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Schlagwort: Frankreich (Seite 1 von 9)

Giuliano Da Empoli: Die Stunde der Raubtiere

Nach der Lektüre fühlte ich mich, als wäre über mich eine Staffel Eurofighter im Tiefflug hinweggedonnert. Cover C.H.Beck, Bild mit Canva erstellt.

Zu Beginn seines Buches wählt Giuliano da Empoli das anschauliche Bild eines Epochenbruchs, der mehrere Jahrhunderte in Vergangenheit zurückliegt. Er schildert, wie die politische Elite des Aztekenreichs, Herrscher Moctezuma II. und seine Berater, auf die Kunde von der Ankunft der Spanier um Hernán Cortés reagierten. Zunächst betont da Empoli die Fremdheit der Ankömmlinge in der Wahrnehmungswelt der Azteken, ein zentrales Motiv. Es erschwert die Einschätzung, mit wem man es zu tun hat und welche Absichten die Fremden verfolgen.

Undurchdringliche Rüstungen, Feuerwaffen, Kampftaktik und Pferde ließen kaum einen Zweifel an deren technologischer Überlegenheit, dennoch wäre es laut da Empolis möglich gewesen, die wenigen Spanier in Meer zu werfen. Das Problem lag in der Einordnung der Fremden, die nur innehalb der eigenen Vorstellung, des Referenzrahmens geschehen konnte: Waren es Barbaren, Götter oder gar eine Verkörperung des eins vertriebenen Quetzalcóatl? Die Reaktion auf die Ankunft hing von der Beantwortung der Fragen ab. Angesichts der fehlenden Eindeutigkeit geschah – nichts.

In der Zwickmühle einander widersprechender Meinungen tat der Herrscher, was Politiker aller Zeiten in solchen Situationen tun: Er entschied, sich nicht zu entscheiden.

Giuliano Da Empoli: Die Stunde der Raubtiere

Das meint, Moctezuma entschied sich gegen den Krieg, um in das eigene Herrschaftsgebiet eindringenden Fremden zu vernichten, also gegen einen schmerzhaften und riskanten Schritt mit unwägbarem Ende. Stattdessen habe er Botschafter und Geschenke geschickt, ihnen jedoch den Zutritt zu seiner Hauptstatt verweigert. Am Ende dieser Zögerlichkeit habe er Krieg und Schande geerntet, »was in allen Zeiten aus dergleichen Zögerlichkeit hervorgeht.«

Diese Interpretation von Moctezumas Verhalten wird dem Aztekenherrscher möglicherweise nicht gerecht, folgt man neueren Forschungen, wie etwa Camilla Townsends Fünfte Sonne. Sie bestreitet die Vorherrschaft religiös motivierter gegenüber rationalen Einschätzungen, unterstreicht die technologische Unterlegenheit (»die Welt der Sumerer trifft auf die Renaissance«) bei gleichzeitiger Entschlossenheit der Eroberer und verweist auf die begrenzten Ressourcen des aztekischen Herrschaftsbereiches. Alles zusammengenommen machte einen militärischen Erfolg gegen die Spanier unwahrscheinlich. Trotzdem widerlegt das da Empolis Vergleich keineswegs, im Gegenteil.

Moderne Herrscher können sie nicht wie der von Da Empoli skizzierte Moctezuma auf Unwissen berufen. Sie wissen zum Beispiel in Bezug auf Wladimir Putin sehr genau, was auf sie zukommt; gleiches gilt für China. Auch die erodierende Wirkung der Sozialen Medien auf die Fundamente der Macht ist ihnen mittlerweile bekannt, sie ahnen, dass KI es nicht besser machen lässt. Trotzdem verweigern sie entschlossenes Handeln, obwohl sie – anders als der tragische Aztekenherrscher – eben nicht unterlegen sind bzw. im Falle der KI waren. Im Grunde genommen ist das Versagen also noch viel dramatischer als von Da Empoli für Moctezuma skizziert.

So oder so folgte der Ankunft der Spanier die Auslöschung der Azteken und anderer indigener Völker, die Versklavung von Millionen Menschen, die Ausbeutung südamerikanischer Silbervorkommen, womit endlose Kriege in Europa einschließlich der Abholzung ganzer Landstriche finanziert wurden. Darin liegt eine Botschaft von Die Stunde der Raubtiere, dass nämlich derartige Verheerungen auch durch die modernen Technologie-Konquistadoren verursacht werden. Wenn blöd läuft, eine globale Unterwerfung, vielleicht auch die Auslöschung der Menschheit.

Konfrontiert mit Blitz und Donner des Internets, der sozialen Netzwerke und der KI, unterwarfen sie [die Politiker A.P.]  sich in der Hoffnung, ein wenig Feenstaub werde auch auf sie niedergehen.

Giuliano Da Empoli: Die Stunde der Raubtiere

Da Empoli spricht in seiner sehr persönlichen Analyse von »Degradierungsritualen«, denen er in den vergangenen Jahrzehnten beigewohnt habe. Was er dann in wenigen Sätzen skizziert, ist niederschmetternd, denn es zitiert Bilder, dem jeder Leser von TV-Bildschirmen, aus dem Internet oder der Tagezeitung kennt. Nur unterfüttert er sie mit einer Auslegung, die sich diametral von den Medien unterscheidet; er beruft sich auf seine Erfahrung als politisch Aktiver, Berater und Beobachter. Da alles steht auf den ersten zweieinhalb Seiten. Dem Leser kann dabei schon apokalyptisch zumute werden.

Das Gefühl verstärkt sich während der Lektüre von Die Stunde der Raubtiere. Immer wieder greift der Autor auf historische Motive zurück, vor allem den Untergang der Republik von Florenz, aber auch auf die von Niccoló Macchiavelli beschriebenen Borgia. An deren Handlungsweisen spiegelt er moderne Machtergreifungs- und sicherungsstrategien, etwa die des Mohamed Ben Salman, einer »Figur, die ummittelbar Macchiavellis Werk entstiegen ist.«

Eine besondere Rolle bei den historischen und modernen »Borgianern« spielt die Aktion, die rasche, zielgerichtete und vor allem überraschende Handlung. Das Ziel, so Da Empoli, liegt in der »Schockstarre«, die auf eine Aktion folge. Damit bekommt der Beginn des Buches, die Betonung der Handlungsunfähigkeit und –unwilligkeit moderner Politiker ein noch viel stärkeres Gewicht. Hier wird ein wichtiger Grund für die mit den Händen zu greifende Wehrlosigkeit des gewohnten Politikbetriebes genannt.

Das Zeitfenster, in dem ein Regulierungssystem noch hätte eingerichtet werden können, hat sich heute wieder geschlossen.

Giuliano Da Empoli: Die Stunde der Raubtiere

Die Einschätzung ist dramatisch. Das Kind liegt im Brunnen und ertrinkt. Damit geht Da Empoli noch über Anne Applebaum oder Timothy Snyder hinaus, die solche Regulierungen als Gegenmaßnahmen empfohlen haben. Dafür ist es zu spät, die Macht der global agierenden Konzerne und die Ruchlosigkeit ihrer Schöpfer und Lenker zu groß; sie brauchen sich längst nicht mehr hinter vorgeschützter Harmlosigkeit zu verstecken.

Die Kapitel, in denen sich das Buch mit den US-Demokraten befasst, werden vielen links-progressiven Lesern übel aufstoßen. Wer aus diesen Kreisen hört schon gern, dass für die Borgianer der »Wokismus ein gefundenes Fressen [ist], der ideale Brennstoff, um ihre Chaosmaschinerie am Laufen zu halten.«? Anhand eines dramatischen Treffens anlässlich von Obamas Abschied aus dem Weißen Haus im November 2017 zeigt Da Empoli, welche Steilvorlagen aus diesem Bereich für die Trumpisten gegeben wurden und bis in die Gegenwart gegeben werden.

Dummerweise hülfe auch ein wenig mehr Klugheit möglicherweise nicht (mehr) weiter. Der für mich haarsträubendste Abschnitt befasst sich mit dem Putsch der Bolschewisten unter der Führung von Leo Trotzki im Herbst 1917. Alexander Kerenski, der die Macht in den Händen hielt, war laut Da Empoli weder schwach noch unfähig, obendrein entschlossen. Trotzdem fegten ihn eine Handvoll Bolschewisten hinweg, weil diese die überkommene Aufstands-Schlachtordnung umstürzten.

Der wahre Antizipationsroman über die KI ist Der Prozess von Kafka, in dem niemand versteht, was vor sich geht, weder der Angeklagte noch die Richter, die ihn anklagen, und doch nehmen die Ereignisse unaufhaltsam ihren Lauf.

Giuliano Da Empoli: Die Stunde der Raubtiere

Das Zitat müsste vielleicht noch durch Kafkas Das Schloss erweitert werden, auf das sich Da Empoli auch bezieht. Am Ende führt der Autor noch vor, wie die Neue Welt unter der digitalen Fuchtel aussieht. Nicht aussehen könnte, denn »für einige ist das Schloss bereits da«, beispielsweise die Zusteller. Oder das Örtchen Lieusaint in Frankreich, das bereits spürt, wie es ist, unter der Optimierungs-Zuchtrute einer KI zu leben. Der Brückenschlag macht aus der bis dahin bildgewaltigen, aber eher abstrakten, literarisch unterfütterten Darstellung schlagartig Alltagsrealität. Der Leser fühlt sich, als wäre eine Staffel Eurofighter im Tiefflug über ihn hinweggedonnert.

Ich bedanke mich für das Rezensionsexemplar, das mir freundlicherweise vom Verlag C.H. Beck zur Verfügung gestellt wurde.

Giuliano Da Empoli: Die Stunde der Raubtiere
Macht und Gewalt der neuen Fürsten
Aus dem Französischen von Michaela Meßner
C.H. Beck 2025
Klappenbroschur 128 Seiten
ISBN: 978-3-406-83821-7

Sylvain Prudhomme: Der Junge im Taxi

Was für eine Drohung. Sie kommt für den Ich-Erzähler ebenso überraschend wie für den Leser. Sie erscheint im ersten Moment seltsam, gemessen am Anlass und dem Erzählstil, doch ist Erinnern und Erinnertwerden nicht immer erwünscht. Cover Unionsverlag, Bild mit Canva erstellt.

Ich verstoße dich, hörst du.

Sylvain Prudhomme: Der Junge im Taxi

Wenn diese Worte gesagt werden, ist die Handlung des Romans Der Junge im Taxi schon so weit vorangeschritten, dass sie eine ganz besondere Wucht entfalten. Jemanden zu verstoßen ist keine leichtfertige Drohung. Ob im familiären oder gesellschaftlichen Kontext beinhaltet sie eine gefährliche Implikation: Wer sein soziales Netz verliert, könnte daran zugrunde gehen. Es liegt etwas Archaisches in diesen Worten.

Imma, die Großmutter des Ich-Erzählers Simon, schleudert diese Worte ihrem Enkel direkt ins Gesicht. Eiskalt ist die Stimme der über neunzig Jahre alten Frau, die erst vor einem Monat zur Witwe wurde und seit dem Tode ihres Mannes Malusci wieder auflebt. In dieser Situation aber brüllt sie ihn an, empört sich, überschüttet ihn mit Zorn und schließt diese Zusammenkunft mit einer Drohung ab, um Simon zu einem Versprechen zu zwingen.

Die geradezu brutale Wucht hebt sich von allem ab, was bis dahin erzählt wird. Im ersten Moment wirkt es geradezu deplatziert, es will weder zu der Person Imma passen noch zu dem Erzählstil des Romans. Sylvain Prudhomme lässt seinen Erzähler sehr genau hinsehen, Details schildern und assoziativ auslegen. In dieses feine Erzählgespinst haut dieser Satz wie ein Kriegshammer.

Perplex ist nicht nur Simon, der sich – zunächst – fügt. Doch passt der Ausbruch zu dem, was sich zeitlich Jahrzehnte vor diesem Moment abgespielt hat, ein wahrhaftiges Verstoßen, das Imma nicht wieder aufrühren, sondern im Vergessen beerdigen will. Da zwicken vermutlich ein schambehaftetes Schuldgefühl und persönliche Verletzungen, es gibt eine Leerstelle für die unwissenden Nachgeborenen, die leer bleiben soll.

In der Leerstelle ruht nämlich M., Sohn Maluscis mit einer Deutschen, mit der er ein Verhältnis hatte, während er als französischer Besatzungssoldat in der Nähe des Bodensees stationiert war. Simon weiß davon nichts, er erfährt es von (»nennen wir ihn«) Franz, dem Mann Julies, ein Onkel also, ausgerechnet auf der Beerdigungsfeier Maluscis. Franz spielt mit dem Gedanken, es öffentlich zu machen, am Sarg den unehelichen Sohn des Verstorbenen aus dem Schatten des Verschweigens zu holen. Er erzählt es stattdessen Simon.

M. der deutsche Sohn von Malusci du weißt doch dass dein Großvater in Deutschland einen Sohn gezeugt hat damals als er am Bodensee Besatzungssoldat war einen Sohn mit einer Deutschen die ein paar Wochen lang gekannt hat das wusstest du doch oder

Sylvain Prudhomme: Der Junge im Taxi

Dieses Kapitel ist dicht erzählt, dabei reflektierend, schonend in einer fast schon skrupulösen Zurückhaltung gefasst, nur an manchen Stellen wird zugespitzt formuliert. Die innere Auflösung Simons durch Franz’ Eröffnung spiegelt sich in der Auflösung der Zeichensetzung. Das Zitat zeigt das sehr schön, die Worte stehen in einem von allen ordnenden Zeichen freien Raum. Simons Welt gerät im Kleinen aus den Fugen.

Natürlich ist seine Neugier geweckt. Warum wurde M. so beharrlich verschwiegen? Prudhomme lässt seinen Erzähler über das Schweigen nachdenken, die Überlegungen gehören für mich zu den Glanzstücken des Romans. Eine Art »Faulheit« und Bequemlichkeit verhindert, die unangenehmen Dinge anzureißen, um den äußerlichen Familienfrieden bei gemeinsamen Essen oder anderen Begegnungen zu wahren.

Dahinter verbergen sich grundsätzliche Fragen. Ist Erinnern per se gut, auch wenn es Unfrieden stiftet? Ist Verschweigen, um Frieden zu wahren, nichts anderes als (feige) Verleugnung. Die Formulierungen erinnern an die Verweigerung hierzulande, sich den Gräueltaten während des Zweiten Weltkrieges zu stellen. Als deutscher Leser kann man gar nicht anders, als an die (zu) viel gerühmte »Erinnerungskultur« zu denken.

Der Junge im Taxi widmet sich einem prekären Thema. Mehr als 400.000 Kinder wurden von alliierten Soldaten mit deutschen Frauen gezeugt, heißt es an einer Stelle im Roman. Ich weiß nicht, ob diese Zahl auch die Massenvergewaltigungen deutscher Frauen durch die Rote Armee einschließt, unabhängig davon ist die Stigmatisierung als »Bastard« eines fremden Soldaten in jedem einzelnen Schicksal vorgezeichnet.

Trotz seines Versprechens gegenüber Imma begibt sich Simon auf die Suche nach Spuren. Da der Roman weder Detektiv- noch Ermittlungserzählung sein will, mäandert diese Suche durch einen Alltag, der von Simons Trennung von A. und den damit verbundenen Widrigkeiten geprägt ist. An manchen Stellen scheint das Thema regelrecht hinter dem Gewöhnlichen zu verschwinden. Doch das ist ebenso nahe an der Wirklichkeit, wie der Umstand, dass eben nicht alles aufgedeckt werden kann (und muss).

Danke an den Unionsverlag für das Rezensionsexemplar.

Sylvain Prudhomme: Der Junge im Taxi
Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer
Unionsverlag 2025
Gebunden 192 Seiten
ISBN: 9783293006324

Thomas Meyer: Hannah Arendt

Umstritten wie kein anderes Buch von Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Die sprichwörtliche »Banalität des Bösen« ist von vielen Seiten kritisiert worden. Das schmale Buch von Thomas Meyer widmet sich vor allem den Werken Arendts, ihrem Leben und der Rezeption.

Bald ist es ein halbes Jahrhundert her, dass Hannah Arendt im Alter von 69 Jahren verstarb. Seit 1975 ist derart Epochemachendes, Disruptives und Weltumstürzendes geschehen, dass die Feststellung von Thomas Meyer wundert, Werk und Denken Arendts werde bis in die Gegenwart zitiert und zu Analysen herangezogen. War sie also am Ende eine zeitlose oder zumindest nicht auf das zwanzigste Jahrhundert beschränkte Denkerin, wie der Untertitel nahelegt?

Die Frage lässt sich nach der Lektüre des schmalen Büchleins über Arendt ebensowenig beantworten, wie die, was eigentlich jener zum geflügelten Wort gewordene Untertitel „Banalität des Bösen“ genau meint. Dazu ist – eigentlich keine Überraschung – das Studium der Werke Arendts nötig. Auch das, was die zahllosen Kritikerinnen und Kritiker geäußert haben, muss gelesen werden, um die Basis für eine Einschätzung zu legen. Den Anspruch hat ein Buch diesen Umfangs nicht.

Thomas Meyer bringt seinen Lesern den Lebensweg und die dabei entstandenen Werke Hannah Arendts näher. Dramatische Umstände, wie die Internierung in Frankreich und der Flucht vor dem Zugriff der Gestapo werden nur in einem knappen Absatz geschildert – mir ist das durch die schöne Graphic Novel Die drei Leben der Hannah Arendt von Ken Krimstein vertraut. Meyers Fokus liegt auf den Werken. Diese sind oft eng verknüpft mit dem, was die Autorin als Zeitgenossin aktiv miterlebte: Verfolgung, Flucht, Exil, Rückkehr, der Prozess gegen Eichmann in Jerusalem.

Der Name, der immer mit Hannah Arendt verbunden sein wird, ist Martin Heidegger. Recht typisch für eine untergründige, oft auch offene Frauenfeindlichkeit ist, dass in der Diskussion über Arendt immer wieder auf die intime Beziehung zwischen Lehrendem und Schülerin angespielt wird. Umgekehrt spielt das bei der Einschätzung von Heidegger keine oder nur eine untergeordnete Rolle.

Dabei ist das intellektuelle und persönliche Verhältnis durchaus ein interessantes Thema, wie Meyer zeigt, denn Arendt hat nach 1945 keine eindeutige Haltung zu Heidegger eingenommen. Das mag in der Gegenwart, in der Haltung zeigen oft eine größere Rolle als inhaltliche Stichhaltigkeit zugesprochen wird, noch mehr verwundern und Kritik herausfordern.

Man kann sagen, dass Arendts ganzes Denken ihrer bewussten Zeitgenossenschaft entstammt.

Thomas Meyer: Hannah Arendt

Während der Lektüre von Hannah Arendt wird klar, wie vielfältig (und unbekannt) das Werk der Denkerin ist. Weber schildert die Entwicklung von Person und Denken parallel zu den Veröffentlichungen. Der Liebesbegriff bei Augustinus steht am Anfang und ist insofern bezeichnend, dass eine wiederkehrende Kritik an Arendt ihre vorgebliche Fokussierung auf die Antike beinhaltet.

Arendts nächstes Werk war eine Biographie zu Rahel Varnhagen. Während der Arbeit entwickelte sich die Autorin nach eigener Einschätzung zu einem „jüdisch-politisch denkenden Menschen“. Bemerkenswert ist, dass sie Juden als aktiv „Handelnde“ in der Geschichte und nicht bloße Opfer betrachtet.

In diese Zeit fällt auch die Genese des spezifischen Tons von Hannah Arendt, der von einer spektakulär empfundenen Kompromisslosigkeit geprägt ist. Ihre Kritiker sahen das als „abfällig“ und „lieblos“, die Zitate zeigen eine beeindruckend gradlinige Ausdrucksweise. Die Autorin nahm an der Biographie, die kurz vor der Machtübergabe an Hitler fertiggestellt wurde, nach dem Krieg keine Änderungen vor.

Der Hauptteil des Buches beschäftigt sich mit dem zentralen und bekanntesten Werk Arendts: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Wie bei den anderen, noch folgenden (Vita activa, Über die Revolution, Eichmann in Jerusalem, Macht und Gewalt) bietet Thomas Meyers Buch einen kurzen Abriss über den Inhalt sowie die Rezeption. Es ist ein naturgemäß flüchtiges Kennenlernen, wie eine Art kommentierter Fahrplan, der einen Eindruck gibt und zum Selbstlesen animiert.

Mag sein, dass Arendt Analyse heute „völlig falsch“ erscheint, so wäre das Gegenteil angesichts der mittlerweile zu einem Gebirge angewachsenen Fachliteratur zu dem Thema auch ein Wunder. Meyer sieht in Arendt eine Wegbereiterin für die Forschungen auf dem Gebiet in den folgenden Jahrzehnten.

Angesichts der aktuellen politischen Entwicklungen stellt sich ohnehin die Frage, ob Naserümpfen wirklich angebracht ist, denn auch die „richtigen“ Erkenntnisse scheinen wenig geholfen zu haben, der Rückkehr des Totalitarismus einen Riegel vorzuschieben. Denn Ausschwitz und die Shoah waren einmalig, aber:

Was geschehen ist, hat die Menschheit insgesamt verändert, als Riss oder Zivilisationsbruch. Die Verbrechen leben als Möglichkeit fort. 

Thomas Meyer: Hannah Arendt

Das Zitat ist ein ebenso schönes wie beunruhigendes Beispiel dafür, wie anregend die Lektüre von Thomas Meyers Hannah Arendt ist.

Rezensionsexemplar

Thomas Meyer: Hannah Arendt
Die Denkerin des 20. Jahrhunderts
C.H.Beck 2025
Taschenbuch 128 Seiten
ISBN: 978-3-40683083-9

Richard Powers: Das grosse Spiel

Den vielversprechenden Ansatz kann der Roman nicht erfüllen. Cover Penguin, Bild mit Canva erstellt.

Durchaus vielversprechend beginnt der Roman Das große Spiel von Richard Powers. Der Leser reist nach Makatea im Pazifik, einem der zahllosen kleinen Eilande im größten Ozean der Erde. Makatea gehört zu den von Frankreich kolonisierten Gebieten, auf der Insel wurde über Jahre hinweg Salpeter abgebaut, die Mine hinterließ Narben, wenig Wohlstand und eine große Stille.

Für die wenigen verbliebenen Menschen auf Makatea hat der Rohstoff-Abbau nichts gebracht, eine globale Konstante auf der Welt, in der Konzerne den Rahm abschöpfen, verschwinden und die Folgen den Bewohnern überlassen. Die Insel wirkt wie ein zerschundenes Idyll, das wieder in den Fokus finanzkräftiger Unternehmen gerät. Statt Rohstoff-Raubbau geht es um etwas anderes, sehr Modernes. Für die Einwohner stellt sich die Frage, ob sie den Versprechungen Glauben schenken wollen oder nicht.

Was wie ein politisch angehauchter Roman beginnt und ökologische sowie hochtechnologische Aspekte zu berühren scheint, entfernt sich über lange Zeit von der Insel und erzählt erinnernd die Geschichte einer Freundschaft. Rafi und Todd tragen schwer an den Verletzungen, die ihnen in ihrer Kindheit zugefügt wurden. Auf dem langen Weg durch die sozialen Klüfte und Bildungslabyrinthe der USA freunden sie sich an. Die Leidenschaft für Spiele, Schach, Go und andere führt sie zusammen.

Schon recht früh im Roman ist klar, dass beide unterschiedliche Wege im Leben gegangen sind. Todd ist steinreicher Tech-Unternehmer, er erzählt einem (zunächst unbekannten) Zuhörer von seinem dahinwelkendem Leben; Rafi findet der Leser auf Makatea wieder, dort ist er mit Ina liiert, jener Frau, die aus der Zweier-Freundschaft eine kompliziertere mit drei Ecken macht.

Durch alle Gänge schienen die Maschinen mich anzubrüllen: Tu etwas! Mach etwas Großartiges mit mir!

Richard Powers: Das große Spiel

Powers hat durch diese Erzählstruktur in seinem Roman formal und inhaltlich das Spielfeld gewechselt, von Dame zu Mühle etwa. Für Schach oder Go reicht das Erzählte nicht, es bleibt viel zu oberflächlich. Das spürt der Leser besonders bei den Kapiteln, die von Evelyne Beaulieu handeln. Bis zum Ende ist unklar, was sie eigentlich darstellen soll, Figur und Leben bleiben unscharf.

Der Erzähler behauptet zwar, sie sei Forscherin, geschildert werden aber Tauchgänge, die sich (und den Leser) in glanzvollen  Schilderungen erschöpfen. Man soll staunen, nicht lernen. In einem Abschnitt wird Evelyne von zwei Tauchern begleitet, die sie (!) für ein Magazin ablichten sollen, während ein Schiffsfriedhof mit den Hinterlassenschaften einer Seeschlacht im Zweiten Weltkrieg besichtigt wird. Sie ist eine Art Tauch-Barbie im Unterwasserparadies.

In pathetischen Worten wird die Wunderwelt auf den zerstörten Schiffen und ihren Maschinen geschildert, Gehaltvolles erfährt man hier nicht und sonst nur enttäuschend wenig. Das gilt nicht nur für die „Forschungen“, auch die Unternehmungen, an denen sie teilnimmt, werden in derart überschwänglichen Worten weichgezeichnet, dass die Glaubwürdigkeit leidet. Die groteske Ehe, mit Kindern, die dem Zerrbild von Fernsehwerbung näher als dem Leben sind, verstärken das Bild: Evelyne ist eine in Unwirklichkeiten versponnene Kunstfigur, die seltsam leer und leblos bleibt.

Es gab Fakten zum selber Verdrehen.

Richard Powers: Das große Spiel

Das wirkt auf die bildstarke Sprache von Powers zurück, die angesichts fehlender Substanz in allen Erzählsträngen oft überzogen wirkt. Anfangs ist die sprachliche Gestaltungskraft des Autors beeindruckend, doch verhält es sich damit wie mit den Luftnummern einer Flugshow: Auch die schönsten Loopings, die atemberaubendsten Kunststücke ermatten auf die Dauer. Das gilt insbesondere für die Unterwasserszenen und jene wiederkehrenden Aufzählungen, die ermüden.

Das Finale fügt sich in das skizzierte Bild ein. Es verbietet sich, hier etwas über die sich abrupt wendende Handlung zu verraten. Alles in allem ist Das große Spiel ein enttäuschender Roman, der den vielversprechenden Ansätzen nicht gerecht wird. Obendrein wirkt der Schluss, insbesondere der Twist, konstruiert und aufgesetzt. Die »Gute-Nacht-Geschichte« ventiliert eine fragwürdige Weltsicht, bei der zu hoffen bleibt, dass sie als Märchen gelesen wird, denn weder Gott noch Super-KI werden die Menschheit retten. Das müssen wir schon selbst tun.

Richard Powers: Das große Spiel
Aus dem Englischen von Eva Bonné
Penguin 2024
Hardcover 512 Seiten
ISBN: 978-3-32860371-9

Ein Chateau in Frankreich

So beginnt der letzte Band der Buchreihe um die Piratenbrüder Joshua und Jeremiah – beim jetzigen Stand der Dinge jedenfalls. Es kann sich bis zur Veröffentlichung des Buches 2026 noch einiges ändern.

Auf dem Weg in die Bretagne machten wir 2016 in Blois für zwei Nächte Halt und besichtigten Chambord. Das war überwältigend. Dieser gewaltige Bau mit seiner genialen Wendeltreppe, den riesigen Räumen und weitläufigen Fluren, vor allem aber dem Dach, das wirkt, als habe jemand eine Art Spielzeugstadt aus reich verzierten Türmchen und Erkern errichten wollen.

Am Wochenende habe ich die Bilder von damals noch einmal herausgekramt und betrachtet. Was würden meine Piratenbrüder Joshua und Jeremiah wohl beim Anblick von Chambord denken? Joshua kennt aus England bzw. London prächtige Bauten, allerdings wäre dieses Chateau wohl trotzdem etwas Besonderes. Jeremiah ist in der Neuen Welt geboren und aufgewachsen, er wäre wohl überwältigt. Da müsste es nicht einmal Chambord sein, an der Loire stehen schließlich einige sehr prächtige Schlösser.

Was aber könnte Joshua und Jeremiah nach Frankreich führen?

Ein schier überwältigender Anblick: Chambord bei Blois.

Gegenwärtig sitzt ich an Opfergang – Piratenbrüder Band 7. Die Arbeit geht langsam voran. Pathetisch formuliert: Häuserkampf statt weitläufiger Durchbruch. Ich wühle mich Schritt für Schritt durch das vor drei Jahren fertiggestellte Rohmanuskript. Nichts davon bleibt so, wie es ist. Das meiste bereits Geschriebene streiche ich und schreibe die entsprechenden Passagen neu; einige Dinge schreibe ich um.

Ich weiß aus Erfahrung, dass ein Teil von dem jetzt Geschriebenen wahrscheinlich dem Rotstift im Lektorat zum Opfer fällt. Es ist auch durchaus möglich, dass der gesamte Teil, den ich jetzt verfasse, auf dem Manuskript komplett rausfliegt. Unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen. Umwege dieser Art gehören bei mir zum Schreiben dazu.

Anders ist diesmal im Vergleich zu den Vorgängerromanen, dass ich bereits jetzt lektorierend streiche. Mehrfach habe ich ganze Seiten am Tag nach ihrer Entstehung wieder gelöscht. Das ist neu. Ich erhoffe mir davon nicht weniger Arbeit im Lektorat, sondern mehr Kapazität für andere Verbesserungen.

Eines ist aber so wie immer und  wird sich aber wohl nie abstellen lassen: aufkeimende Panik wegen der verstreichenden Zeit. Denn die Uhr tickt unerbittlich, auch wenn es sich um eine Sanduhr handelt.

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