Schriftsteller - Buchblogger

Schlagwort: Baltikum

Timothy Snyder: Über Freiheit

Gefängnisse in den USA sind Teil der Unfreiheit, so Timothy Snyder in seinem ebenso bereichernden wie herausfordernden Buch, das dem Leser reichlich Anlass zum Nachdenken bietet. Cover C.H. Beck, Bild mit Canva erstellt.

Die Maschinen (d.h. Algorithmen) sperren uns in festere Schubladen: ethnische Herkunft, Geschlecht, Einkommen, Wohnort; sie definieren uns durch unsere wahrscheinlichsten Zustände, durch das, was wir online oder unter Überwachung tun, nicht durch das, was wir auf Berggipfeln oder unter Wasser oder bei lauter Musik oder in unseren Träumen tun.

Timothy Snyder: Über Freiheit

Es gibt Bücher, an denen führt kein Weg vorbei. Timothy Snyders Über Freiheit gehört für mich dazu. Seit der amerikanische Historiker sein Buch Bloodlands veröffentlicht hat, lasse ich mir gern vom ihm die Welt und seine Sicht darauf erklären. Bloodlands hat meine Perspektive auf Gegenwart und Geschichte derart nachhaltig und tiefgreifend verändert, wie es bei Büchern selten der Fall ist (Ganz normale Männer von Christopher Browning wäre ein anderes Beispiel), dass ich immer sehr gespannt bin, wenn etwas Neues von ihm veröffentlicht wird.

Über Freiheit  wäre ein Buch, das man FDP-Anhängern ganz dringend zur Lektüre empfehlen würde. Deren immer und überall postuliertes »Freiheit« ist hohl wie eine leere Dose, reduziert auf Fingerhutgröße und wird dem Begriff nicht gerecht. Die formelhafte Aushöhlung des Wortes wird in Über Freiheit schön aufgezeigt. Wie umfassend und durchaus vielschichtig »Freiheit« ist, zeigt sich schon auf den ersten Seiten des Buches. Auch wird deutlich, dass Synder es sich und seinen Lesern nicht leicht machen will.

Grundsätzlich ist man gut beraten, bei allem Gedankengut, das aus den USA über den Atlantik herüberschwappt, der Verlockung zu widerstehen, das eins zu ein auf Deutschland und Europa zu übertragen. Ein herrliches Beispiel ist die These, es gebe keinen Rassismus gegen Weiße. Selbst in den USA darf das bezweifelt werden, in Europa ist es schlichtweg falsch und zwar auf allen Bedeutungsebenen. Man braucht dazu nicht einmal den berüchtigten »Generalplan Ost« zu exhumieren, es reicht ein Blick auf das, was über die Ukraine und ihre Bewohner gesagt wird. Aus Russland, aber auch aus dem Westen, kommt eine Menge Rassismus, offenem und verdecktem.

Freiheit kann nicht gegeben werden. Sie ist kein Erbe. […] In dem Moment, in dem wir glauben, das Freiheit gegeben ist, ist sie weg.

Timothy Snyder: Über Freiheit

Diese Vorsicht ist auch für Über Freiheit von Timothy Snyder angebracht. Wenn dort beispielsweise etwas über das wirtschaftliche und soziale System gesagt wird, meint es vor allem das der USA, nicht aber das der Europäischen Union und erst recht nicht das einzelner europäischer Staaten mit ihren vielfältigen Eigenheiten. Selbstverständlich gibt es globale Einflüsse, die besonders von den USA beeinflusst werden. Trotzdem gibt es dramatische Unterschiede und die sollte man immer im Hinterkopf haben.

Man sollte sich also einerseits davor hüten, die Kritik unreflektiert zu übertragen, andererseits auch keine Kritik am Buch selbst üben, weil das der eigenen Sicht des spezifisch deutschen respektive europäischen Systems widerspricht. Sonst landet man zwangsläufig bei Plattitüden auf der Ebene von »Kapitalismuskritik« oder »Globalisierungskritik«. Man sollte das ernst nehmen, denn nicht umsonst sagt Snyder sagt selbst über sein Vorhaben:

Ich wurde gefragt, wie ein besseres Amerika aussehen könnte. Dies hier ist meine Antwort.

Timothy Snyder: Über Freiheit

Snyder beginnt sein Buch aber mit einer europäischen Perspektive. Das Vorwort von Über Freiheit ist im Zug von Kyjiw nach Westen geschrieben worden. Das ist in mehrfacher Hinsicht symbolträchtig, denn in der Ukraine entscheidet sich tatsächlich das Schicksal der gesamten Welt für die kommenden Jahre, eventuell Jahrzehnte. Hält die Ukraine dem russländischen Angriffskrieg stand, hält vor allem der Westen dem seit Jahren von Russland geführten hybriden Krieg gegen sein demokratisches und offenes System stand, dann wird vielleicht Schlimmeres abgewendet werden können. Ein Angriff Chinas auf Taiwan etwa, dessen Folgen derart dramatisch sein würden, dass die Turbulenzen aus dem Krieg Russlands recht bescheiden erscheinen mögen.

In der Ukraine wurden von der russländischen Armee im Jahr 2022 Gebiete besetzt und im gleichen Jahr von ukrainischen Streitkräften »befreit«. Snyder erzählt von Marija, einer 85 Jahre alten Dame, die in einer Notunterkunft bei Psad-Pokrovske lebt, nachdem die Invasoren vertrieben wurden.  Der Ort wurde befreit, sie wurde befreit – doch ist sie auch frei? Synder verneint. Er hält den Begriff »Befreiung« für irreführend, »Deokkupation«, wie ihn die Ukrainer gebrauchen, erscheint ihm passender. Denn so erst könnte man die Frage stellen, was eigentlich nötig ist, um »frei« zu sein. Konkret: Was fehlt Marija zur »Freiheit«?

Freiheit ist nicht nur die Abwesenheit des Bösen, sondern auch die Anwesenheit des Guten.

Timothy Snyder: Über Freiheit

Snyders Mission ist, dem allzu oft gebrauchten, missbrauchten Wort »Freiheit« wieder Leben einzuhauchen, der bloßen Hülle ein Wesen zu geben. Er will den Begriff definieren. Seine amerikanischen (!) Landsleute gebrauchten den Begriff oft als Abwesenheit von etwas, von Besatzung, Unterdrückung, einer Regierung. Das nennt er »negative Freiheit«, der eine »positive Freiheit« gegenüberstellt. Das Begriffspaar wirkt zunächst schematisch und auch konturlos, die Beispiele aber, wie zum Beispiel Ukrainer Freiheit definieren, beinhalten allesamt etwas Positives.

In der Ukraine betrachten laut Snyder die Menschen Städte und Orte erst dann als befreit, wenn der Bahnverkehr wieder funktioniert. (Im Gegensatz sind die Ansiedlungen, die von russländischen Soldaten »befreit« wurden, zerstört.) Die Struktur ist also wiederhergestellt, doch muss sie erst gefüllt werden, um von Freiheit zu sprechen. Die Möglichkeit zur Mobilität ist ein zentraler Punkt für Freiheit, doch muss der Mensch sie auch selbst nutzen, um Freiheit zu erlangen. Sie ist weder einfach so da noch dauert sie an oder kann vererbt werden. Umgekehrt kann eine Voraussetzung für Freiheit bzw. Unfreiheit sehr wohl vererbt werden, Vermögen bzw. vererbte Armut.

Auf insgesamt sechs Feldern versucht sich Snyder dem Phänomen Freiheit anzunähern: Souveränität, Unberechenbarkeit, Mobilität, Faktizität, Solidarität und Regierung. Die Auswahl überrascht vielleicht, damit hätte das Buch den Punkt der »Unberechenbarkeit« schon mal erfüllt. Doch das ist nur die Form, die grobe Struktur, die Snyder mit durchaus verblüffendem Inhalt füllt. Der Autor mutet seinen Lesern einiges zu, etwa die nicht ganz einfache Unterscheidung zwischen »Körper« und »Leib«, bei der er auf die deutsche Philosophin Edith Stein und die französische Philosophin Simone Weil zurückgreift. Er wendet sich Politik-Bereichen zu, die von Macho-Politikern gern als »Gedöns« abgetan wurden und werden.

Eine Gesellschaft, der die Freiheit am Herzen liegt, würde diese Menschen [Care-Tätigkeiten wie Erzieherinnen, Lehrer, Pflegerinnen] mit Respekt behandeln und sie ordentlich bezahlen.

Timothy Snyder: Über Freiheit

Für Snyder ist essentiell, dass Freiheit aus dem Menschen heraus erwächst und in die Welt hineinwirkt. Das Individuum ist dabei nie allein, isoliert, keine »Ich-AG«, sondern gerade in den ersten Lebensjahren auf andere zwingend angewiesen. Erst in der Verbindung zu anderen wird die Voraussetzung geschaffen, Freiheit und damit Autonomie entstehen zu lassen. Isolierte Kinder, wie sie die Realität tatsächlich kennt, können sich nicht entwickeln und auch nicht frei sein.

Snyders Ansatz ist auf den Menschen zugeschnitten und sehr persönlich ausgestaltet, zunächst spielen »große Politik« oder gar »Geopolitik« gar keine Rolle. Das politische System kommt dabei aber nicht zu kurz, wie der Rückgriff auf Václav Havel zeigt. Das Kapitel heißt »Unberechenbarkeit« und beschäftigt sich mit der Tyrannei durch Berechenbarkeit. Statt der bis 1968 bekannten brutalen Unterdrückung mit militärischen Mitteln setzten die Regime unter dem roten Banner des Kommunismus in der Zeit danach auf Bildschirme.

Wichtig ist dabei, dass diese Form der Unfreiheit nichts mehr mit der Ideologie von Marx, Engels, Lenin oder anderen kommunistischen Denkern zu tun hatte, sondern mit Breshnews Ziel, das seit 1945 bestehende Imperium zu erhalten. Die Bildschirme dienten demzufolge nicht dazu, sozialistische Ideen zu verbreiten, sondern die Konformitäts-Formeln zu streuen und den Zuschauern einzureden, es gäbe nur diese eine und sonst keine Form der politisch-sozialen Ordnung.

In den Führungszirkeln der Sowjetunion nach 1968 glaubte niemand mehr an Sozialismus, in den Rängen der Partei und ihrer Formationen sicher auch viele nicht. Lippenbekenntnisse statt Überzeugung dürften vielleicht auch für die Mehrheit der Menschen das Wesen ihres politischen Lebens gewesen sein. Allerdings hat Zustimmung und Nachbeten einen Haken, nämlich dass diese auf eine Form reduzierte, entleerte Normalität auf den Menschen rückkoppelt.

Sie [die Normalisierung] ist die Gewohnheit, das zu sagen (und dann zu denken), was notwendig erscheint, während man implizit (und dann explizit) übereinstimmt, dass nichts wirklich wichtig ist.

Timothy Snyder: Über Freiheit

Das ist frappierend. Wenn nichts wichtig ist, dann ist alles egal und implizit durch fehlende Werte auch erlaubt. Das ist der Kern der Putin-Propaganda, die im Grunde genommen keine echte Propaganda mehr ist, sondern eine Weiterentwicklung. »Alles ist Scheiße« steht am Ende einer immer widersprüchlicher, einander letztlich ausschließender Flut von Informations-Müll, der »Lügenkaskaden« (Anne Applebaum). Ohne jeden moralischen Maßstab lässt sich alles rechtfertigen, der Zwang zur Rechtfertigung entfällt.

Über die Bildschirme heute flimmern nicht nur die TV-Programme wie zur Zeit von Václav Havel, auf den Nutzer stürzt eine unüberschaubare, überwältigende Flut an Informationen ein. Zu allem Gesagten kommt noch die rein quantitative Überforderung hinzu, mit der Folge, dass viele Zeitgenossen nicht mehr mit, sondern im Internet »leben« oder wie Snyder sagt: »im Bildschirm«.

Hinter dem, was wir sehen, stehen Algorithmen, die berechnen und berechenbar machen, was der Nutzer sieht; damit wird der Mensch berechenbar und verliert seine Freiheit, wenn man der Analyse von Snyder folgt. Die so genannten Sozialen Medien buhlen um Aufmerksamkeit, um Zeit und bedienen sich dabei jener Tricks, durch die einer Sucht verstärkt werden. Wie alle anderen Süchte ist das eine kurzzeitig bequeme Form, den Herausforderungen des wirklichen Lebens auszuweichen, eine dicke, dichte Schutzschicht zwischen sich und die Welt zu packen, wie es eine von OxyContin abhängige Künstlerin in Imperium der Schmerzen von Patrick Radden Keefe formulierte.

Berichten zufolge soll Mark Zuckerberg die frühen Nutzer von Facebook als »dumb fucks« bezeichnet haben, weil diese voller Vertrauen zu seiner Plattform gewesen seien. Das kann man als sprachliche Entgleisung eines überheblichen CEO sehen, man kann aber darin auch den Keim einer Entmenschlichung derjenigen sehen, die an die Versprechungen einer schönen, neuen Welt geglaubt haben. Das geschah ausgerechnet durch jenen, der das „Soziale“ Medium erschaffen hat und damit Geld scheffelt. Entwürdigungen dieser Art standen oft am Anfang von Entrechtung und Gewalt, der brutalen Form von Unfreiheit in Lagerwelten.

Freie Menschen sind berechenbar für sich selbst, aber unberechenbar für Machthaber und Maschinen.

Timothy Snyder: Über Freiheit

Spätestens an diesem Punkt muss man als Leser doch innehalten und sich selbst, sein alltägliches Verhalten reflektieren. Den eigenen Umgang mit den Sozialen Medien, das Verhältnis von Bildschirmleben zu »Real Life«, bis hin zur Manipulierbarkeit. Bücher wie Über Freiheit sind in diesem Sinne unbequem gefährlich, denn sie können zu beunruhigenden Fragestellungen an sich selbst führen. Für mich  ist das eines der ganz großen Komplimente, die man einem Werk machen kann, und die Basis für eine dringliche Leseempfehlung.

[Rezensionsexemplar]

Timothy Snyder: Über Freiheit
Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn
C.H.Beck 2024
Gebunden, 410 Seiten
ISBN: 978-3-406-82140-0

Klaus Modick: Keyserlings Geheimnis

Klaus Modicks Künstlerroman widmet sich einem weitgehend vergessenen Schriftsteller inmitten einer längst untergegangenen Welt. Cover Kiepenheuer&Witch, Bild mit Canva erstellt.

Die Bücher Klaus Modicks haben mich noch nie enttäuscht. Auch Keyserlings Geheimnis ist keine Ausnahme, im Gegenteil: Es ist ein großes Lesevergnügen, die gemächliche, melancholische Erzählweise trägt durch die Geschichte um den heute völlig vergessenen Autor aus dem Baltikum. Die Sprache ist einer der Pluspunkte dieses kleinen, feinen Romans.

Graf Eduard von Keyserling trägt ein Geheimnis mit sich herum. Immer wieder schweifen seine Gedanken in die Vergangenheit, berichten von den großen und kleinen, unwiederbringlich verlorenen Liebschaften. Verletzungen schimmern durch und mehr noch der Bruch, den der Adelige gegenüber seiner Herkunft, seiner Familie und gesellschaftlichen Konventionen und Zwängen vollzogen hat.

In der erzählten Gegenwart ist Keyserling etablierter Schriftsteller, Teil der Künstler-Boheme, gut vernetzt mit berühmten Kreativen seiner Zeit. Ausgangspunkt seiner gedanklichen Streifzüge durch sein Leben ist das Haus am See seines Freundes Max Halbe, wo er mit einigen anderen eingeladen ist. Dort malt ihn Lovis Corinth, das Bild ist bekannter als sämtliche Schriften Keyserlings.

Der Grund liegt in Keyserlings Hässlichkeit, die ein zentrales Motiv während der Handlung ist. Sie setzt ihm zu, als junger Mann wie als Mittvierziger, der noch einmal vom Zauber junger Mädchenblüte umweht wird. Modick gelingt es, das alles ohne Larmoyanz und aufgesetzte Eigenmarginalisierung seiner Hauptfigur in Szene zu setzen; im Gegenteil: Ganz am Ende nämlich, wenn das durchaus bittere Geheimnis enthüllt ist, offenbart sich die Lebensstärke dieses Mannes.

Zu den wirklich schönen Dingen dieses Künstlerromans gehören die vielen Begegnungen, Gespräche und merkwürdig komischen Verhältnisse. Wenn Keyserling etwa mit Frank Wedekind in einen fundamentalen Streit gerät, und das Dichtergenie ihm die Freundschaft in alle Ewigkeit aufkündigt, weiß der Graf, dass diese Endlosigkeit schon nach wenigen Stunden vorüber sein wird.

Neben allem anderen ist der Roman auch ein Portrait der Zeit und gleich mehrerer untergegangener Welten. Wien mag es noch geben, die imperiale Hauptstadt ist heute ein üppig-prächtiges Echo dieser Vergangenheit, das Baltikum und seine deutschen Spuren haben sich dagegen so vollständig aufgelöst, dass man glauben könnte, es habe sie nie gegeben; gleiches gilt für den schriftstellernden Grafen Eduard von Keyserling.

Klaus Modick: Keyserlings Geheimnis
Kiepenheuer & Witsch 2019
Taschenbuch 240 Seiten
ISBN: 978-3-462-05335-7

Alexander Münninghoff: Der Stammhalter

Diese Familiengeschichte des niederländischen Autors hat es in sich, es ist eine atemlos voranschreitende Erzählung voller Wendungen und Konflikte. Cover C.H.Beck, Bild mit Canva erstellt.

»Verhältnis« – ein wunderbares, vielschichtiges Wort. Es kann die Beziehung zwischen Menschen bezeichnen, im Plural dient es dazu, die allgemeinen Lebensumstände zu benennen, schließlich steckt noch das Verhalten darin, das mehr oder weniger dazu beiträgt, die Verhältnisse zu beeinflussen und umgekehrt. Außerdem wird es oft mit einer außerehelichen Liebschaft gleichgesetzt.

All das findet sich in diesem Buch von Alexander Münninghoff. Die Verhältnisse sind auf allen Ebenen verwickelt, verworren, atemberaubend wechselhaft und von der ersten bis zur letzten Seite spannend und vor allem dynamisch. Der Stammhalter hält den Leser bei der Stange, es ist ein Pageturner ohne Action, man kann sich nur schwer lösen.

»Schwarz und bedrohlich glänzend, auf der einen Seite ein schwarz-weiß-rotes Emblem und auf der anderen zwei grellweiße Blitze.«

Alexander Münninghoff: Der Stammhalter

Ich werde erst gar nicht den Versuch unternehmen, so etwas wie eine inhaltliche Zusammenfassung zu bieten – das bliebe in allen denkbaren Fällen unzulänglich.

Schwerpunkt und Kern ist der Zweite Weltkrieg, denn dieses epochale Gemetzel auf dem europäischen Kontinent hat für die Familie des Autors dramatische Folgen. Sie ist im Baltikum, in Riga ansässig, dort reich geworden und Teil der gehobenen Gesellschaft. Deutsche, Schweden und Niederländer bilden die wirtschaftliche (und politische) Elite, die Letten sind das Fußvolk – wenn man die gesellschaftlichen Verhältnisse stark vergröbert zeichnet.

Dank des Hitler-Stalin-Paktes geraten die baltischen Staaten unter den Einfluss der brutalen Sowjetmacht, die 1940 mit militärischen und polizeilichen Mitteln die Eigenstaatlichkeit der baltischen Länder beendet und jeden, der nicht in ihr politisch-ideologisches Konzept passt, tötet, inhaftiert oder verschleppt. Eine traumatische Erfahrung, bis in unsere Tage wirkt das Echo in den wieder selbstständigen Staaten nach.

Für die Familie des Autors geht die Katastrophe glimpflich aus. Der »Alte Herr« Joannes, also der Großvater von Alexander (Bully), ist weit über die Landesgrenzen hinaus bestens vernetzt, wodurch er drei Tage vor dem Angriff der Wehrmacht auf Polen davon aus Berlin erfährt. Da er auch von Hitlers und Stalins Teufelspakt weiß, kann er Schlimmeres verhindern und die Seinen sowie einen Teil des Vermögens in Sicherheit bringen. Die Niederlande, aus der er ursprünglich ausgewandert ist, wird zur neuen (alten) Heimat auserkoren.

Sehr zum Verdruss von Frans: Der Sohn von Joannes und Vater von Alexander hasst die Niederlande, in die ihn der »Alte Herr« mit brachialen Methoden hineinzwingen will. Das geht gründlich schief, Frans wendet sich Deutschland zu, tritt der Waffen-SS bei, nimmt am Feldzug im Osten teil, wird mehrfach verwundet und ausgezeichnet und überlebt, weil er trotz seiner tief empfundenen Kameradschaft und Treue im Herbst 1944 schließlich desertiert.

»Das wahre Gesicht des Krieges, wie es sich mir in der halbdunklen Diele vor der Treppe in Hans’ Elternhaus zeigte, macht kopflos.«

Alexander Münninghoff: Der Stammhalter

Sein Vater laviert zwischen den Fronten. Die SS-Mitgliedschaft seines Sohnes und dessen Kampf an der Ostfront nutzt er während der Besatzungszeit für gute Beziehungen zu den Deutschen, während er gleichzeitig mit dem britischen Geheimdienst und Widerständlern Kontakte unterhält, ja selbst tätig wird; das Geschäft läuft derweil trotz des Krieges weiter – nach dem Krieg nutzt er die schwarzuniformierte Vergangenheit Frans’, um diesen unter Druck zu setzen.

Damit ist nur eine von vielen, einander überlagernden, miteinander verwickelten und nicht enden wollenden Konfliktlinien in dieser Familie genannt, wenn auch eine wesentliche: Die Auseinandersetzung zwischen dem erfolgreichen und völlig skrupellosen bzw. gefühlskalt-egoistisch agierenden Tycoons und seinem Sohn um die gewünschte und passende Identität.

Während Frans durch seine Kollaboration in Schwierigkeiten gerät, wird Enkel Alexander zum Stammhalter erwählt und auf rabiate Weise in Position gebracht. Unnötig zu sagen, dass auch am Ende alles mehr oder weniger scheitert, die hochfliegenden Pläne zerschellen an den Verhältnissen im eingangs genannten Sinne. Es wird geliebt, gehasst, fremdgegangen, geprasst, in großer Not gelebt, geflohen, betrogen und intrigiert – ein turbulenter Strudel an Ereignissen, denen der Leser folgen darf.

»Bei uns wurde ein Deutsch der Höflichkeit und Sanftmut gesprochen, eine Sprache, von der man sich gut vorstellen kann, dass sie sich auch für tiefschürfende Gedanken und Poesie eignet, nicht nur für Kriegshetze und Propagandagedröhn. In meiner Erinnerung ist die deutsche Sprache, die auch meine erste war, ein zärtliches Säuseln, ein leises Flüstern, denn es kam ja aus dem Mund meiner Mutter.«

Alexander Münninghoff: Der Stammhalter

Münninghoff zeichnet auch das Bild einer untergegangenen Welt. Eigentlich müsste man Welten sagen, denn der Zweite Weltkrieg hat davon eine ganze Reihe in den Abgrund gestürzt, aus dem sie nie wieder hervorkommen werden. Neben vielem anderen unterscheidet auch das einen Familienroman wie Der Stammhalter von TV-Serien-Schund, denn wie vor 1939 die unwiederbringlichen, heute unvorstellbaren europäischen Verflechtungen aussahen, wird hier auf wunderbare Weise erlebbar. Außerdem gilt für beinahe alle und alles in diesem Buch: »Doch es wurde nichts mehr gut.«

[Rezensionsexemplar]

Alexander Münninghoff: Der Stammhalter
Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke
C.H. Beck-Verlag 2023
Taschenbuch 334 Seiten
ISBN: 978-3-406-79624-1

© 2024 Alexander Preuße

Theme von Anders NorénHoch ↑

DSGVO Cookie Consent mit Real Cookie Banner