»Verhältnis« – ein wunderbares, vielschichtiges Wort. Es kann die Beziehung zwischen Menschen bezeichnen, im Plural dient es dazu, die allgemeinen Lebensumstände zu benennen, schließlich steckt noch das Verhalten darin, das mehr oder weniger dazu beiträgt, die Verhältnisse zu beeinflussen und umgekehrt. Außerdem wird es oft mit einer außerehelichen Liebschaft gleichgesetzt.
All das findet sich in diesem Buch von Alexander Münninghoff. Die Verhältnisse sind auf allen Ebenen verwickelt, verworren, atemberaubend wechselhaft und von der ersten bis zur letzten Seite spannend und vor allem dynamisch. Der Stammhalter hält den Leser bei der Stange, es ist ein Pageturner ohne Action, man kann sich nur schwer lösen.
»Schwarz und bedrohlich glänzend, auf der einen Seite ein schwarz-weiß-rotes Emblem und auf der anderen zwei grellweiße Blitze.«
Alexander Münninghoff: Der Stammhalter
Ich werde erst gar nicht den Versuch unternehmen, so etwas wie eine inhaltliche Zusammenfassung zu bieten – das bliebe in allen denkbaren Fällen unzulänglich.
Schwerpunkt und Kern ist der Zweite Weltkrieg, denn dieses epochale Gemetzel auf dem europäischen Kontinent hat für die Familie des Autors dramatische Folgen. Sie ist im Baltikum, in Riga ansässig, dort reich geworden und Teil der gehobenen Gesellschaft. Deutsche, Schweden und Niederländer bilden die wirtschaftliche (und politische) Elite, die Letten sind das Fußvolk – wenn man die gesellschaftlichen Verhältnisse stark vergröbert zeichnet.
Dank des Hitler-Stalin-Paktes geraten die baltischen Staaten unter den Einfluss der brutalen Sowjetmacht, die 1940 mit militärischen und polizeilichen Mitteln die Eigenstaatlichkeit der baltischen Länder beendet und jeden, der nicht in ihr politisch-ideologisches Konzept passt, tötet, inhaftiert oder verschleppt. Eine traumatische Erfahrung, bis in unsere Tage wirkt das Echo in den wieder selbstständigen Staaten nach.
Für die Familie des Autors geht die Katastrophe glimpflich aus. Der »Alte Herr« Joannes, also der Großvater von Alexander (Bully), ist weit über die Landesgrenzen hinaus bestens vernetzt, wodurch er drei Tage vor dem Angriff der Wehrmacht auf Polen davon aus Berlin erfährt. Da er auch von Hitlers und Stalins Teufelspakt weiß, kann er Schlimmeres verhindern und die Seinen sowie einen Teil des Vermögens in Sicherheit bringen. Die Niederlande, aus der er ursprünglich ausgewandert ist, wird zur neuen (alten) Heimat auserkoren.
Sehr zum Verdruss von Frans: Der Sohn von Joannes und Vater von Alexander hasst die Niederlande, in die ihn der »Alte Herr« mit brachialen Methoden hineinzwingen will. Das geht gründlich schief, Frans wendet sich Deutschland zu, tritt der Waffen-SS bei, nimmt am Feldzug im Osten teil, wird mehrfach verwundet und ausgezeichnet und überlebt, weil er trotz seiner tief empfundenen Kameradschaft und Treue im Herbst 1944 schließlich desertiert.
»Das wahre Gesicht des Krieges, wie es sich mir in der halbdunklen Diele vor der Treppe in Hans’ Elternhaus zeigte, macht kopflos.«
Alexander Münninghoff: Der Stammhalter
Sein Vater laviert zwischen den Fronten. Die SS-Mitgliedschaft seines Sohnes und dessen Kampf an der Ostfront nutzt er während der Besatzungszeit für gute Beziehungen zu den Deutschen, während er gleichzeitig mit dem britischen Geheimdienst und Widerständlern Kontakte unterhält, ja selbst tätig wird; das Geschäft läuft derweil trotz des Krieges weiter – nach dem Krieg nutzt er die schwarzuniformierte Vergangenheit Frans’, um diesen unter Druck zu setzen.
Damit ist nur eine von vielen, einander überlagernden, miteinander verwickelten und nicht enden wollenden Konfliktlinien in dieser Familie genannt, wenn auch eine wesentliche: Die Auseinandersetzung zwischen dem erfolgreichen und völlig skrupellosen bzw. gefühlskalt-egoistisch agierenden Tycoons und seinem Sohn um die gewünschte und passende Identität.
Während Frans durch seine Kollaboration in Schwierigkeiten gerät, wird Enkel Alexander zum Stammhalter erwählt und auf rabiate Weise in Position gebracht. Unnötig zu sagen, dass auch am Ende alles mehr oder weniger scheitert, die hochfliegenden Pläne zerschellen an den Verhältnissen im eingangs genannten Sinne. Es wird geliebt, gehasst, fremdgegangen, geprasst, in großer Not gelebt, geflohen, betrogen und intrigiert – ein turbulenter Strudel an Ereignissen, denen der Leser folgen darf.
»Bei uns wurde ein Deutsch der Höflichkeit und Sanftmut gesprochen, eine Sprache, von der man sich gut vorstellen kann, dass sie sich auch für tiefschürfende Gedanken und Poesie eignet, nicht nur für Kriegshetze und Propagandagedröhn. In meiner Erinnerung ist die deutsche Sprache, die auch meine erste war, ein zärtliches Säuseln, ein leises Flüstern, denn es kam ja aus dem Mund meiner Mutter.«
Alexander Münninghoff: Der Stammhalter
Münninghoff zeichnet auch das Bild einer untergegangenen Welt. Eigentlich müsste man Welten sagen, denn der Zweite Weltkrieg hat davon eine ganze Reihe in den Abgrund gestürzt, aus dem sie nie wieder hervorkommen werden. Neben vielem anderen unterscheidet auch das einen Familienroman wie Der Stammhalter von TV-Serien-Schund, denn wie vor 1939 die unwiederbringlichen, heute unvorstellbaren europäischen Verflechtungen aussahen, wird hier auf wunderbare Weise erlebbar. Außerdem gilt für beinahe alle und alles in diesem Buch: »Doch es wurde nichts mehr gut.«
[Rezensionsexemplar]
Alexander Münninghoff: Der Stammhalter
Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke
C.H. Beck-Verlag 2023
Taschenbuch 334 Seiten
ISBN: 978-3-406-79624-1
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