aus dem Französischen von Michaela Meßner
C.H. Beck 2025
Klappenbroschur 128 Seiten
ISBN: 978-3-406-83821-7

Camilla Townsend: Fünfte Sonne

Ein lesenswertes Buch über die Azteken, die nicht auf die Opferrolle reduziert werden. Sie waren unterlegen, haben den Kampf gegen die Eroberer aber angenommen, nach ihren Mitteln klug geführt und letztlich dennoch verloren. Cover C.H. Beck, Bild mit Canva erstellt.

Wenn man einen modernen Atlas der Geschichte aufschlägt und nach dem Reich der Azteken sucht, findet man das Bild einer farbig markierten Fläche im heutigen Mexiko, das jenes „Azteken-Reich“ im Jahr 1521 zeigen soll. Das Beispiel ist dem Atlas von Christian Grataloup entnommen, es deutet durch schraffierte Gebiete auch eine Art Herrschaftshierarchie an, ein kleiner Kasten gibt einige weitere Informationen preis, die eine kurze geschichtliche Einordnung erlauben.

Atlanten wie Christian Grataloups Geschichte der Welt erlauben einen schnellen Zugriff auf Kartenmaterial und knappe Informationen. So erhält man eine Vorstellung davon, wo zum Beispiel die Azteken lebten, wie groß ihre Herrschaftsgebiet war oder ihr Einfluss reichte, was sich während der Lektüre eines Sachbuchs vom Format Fünfte Sonne als kritikwürdig herausstellt. Das ist kein Nachteil, den kein Atlas vermag eine Form von Wirklichkeit oder gar Wahrheit abbilden, es ist immer eine spezielle, autorgebundene Sichtweise.

Nach der Lektüre von Fünfte Sonne erweisen sich mehr oder weniger alle Aussagen als problematisch, wenigstens verkürzt oder zweifelhaft. Das liegt unter anderem daran, dass die Geschichte der Azteken auf der Basis von Quellen verfasst wurde und wird, die niemals für die europäische Geschichte des Mittelalters Verwendung finden, sondern von der Quellenkritik aussortiert werden würden. Für die Geschichte der Azteken wurden sie dennoch verwendet.

Das führt zu Zuschreibungen und Erfindungen, die dem jeweiligen Urheber und seinem Weltbild gelegen kamen bzw. kommen. Bei der Geschichtsschreibung wird also mit zweierlei Maß gemessen, wie es laut Camilla Townsend sonst nicht vorkommen würde. Man könnte hier aber durchaus auf auf die Karthager verweisen, insbesondere der von den Römern gegenüber ihren tödlichsten Gegnern immer wieder beschworene Menschenopferkult erinnert direkt an das, was über die Indios erzählt wird.

In dem kleinen Kasten aus Die Geschichte der Welt wird die Problematik im letzten Satz deutlich: Nach der Lektüre von Fünfte Sonne würde man wenigstens eine andere Formulierung gebrauchen. Da Filme wie Apocalypto eine viel größere Reichweite haben und das Bild von Millionen Zuschauern prägen, die niemals ein Geschichtsbuch oder einen Atlas in die Hand nehmen würden, ist das Bild in der breiten Öffentlichkeit noch schräger. Wer das schaut, erhält ein gruselig verzerrtes Bild der Welt Altamerikas.

Für die Indios wurden andere Standards angewendet.

Camilla Townsend: Fünfte Sonne

Die Azteken waren eine Hochkultur. In ihrem Welt- und Selbstbild, das sich dramatisch von dem unterscheidet, was heute noch immer kursiert, lebten sie unter der fünften Sonne – vier Universen waren zuvor bereits zusammengebrochen. Schon diese Bemerkung macht klar, dass man den Barbaren-Topos getrost in die Rumpeltruhe verbannen kann.

Dorthin gehört auch das vielfach beschworene Opfer-Motiv: Die Azteken waren tatsächlich Opfer des spanischen Expansions- und Eroberungsstrebens, ihrer Beutegier und der von Europa eingeschleppten Erreger, die verheerende Epidemien auslösten. Es wäre jedoch grundfalsch, sie auf diese Rolle zu reduzieren oder gar festzulegen, gar nicht zu reden davon, dass die Azteken ein Ende gefunden hätten.

Camilla Townsend verfolgt das erklärte Ziel, die Kontinuitäten, die Anpassung an die neuen Umstände, die Adaption kultureller und technischer Aspekte (Lateinisches Alphabet, Segelschifffahrt) und die kluge sowie geschickte Nutzung für eigene Zwecke darzustellen. Zum Beispiel erkannten die Indios sehr schnell die Vorzüge des Alphabets gegenüber ihrer eigenen Form der Aufzeichnung und verwendeten sie, um ihre eigene Geschichte zu überliefern. Es gibt also indigene Quellen – sie stellen die Rezipienten allerdings vor einige Hürden.

König Moctezuma war den Ankömmlingen einfach unterlegen, und das wusste er.

Camilla Townsend: Fünfte Sonne

Dieser kurze Satz aus Fünfte Sonne bietet eine Menge Sprengstoff, vor allem die letzten drei Worte. Moctezuma wird so zu einem klar denkenden, handelnden Machtmenschen, der seine Optionen wägt und auf dieser Basis Einschätzungen und Entscheidungen trifft – genau wie die Europäer! Es kann keine Rede sein von jenem Geschwurbel, nach dem die Aztekenherrscher vor allem aus religiösen Motiven entschieden und handelten, gar nicht zu reden von der Behauptung, Cortés wäre als Gott angesehen worden.

Townsend beleuchtet, wie die Ankunft der Europäer im Reich der Azteken kommuniziert wurde, welche Maßnahmen ergriffen und Entscheidungen getroffen wurden: Informationen über die Ankömmlinge sammeln, ihre Ziele und Stärke einschätzen, die eigenen Möglichkeiten abwägen und auf dieser Basis taktische und strategische Optionen erdenken.

Man wage ruhig einen vergleichenden Blick in die Gegenwart, etwa auf die deutsche Russland- bzw. Nicht-Ukraine-Politik seit 2014, insbesondere aber die Handlungen der deutschen Exekutive nach dem Beginn des Angriffskrieges Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 – die Krisensituation in Moctezumas Reich war weitaus dramatischer, die eigenen Handlungsspielräume viel geringer.

Moctezuma hat sich nicht geirrt, die Spanier waren ihm haushoch überlegen. Ein paar Gründe werden immer wieder genannt, zum Beispiel Feuerwaffen oder die stählernen Rüstungen. Pferde, die es in Amerika nicht gab, waren jedoch in den Kämpfen von großer Bedeutung, aber auch die Fähigkeit, große Segelboote zu bauen, mit Kanonen zu bestücken und auf dem See um Tenochtitlan einzusetzen. Nicht zu vergessen die militärische Organisation, das Kämpfen in Haufen, geschlossenen Formationen.

Es war fast so, als wenn das Europa der Renaissance auf das alte Sumer getroffen wäre.

Camilla Townsend: Fünfte Sonne

Noch wichtiger war, dass Moctezuma sehr genau wusste, was er seinem eigenen Reich zumuten konnte und was nicht. Um das zu berücksichtigen, ist eine genaue Kenntnis der Herrschaft, ihrer Entstehung und Entwicklung nötig – daran gebrach es in der Vergangenheit; es ist auch recht einfach und bequem, den Azteken religiöse Beweggründe statt machtpolitischer zu unterstellen.

Das Reich der Azteken hätte hohe Verluste in lang anhaltenden Kämpfen mit den Spaniern nicht ausgehalten, das war Moctezuma völlig klar; ein langer Krieg wäre der Selbstvernichtung gleichgekommen, daher hat er die Möglichkeit gesucht, mit den Konquistadoren zu verhandeln und eine Übereinkunft zu erzielen. Von Passivität oder gar „Feigheit“ kann überhaupt keine Rede sein.

An dieser Stelle macht sich der Vorzug der ausführlichen Schilderung des Aufstiegs und der Gestalt des Aztekenreichs bezahlt, denn die Fragilität ist leichter nachzuvollziehen, wenn man bereits weiß, dass ein »Dschingis Khan zu Fuß« (mangels Pferden) die Eroberung angeführt hatte, ein komplexes Gebilde verschiedener Herrschaftsabhängigkeiten entstand, das vor allem aufgrund der Bigamie zu vielschichtigen Problemen der Herrschaftsnachfolge führte.

Der Kampf um die Macht stand bei den Azteken genauso im Fokus wie etwa in Europa, nur die Mittel, Umstände und Vorgehensweisen waren verschieden. Ein Faktor war die Polygamie, was das Problem der Nachfolge ganz anders als im monogamen Europa, aber nicht weniger kompliziert gestaltet. Die Spanier konnten auch vor diesem Hintergrund die Unzufriedenheit jener Völker oder Machtgruppen ausnutzen, die mit den Azteken über Kreuz lagen und taten dies selbstverständlich auch.

Die Mexikaner von heute betrachten Marina vielfach als Verräterin an den Ureinwohnern Amerikas. […] Niemand in Marinas Welt wäre auf die Idee gekommen, das sie dem Volk Moctezumas zu Loyalität verpflichtet gewesen wäre.

Camilla Townsend: Fünfte Sonne

Für die so gewonnenen Verbündeten der Spanier bzw. Cortés war das auch eine Überlebensstrategie, weshalb das immer wieder aufkommende Verrat-Geschrei völlig fehlgreift. Niemals hätten die Azteken von ihren Gegnern irgendetwas wie Loyalität erwartet; das gilt erst recht für Marina bzw. Malitzin, eine Sklavin, die ihre Sprachfähigkeiten zum Dolmetschen und Verhandeln als Teil ihres Versuches, den Sturm zu überstehen, nutzt.

Die Erzählung dieses Versuch füllt ungeheuer spannende Seiten und Kapitel, in denen das Schicksal Marinas bzw. Malitzins und ihrer Kinder ausgebreitet wird, die wechselvollen Zeitläufte der Eroberung werden so aus einer ungewöhnlichen Perspektive nachvollzogen, ebenso die völlig unhistorischen und für politische Zwecke instrumentalisierten Ansichten und Bewertungen zu diesen Personen als »Verräter«.

Moctezuma hat alles versucht, seine Macht und das Überleben seines Volkes zu sichern. Als sich ihm die Chance bot, mit militärischen Mitteln Cortés und seine Soldaten zu teilen und zu vernichten, aus der Stadt zu treiben, hat er sie genutzt, nachdem sein anfänglicher, immer wieder modifizierter Friedensplan  fruchtlos blieb. Doch letztlich war das nur ein Pyrrhus-Sieg, denn die Ressourcen seiner Gegner waren schier unerschöpflich.

Letztlich muss man konstatieren, dass die Europäer neben ihrer militärisch-technischen und kulturell-kommunikativen Überlegenheit vor allem durch unendlichen Nachschub aus Europa nicht zu besiegen waren. Selbst wenn Cortés und seine Leute vollständig vernichtet worden wären, hätte es neue Spanier gegeben, die angetreten wären, Sieg und Herrschaft irgendwann errungen hätten.

Es ist eine Ironie der Geschichte, dass es die Bemühungen der humanitären und fortschrittsorientierten Liberalen waren, die den indigenen Völkern Mexikos einen schweren Schlag versetzten.

Camilla Townsend: Fünfte Sonne

Teil des Epiloges ist dem gewidmet, was von der indigenen Identität übrig geblieben ist. Es gehört zu den unbequemen Erkenntnissen, dass es ausgerechnet progressive Bemühungen waren, die wegen ihrer Auswirkungen auf den Sprachgebrauch in Alltag und Verwaltung die Indigenen massiv unter Druck gesetzt haben. Fünfte Sonne mahnt auch durch diesen Zusammenhang zur Vorsicht und dazu, genau hinzusehen und zuzuhören, der Anspruch von Progressivität ist nicht gleichbedeutend mit ihrer Umsetzung.

[Rezensionsexemplar]

Camilla Townsend: Fünfte Sonne
Aus dem Englischen von Anna Leube und Wolf Heinrich Leube 
C.H. Beck 2023
Gebunden 418 Seiten
ISBN: 978-3-406-798177

© 2025 Alexander Preuße

Theme von Anders NorénHoch ↑

DSGVO Cookie Consent mit Real Cookie Banner