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Anne Applebaum: Die Achse der Autokraten

Auf die beiden Herren geht die Autorin in ihrem Buch auch ein, sie verbindet mehr als nur ein Handschlag. Cover Siedler Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Schon auf den ersten Seiten dieses Buches ist der Leser ein Stück klüger und orientierter. Anne Applebaum betont gleich zu Anfang von Achse der Autokraten, dass sich hartnäckig eine karikaturhafte Vorstellung vom Alleinherrscher an der Spitze eines autokratischen Staates hält. Putin, Ji, Lukaschenko, Erdogan, Trump – die Liste der gegenwärtigen Autokraten ist lang. Doch ein Autokrat allein macht keine Autokratie.

Autokratien sind Netzwerke mit kleptokratischem Geschäftsmodell, die sich auf einen vielschichtigen Apparat stützen: Armee, paramilitärische Verbände, Polizei und andere Sicherheitsorgane wie Geheimdienste, unterstützt von High-Tech- und IT-Experten, die sich um Propaganda und Desinformation kümmern. Die Netzwerke sind nicht auf ein Land beschränkt, sondern mit Netzwerken anderer Länder verbunden. Das können auch Netzwerke in Demokratien sein, es müssen nicht einmal antidemokratische Parteien wie AfD oder BSW, Teile von Union und SPD gehören eben auch dazu.

Man unterstützt sich mit Ausrüstung, Ausbildung, Informationen; man nennt Ziele und hilft bei der Durchführung von Kampagnen; Medien und Trollfarmen werden dafür eingesetzt. Oder man sorgt für einen positiven Leumund, leistet Hilfestellung bei der Umgehung oder Aufweichung von Sanktionen. Auch aus persönlichen Gründen, denn Autokraten und ihre demokratischen Satrapen sind oft superreiche Unternehmer. Es dürfte kein Zufall sein, dass superreich gewordene Entrepreneure nicht selten autokratische Affinitäten hegen.

Die modernen Autokraten bezeichnen sich als Kommunisten, Monarchisten, Nationalisten und Theokraten.

Anne Applebaum: Die Achse der Autokraten

Ideologie spielt anders als im 20. Jahrhundert für die Kooperation keine Rolle. Geld stinkt nicht, weder in der Geschäftswelt noch in der Welt der Autokraten. Machterhalt ist das primäre politische Ziel, die Untergrabung einer freiheitlichen und demokratischen Ordnung wäre andernfalls vielleicht auch gar nicht nötig. So aber gilt der freie Westen den Autokraten als Quelle für unerwünschte Inspiration für Widerstand gegen die alleinige, unkontrollierte Herrschaft.

Applebaum schildert auf schnörkellose und direkte Weite unsere Gegenwart, es geschieht seit Jahren und es geschieht jetzt. Einige Beispiele, Belarus und Venezuela, deren jüngste Geschichte skizziert werden, sind aus den Medien vertraut, die Akteure sind es ebenfalls. Doch geht die Autorin noch einen Schritt weiter und sagt mit einer Klarheit, die in oft verdruckst formulierenden Medien fehlt: Ohne die gegenseitige Unterstützung der Autokratien würde der Widerstand der eigenen Bevölkerung wohl ausreichen, um die alleinigen Herrscher zu stürzen.

Das ist ein Muster, was auch für den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine greift. Allein wäre Russland vielleicht schon in die Knie gegangen. So löchrig die Sanktionen auch sein mögen, so zögerlich und unzureichend die militärische und wirtschaftliche Unterstützung für die Ukraine auch ist, ohne die Hilfe anderer Autokratien, wäre Russlands Position sehr viel schwächer. Der Westen hilft der Ukraine also nicht nur gegen Russland, sondern gegen eine Achse der Autokraten.

Wie die Oppositionellen in Venezuela oder Belarus mussten sie allmählich erkennen, dass sie in der Ukraine nicht nur gegen Russland kämpften. Sie kämpften gegen die Achse der Autokraten.

Anne Applebaum: Die Achse der Autokraten

Bedeutend ist die Erkenntnis, dass Autokratien nur mit Hilfe des Westens an die Macht gelangen und diese konsolidieren können. Es sind westliche Technologien und vor allem das lückenhafte Regelwerk, die den Antidemokraten helfen. Ohne die Finanzierungsmöglichkeiten, etwa durch Geldwäsche, wäre die Macht von Autokraten wesentlich beschränkter, als sie es heute ist. Viele lassen sich einspannen, viele – nicht alle! – bezahlen, um Autokraten zu helfen.

Es sind nicht nur die autoritären Parteien, deren ideologische Zuschreibung als rechts oder links in diesem Punkt mehr verschleiert als erhellt; es sind nicht nur die Zuträger in anderen Parteien, die Einflussnehmer oder -agenten; es sind nicht nur die Interessenvertreter in Verbänden und Lobbyisten, die im Dienste der Putins, Mullahs und Xis stehen, sondern auch Anwälte, Banker, Gewerkschafter und Technologie-Oligarchen, die (fast) legal ihrer Tätigkeit nachgehen.

Hier sieht Applebaum auch einen Ansatzpunkt für die Wende im Kampf gegen die heraufziehende autokratische Dunkelheit: Regulierung. Die Autorin macht sich und ihren Lesern keine Illusionen. Das ist eine brutale Bergaufschlacht, deren Ausgang völlig ungewiss ist. In den USA weht der Wind in die entgegengesetzte Richtung. Doch nicht nur dort ist der Widerstand gegen gesetzliche Regulierungen groß. Ein Beispiel wäre die Verwendung von Bargeld in Deutschland beim Immobilienkauf, eine offene Tür für Geldwäsche, deren Einschränkung von mächtigen und ruchlosen Zeitgenossen bekämpft wird.

Die moderne Auseinandersetzung zwischen autokratischen und demokratischen Gedanken und Praktiken ist keine direkte Fortsetzung dessen, was wir im 20. Jahrhundert erlebt haben.

Anne Applebaum: Die Achse der Autokraten

Zu den ganz besonders spannenden und ernüchternden Abschnitten gehört jener, der sich mit den Veränderungen autokratischer Herrschaft und Herrschaftssicherung befasst. Applebaum erklärt anhand mehrerer Beispiele, wie und was die Autokraten gelernt haben. Zumindest die Vorgänge in Hong-Kong dürften politisch Interessierte verfolgt haben. Die Aktivisten dort haben laut Applebaum sehr vieles richtig gemacht, vergangene Kampagnen studiert und an die lokale Lage angepasst. Sie haben auch gelernt – und sind krachend gescheitert.

Wenn man liest, wie es den Chinesen gelungen ist, die studentische Bewegung in Hong-Kong niederzuwerfen, wird es ungemütlich. Da ist zum einen der Anfang der 1990er Jahre vorherrschende Glaube, die demokratische Regierungsform werden sich quasi von allein durchsetzen. Das »Ende der Geschichte« (Fukuyama) hat sich als verhängnisvolle Illusion entpuppt, an der sich bis in die Gegenwart politische Parteien wie Teile der SPD klammern. Das Konzept »Handel durch Annäherung« oder später »Handel durch Wandel« ist mausetot, geistert aber als Wiedergänger durch die Berliner Korridore der Macht.

Das Beispiel Hong-Kong zeigt auch, wie sehr die Anhänger demokratischer Prinzipien die Lernfähigkeit der Autokraten und die Verlockung des Autoritären an sich unterschätzt haben. Die Autokraten sind überlegen. Sie nutzen die Möglichkeiten geschickter und ruchloser als westliche Demokraten. Ihre mediale Durchdringung Afrikas, des Mittleren Ostens, Südamerikas  zum Zwecke von Propaganda, Desinformation und Destabilisierung ist mächtiger als der naive Glaube, mit seriösen Nachrichten allein werde man bestehen.

In unseren alten Modellen ist kein Platz für die Einsicht, dass mansche Menschen Desinformationen wollen. Sie finden Gefallen an Verschwörungstheorien und haben wenig Interesse an zuverlässigen Nachrichten.

Anne Applebaum: Die Achse der Autokraten

Faktenchecks bringen nicht mehr viel, wenn eine Lüge in der Welt ist – was auch große, überregionale Medien, Tagezeitung und Öffentliche-Rechtliche-Medien nicht wahrhaben wollen. Sie lassen sich sogar ausnutzen, werden Plattformen, über die Propaganda in die Breite getragen und mit einem seriösen Anstrich versehen wird. Präventive Gegenkampagnen wären nötig, eine strategisch gezielte Medien-Öffentlichkeit (nicht gespiegelte Propaganda), die von den Menschen auch bezahlt und zur Kenntnis genommen werden kann, wären nötig.

Dem wirkungsvollsten Mittel, der Schmutzkampagne, wird man selbst damit nicht so einfach Herr. Es ist in Deutschland zu beobachten, wie selbst formal demokratische Politiker die Schmutzkampagne zur Bekämpfung des politischen Gegners benutzen, von den offen autoritären und antidemokratischen Parteien und Gruppierungen gar nicht zu reden. Eine Regulierung des wuchernden Lügen- und Desinformationsgeschwürs wird man allein deswegen nur sehr schwer durchsetzen können.

Applebaum weiß das auch. Daher klingt ihre Schrift auch sehr kämpferisch. Ähnliches kann man bei Über Freiheit von Timothy Snyder lesen. Beide beziehen sich übrigens auf Vláclav Havel und seinen Essay Versuch, in der Wahrheit zu leben. Da die Gegner seit Havels Zeit gelernt haben, müssen die Freunde von Freiheit, Wahrheit und Demokratie auch lernen und neue Strategien entwickeln. Eine Bergaufschlacht, die nicht endet und deren Ausgang völlig ungewiss ist.

[Rezensionsexemplar]

Anne Applebaum: Die Achse der Autokraten
Korruption, Kontrolle, Propaganda: Wie Diktatoren sich gegenseitig an der Macht halten
Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer
Siedler Verlag 2024
Hardcover 208 Seiten
ISBN: 978-3-8275-0176-9

Leonardo Padura: Anständige Leute

Kuba im Ausnahmezustand: 2016 besucht US-Präsident Barack Obama die Insel, auch die Rolling Stones haben sich angekündigt. Die Polizei ist überlastet, Mario Conde soll aushelfen, einen Mord aufzuklären. Cover Unionsverlag, Bild mit Canva erstellt.

Mario Conde nimmt im Erzähluniversum von Leonardo Padura eine ganz besondere Stellung ein. Im Havanna-Quartett ist Conde als Ermittler der kubanischen Polizei tätig, gibt diese Tätigkeit im letzten Band jedoch auf. Er begegnet dem Leser in zahlreichen späteren Romanen wieder, als Buchhändler etwa, vor allem jedoch als ein Bewohner der Insel Kuba, der versucht, am Leben zu bleiben und irgendwann einen Zugang zum Schreiben zu finden. Selbst in jenen Erzählwerken, die nichts mit Conde zu tun haben, wird er wenigstens erwähnt, sogar im Opus Magnum Paduras, Der Mann, der Hunde liebte.

Der Leser von Paduras Romanen erlebt einen wesentlichen Teil der jüngeren Geschichte Kubas an der Seite Mario Condes mit, unternimmt jedoch immer wieder weite Ausflüge in die Vergangenheit. Die Insel in der Karibik ist auf überraschend vielfältige Weise direkt oder indirekt mit der Geschichte anderer Welt-Regionen verbunden. So lebt und stirbt der Mörder Leo Trotzkis dort; Hemingway war dort, natürlich, aber auch zeitlich und räumlich weit auseinanderliegende Dinge im Erzählwerk Paduras werden motivisch miteinander verknüpft: Rembrandts Schüler in Amsterdam 1648, das Drama um jüdische Flüchtlinge auf der St. Louis 1939 und ein verschwundenes Mädchen im Jahr 2007 im Roman Ketzer

Kuba ist seit Jahrzehnten ein wenigstens autoritär geführtes Land, das den Sozialismus als ideologisches Aushängeschild führt. Leonardo Paduras Romane beschreiben viel der Lebenswirklichkeit auf Kuba, ohne politisch in dem Sinne sein zu wollen, dass sie dieser oder jener politischen Richtung, Ideologie, Partei das Wort reden. Selbstverständlich bleibt alles dennoch stets politisch. Der jeweilige Fingerzeig ist auch ohne pathetisches J´accuse …! offenkundig. Wozu auch, denn Padura hat einen ganz eigenen Weg gefunden, sich zu den Dingen zu äußern. 

Italien ist von hier aus mindestens so weit weg wie der Mond.

Leonardo Padura: Anständige Leute

Zu Beginn des Romans Anständige Leute ist Mario Condes Leben wieder einmal in Aufruhr. Seine Freundin Tamara steht davor, das Land zu verlassen, sie will nach Italien, wo Verwandte leben. Ihre Rückkehr ist ungewiss. Die Flucht aus den bedrückenden Umständen Kubas gehört auch zu den wiederkehrenden Motiven von Paduras Romanen, etwa Wie Staub im Wind. Diesmal kehren einige im Ausland lebende Kubaner zurück, darunter Freunde Condes, aber auch zwielichtige Gestalten mit unredlichen Absichten. 

Obendrein stehen große Ereignisse an, denn Barack Obama und die Rolling Stones wollen die Insel besuchen. Ich erspare mir zeitgeschichtliche Erklärungen, warum Obamas Visite eine andere Qualität hatte, als der Besuch eines deutschen Regierungschefs in Frankreich. Conde hat einen für ihn überlebenswichtigen Nebenjob angenommen, als Aufpasser in einer hippen Lokalität hat er ein Auge auf Drogenkonsum. Er wird dort Zeuge, dass Ausländer, Touristen und manche Einheimische abendlich so viel Geld auf den Kopf hauen, wie gewöhnliche Inselbewohner über Wochen zum Leben ausgeben. Kuba wandelt sich, zumindest teilweise weht eine frische Brise, und die Frage stellt sich, wie weitgehend oder dauerhaft der Wandel sein werde.

Eine kleine Pause zwischen einer dunklen und einer düsteren Zeit.

Leonardo Padura: Anständige Leute

Die Antwort, die Conde auf die Frage gibt, ist pessimistisch, in seiner Eigensicht aber realistisch. Der Grund für diese Haltung liegt in der Vergangenheit, der eigenen wie auch der weiter zurückliegenden Kubas. Folgerichtig springt die Handlung des Roman zurück in die Zeit des ausgehenden neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts, den Jahren des Befreiungskampfes und der Selbstbehauptung gegen die Spanier und die USA. Erzählt wird von einer »verrückten und schmerzhaften Zeit, die in gewisser Hinsicht immer noch anzudauern schien.«

Padura spannt den erzählerischen Bogen weit und nutzt die unerfüllten schriftstellerischen Neigungen seiner Hauptfigur, um eine Verbindung herzustellen. Conde beschäftigt sich nämlich mit den Herren Arturo Saborit und Alberto Yarini, einem Polizisten, »der sich für anständig hielt«, und einem Zuhälterkönig, der zum Mythos geworden ist. Auf Yarinis Grab liegen noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts frische Blumen, wie Conde erzählt.

Das ist nur eine Verbindung von der Gegenwart in die Vergangenheit. Yarini, der Zuhälter, will hoch hinaus in der Politik, die bereits von jenen Übeln befallen ist, die auch über einhundert Jahre später auf Kuba vorherrschen. Allgegenwärtige Korruption und Misswirtschaft, begangen auch von den Helden des Befreiungskrieges, die zu Blutsaugern an jenem Staat wurden, für den sie gekämpft hatten. Polizist Saborit ist gegen die Verlockungen keineswegs gefeit, trotz seiner Eigensicht, »anständig« zu sein.

Die Parallelen zu den sozialistischen Revolutionären Kubas des 20. Jahrhunderts liegen auf der Hand, die Vergangenheit ist ein Schwarzer Spiegel für die Gegenwart. Man kann das sehen, etwa am Nebeneinander von bitterster Armut und Reichtum in Gestalt von Häusern und Wohnungen. Für das Kuba Mario Condes gilt, was Arturo Saborit in einen Erinnerungen über die eigene Zeit zu berichten wusste. 

Sein Heimatland bestand in Wirklichkeit aus mehreren Ländern, deren Lebensqualität sich stark voneinander unterschied.

Leonardo Padura: Anständige Leute

Das wiederum ist mit den Idealen der kommunistischen oder sozialistischen Ideologie unvereinbar, die Gleichheit, Progressivität und Überlegenheit postuliert. Und doch ist genau das Realität, was angeblich überwunden sein sollte. Paduras Anständige Leute wirf also die ganz große Frage auf, ob es überhaupt so etwas wie einen Fortschritt gibt oder ob (auf Kuba) alles im Kern nicht so geblieben ist, wie es lange vor der Revolution schon war. Die schamlose Selbstbereicherung der Herrschenden auf Kosten des Gemeinwesens ist nur eine Facette, die Abgründe reichen tiefer.

Ein Toter namens Reynardo Quevedo bringt die Handlung in Gang, denn die Suche nach dem Mörder ist selbstverständlich mit dessen Vergangenheit und der Kubas eng verschlungen. Mario Conde wird von seinem alten Kollegen Manolo um Mithilfe bei der Aufklärung gebeten, weil die Sicherheitsorgane wegen des Besuchs von Obama bis an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit beansprucht sind. Conde springt in die Bresche und dringt auf der Suche nach dem Täter immer weiter vor, mitten hinein in die – pardon – »Scheiße«.

Das also war der Bluthund, den die, die im Land das Sagen hatten, zur Aufrechterhaltung der ideologischen Reinheit auf die Bewohner der kubanischen Republik der Künste angesetzt hatten.

Leonardo Padura: Anständige Leute

Der ermordete und verstümmelte Quevedo war als »Zensor« oder »Großinquisitor« des Castro-Regimes tätig. Er verfolgte von der Leitlinie abweichende Künstler, stellte sie kalt, demütigte sie und trieb sie sogar in den Tod. Dabei presste er den von ihm Gegängelten ihre Werke ab und häufte ein kleines Vermögen an, denn die Kunst der Verfolgten war – außerhalb Kubas – harte Devisen wert. Gleichzeitig wurde er vom Regime mit Privilegien und Ehren bedacht, äußerliche Loyalität ist nämlich die wichtigste Währung des Totalitarismus.

Quevedo besitzt eine teure Wohnung mitten im Elend des Sozialismus, er hat die »Sonderperiode« (ein verharmlosender Begriff für Knappheit und Hunger) überstanden und lebt gut, trotz der Unfähigkeit des Staates, die Bevölkerung auch nur mit dem Nötigsten zu versorgen und den Verfall der Infrastruktur zu stoppen. Im eigenen Haushalt wird die Bedienstete zwar »Genossin« geheißen, obschon sie nichts anderes als eine Dienerin ist.

Bigotterie und Doppelzüngigkeit gehen noch ein Stück weiter. Totalitäre Regime, auch wenn sie sich progressiv oder sozialistisch oder kommunistisch nennen, sind oft homophob. Schon in seinem Roman Labyrinth der Masken hat Padura das Motiv aufgegriffen. In Anständige Leute nimmt er mehrfach darauf Bezug, eines der Opfer Quevedos, ein Theaterautor namens Marqués, spielte in Labyrinth der Masken eine wichtige Rolle.

Bring den Rum, verdammt, das muss gefeiert werden. Sie haben das Arschloch umgelegt!

Leonardo Padura: Anständige Leute

Angesichts der Schandtaten Quevedos ist diese Reaktion nicht weiter überraschend, eher die Offenheit, mit der die Freude über den Tod des ehemals Mächtigen geäußert wird, denn das Herausposaunen der Zufriedenheit über das gewaltsame Ableben des verhassten Apparatschiks macht verdächtig. Es ist naheliegend, dass die Tat aus dem Motiv der Rache ausgeführt wurde, in dieser Richtung ermittelt Conde selbstverständlich. 

Spätestens an diesem Punkt stellt sich ihm und dem Leser die Frage nach der moralischen Bewertung der Mordtat. Ein zutiefst unanständiger Zeitgenosse, der durch seine Tätigkeit das Leben von Künstlern ausgelöscht hat, indem er ihnen die Möglichkeit nahm, ihre Kunst auszuüben und dem Leben den Sinn, die Grundlage raubte,  wurde das Opfer einer Gewalttat.   Möchte man eigentlich, dass der Mörder gefunden wird?

Anständige Leute ist weniger die Auseinandersetzung mit der Frage, ob man in einem unanständigen, autoritären, menschenverachtenden Unrechtsstaat anständig sein kann oder – etwas weiter gefasst: ob das in einem schwierigen politischen und gesellschaftlichen Umfeld überhaupt möglich ist. Padura zielt eher auf eine Konfrontation des Lesers mit dem Wort »anständig« und seinem Gebrauch ab.

Im lexikalischen Sinne meint »Anstand« ein gutes, vielleicht schickliches Benehmen, mit dem man keinen Anstoß bei anderen erregt. Anstand ist also relativ, abhängig davon, wer das Verhalten eines Menschen wertet. Das gilt für alle Menschen, Gesellschaften und Institutionen, insbesondere jene, die auf einer totalitären Ideologie fußen.

Anstand ist in diesem Fall häufig eine Form des Konformismus, der völlig unmenschliche, ungesetzliche und sogar gegen die eigenen Regeln verstoßende Handlungen aber durchaus duldet, so lange der äußere Schein gewahrt werden kann. Quevedo ist in dieser Hinsicht ein Idealtyp dieses »Anstands«, innerhalb »des finsteren Innenlebens einer inquisitorischen Welt.«

Für viele Künstler war diese Zeit wie ein Aufenthalt in der Hölle, aus der oftmals jede Erlösung zu spät kam.

Leonardo Padura: Anständige Leute

So folgt der Leser also der Handlung in diesem wunderbaren Roman, der auf beiden Zeitebenen unterhaltend, spannend und wendungsreich ist, auch was die Auflösung des Falles oder der Fälle anbelangt. Denn auch in der Vergangenheit, also der Gegenwart von Saborit und Yarini, beschäftigt ein gruseliger Mord mit einer verstümmelten Leiche die Zeitgenossen und die professionellen Ermittler. Auch das ist eines der vielen verbindenden Motive über die Jahrzehnte hinweg.

Rezensionsexemplar.

Leonardo Padura: Anständige Leute
Aus dem Spanischen von Peter Kultzen
Unionsverlag 2024
Gebunden 400 Seiten
ISBN: 978-3-293-00621-8

Leonardo Padura: Das Meer der Illusionen

Der letzte und beste Teil des Havanna-Quartetts um Teniente Mario Conde. Cover Unionsverlag, Bild mit Canva erstellt.

Während der Lektüre habe ich mir oft die Frage gestellt, warum dieser Kriminalroman so viel charmanter, tiefgründiger und unterhaltsamer ist als seine deutschen Pendants, die ich zuletzt gelesen habe. Eine Antwort darauf ist, dass es sich gar nicht um einen Krimi handelt, obwohl die Hauptfigur Teniente Mario Conde als Polizist arbeitet und einen Mordfall aufzuklären hat. Das Meer der Illusionen ist vor allem Literatur, die sich mit grundlegenden Fragen des Lebens befasst.

Ein Toter wird aus dem Meer gefischt, er wurde mit einem Schlag auf den Kopf getötet und obendrein kastriert. Bei dem Mann handelt es sich um einen Rückkehrer, einst ein hohes Tier der kubanischen Elite hat er sich bei einem Aufenthalt in Spanien abgesetzt und der Insel eigentlich für immer den Rücken gekehrt. Eine der wesentlichen Fragen, denen der Ermittler Conde nachgehen muss, ist das Motiv der Rückkehr nach Kuba, eine sehr ungewöhnliche Handlungsweise.

Kuba ist ein Land, das – im Gegensatz zum Mauer- und Todeszaun-Staat DDR – eine natürliche Umzäunung hat: das Meer. Trotz gewaltiger Gefahren machten und machen sich Menschen auf, um die Insel zu verlassen, alle in irgendeiner Form von der Idee beflügelt, es anderswo besser zu treffen als im nicht enden wollenden Mangel. Wie bereits der Buchtitel andeutet, trifft diese Absicht auf Hindernisse, die nicht einfach und manchmal auch gar nicht überwindbar sind.

Das Motiv des Fortgehens durchzieht mehr oder weniger intensiv alle Romane Paduras, kein Wunder, ist es doch ein ganz wesentliches Element des Lebens auf Kuba, spätestens seit der Revolution. Diese hat viele Begüterte aus dem Land getrieben, selbstverständlich konnten diese nicht alles mitnehmen in ihr neues Leben; umfangreiche Enteignungen folgten und da autoritäre Regimes generell anfällig für Korruption sind, tat sich ein weites, kriminelles Feld auf.

Meine Geschichte beginnt auch vor langer Zeit, aber ich kann sie euch erst jetzt erzählen … weil ich nämlich heute bei der Arbeit gesagt habe, dass ich aus Kuba fortgehe.

Leonardo Padura: Das Meer der Illusionen

Leonardo Padura benutzt die Form des Kriminalromans, um seinen eigenen thematischen Interessen nachzugehen: die Schilderung des kubanischen Lebens. Er erlaubt sich stilistische Brüche, Monolog-Passagen, in denen er Personen ausführlich zu Wort kommen lässt. Eine Wortmeldung wirkt wie eine Art Treibanker in der Geschichte der Insel Kuba, die ins 16. Jahrhundert, eigentlich sogar noch einmal eintausend Jahre weiter zurückreicht, in die Zeit des alten China.

Wie das mit dem Kuba Ende des zwanzigsten Jahrhunderts zusammenhängt, macht deutlich, dass die Insel in der Karibik vielfältig mit der Welt verwoben war, ist und immer sein wird. Kuba gehörte zum spanischen Weltreich, wie ganz Süd- und Mittelamerika, aber auch die Philippinen; Orte, die wichtige Bestandteile im globalen Handel darstellten, eine Art Lieferkette, um die spanische Krone mit dem dringend benötigten Gold und Silber zu versorgen.

Dieser Ausflug in die Geschichte es so typisch für Paduras Romane, in denen Geschichte und Gegenwart unlösbar miteinander verschlungen sind. Das ist auch – gewollt oder nicht – ein Gegenbild zur isolierten Insel unter der Fuchtel der ewigen Castro-Diktatur. Der Monolog-Treibanker liefert dem Roman und der Auflösung des Mordfalles die nötige Tiefe – und das wäre der zweite Grund, warum Paduras Kriminal-Romane so gut erscheinen: Tiefe wird nicht vorgeschützt, sie ist tatsächlich da, für den Leser spürbar.

Das Meer der Illusionen vermittelt dank seiner erzählerischen Qualität eine Menge Atmosphäre. Ein Sturm rast auf Kuba zu, wie jedes Jahr im Frühling und Herbst, was Padura zu schönen, dichten Schilderungen animiert. Überhaupt stößt man immer wieder auf wunderschöne Formulierungen, wenn Conde etwa Bücher über sozialistische Ökonomie erspäht, die im Regal staubbedeckt dösen. Die für mich schönste ist eine Reminiszenz an Kafka und seine Erzählung Die Verwandlung:

El Conde zündete eine Zigarette an, nachdem er seine große Morgentasse Kaffee getrunken hatte, den einzigen Zaubertrank, mit dessen Hilfe es ihm gelang, sich von dem Käfer, der er nach jedem Aufwachen war, wieder in einen Menschen zurückzuverwandeln.

Leonardo Padura: Das Meer der Illusionen

Vor allem aber sind die Personen nicht prätentiös. Sie geben nicht nur nur vor, etwas zu sein, sie sind es. Hauptfigur Mario Conde sitzt in einem falschen Leben als Polizist fest, wäre er doch gern Schriftsteller, der etwas Untergründiges und Berührendes schreibt, eine unerfüllte Sehnsucht, fern der Verwirklichung. Sein Freundeskreis, der familiären Charakter hat, besteht aus Menschen, die jeder für sich eine sehr authentisch wirkende Geschichte hat.

Es sind Menschen, keine Figuren. »Der Dünne« etwa, ein schwer übergewichtiger Mann in einem Rollstuhl, an den er gefesselt ist, seit ihm in Afrika, in Angola eine Kugel das Rückenmark verletzt hat. Kubanische Truppen haben dort, fern der Heimat, einen brutalen Stellvertreterkrieg geführt, der lange nach dem letzten Schuss verheerende Folgen zeitigt.

Kuba ist voll von solchen Geschichten. Die verfluchte Revolution, die in Gestalt von Che Guevara noch immer in linken Kreisen auf naive Weise verherrlicht wird, folgte auf eine ebenso verfluchte Diktatur, der keineswegs weniger verfluchte politische Zustände vorangingen, dieser Umsturz ist bis in die Gegenwart bestimmend. Für jene, die auf der Insel ausharren, wie auch für alle, die gegangen sind.

Das Flucht-Motiv, das Padura in einem eigenen Roman Wie Staub im Wind noch einmal ausführlich und unter andere Vorzeichen durchdekliniert hat, spielt in Das Meer der Illusionen auch eine zentrale Rolle. Hier liegt der Schlüssel für die Lösung des Mordfalles, im Detail, aber auch allgemein, denn viele Gewalttaten auf Kuba gehen auf Folgen des Fluchtdranges zurück.

Das alles ist in diesem wundervollen „vorgeschützten“ Kriminalroman zu einer sehr lesenswerten Geschichte verdichtet worden, spannend, tiefsinnig, wendungsreich, so vertraut und gleichzeitig neu. Literatur im Gewand eines Krimis.

Leonardo Padura: Das Meer der Illusionen
Aus dem kubanischen Spanisch von Hans-Joachim Hartstein
Unionsverlag 2006
Taschenbuch 288 Seiten
ISBN 978-3-293-20374-7

Leonardo Padura: Wie Staub im Wind

Ein großer Roman des kubanischen Schriftstellers, der eines der zentralen Themen unserer Zeit berührt: Migration. Cover: Unionsverlag. Bild: Canva.

Dieser Roman ist wie ein Paket, kunstvoll verschnürt, verklebt und darunter viele Schichten, Kartons und Kästchen. Das alles öffnet sich Seite für Seite vor den Augen des Lesers. Ein Enthüllungsroman, der manchmal wirkt, wie ein Krimi ohne Detektiv oder Kommissar, und dabei viele Themen unserer Zeit berührt. Im Mittelpunkt steht eines der ganz großen: Migration.

Der Klappentext von Wie Staub im Wind gibt die Marschrichtung für die Leser vor, indem er auf »Geheimnisse« verweist, die nach langen Jahren ans Licht kämen. Trotz eines Toten, verschiedener Fluchten und einer zerbrechenden Freundesgruppe handelt es sich jedoch nicht um einen Krimi, statt Kommissar und Polizeiarbeit folgt man einem vielfach gewundenen Weg einer Handvoll von Kubanern.

Durch die wirklich bemerkenswerte Struktur des Romans, seine ineinander verschlungene Multiperspektivität und zeitliche Vielschichtigkeit, kann Padura Ursache und Wirkung, Schuld und Folgen wunderbar gegeneinander stellen und den Leser direkt erleben lassen, was die Figuren viele Jahre mit sich herumtragen. Insofern weckt das Wort »Geheimnis« vielleicht Erwartungen, die enttäuscht werden, denn Handlungsspannung ist rar.

Die wichtigsten Personen sind Teil eines »Clans«, eines Freundeskreises, der zersprengt wird. Die Gruppe gehört anfangs eindeutig zur »sozialistischen«, kubanischen Gesellschaft, die jedoch trotz ihres geographisch und politisch insularen Charakters fest verwoben ist mit der globalen Entwicklung. Der Mauerfall von Berlin wirkte dort wie der Einschlag eines Kometen, der Schockwellen ausgelöst und keineswegs überall Begeisterung ausgelöst hat.

»Schau doch, was in Berlin passiert ist. Wir haben geglaubt, den Deutschen dort ginge es gar nicht so schlecht. Weißt du, dass sie nicht bloß die Mauer eingerissen haben? Sie haben auch die Stasiarchive gestürmt, und jetzt kann jeder nachlesen, von wem er bespitzelt und verpfiffen wurde.«

Leonardo Padura: Wie Staub im Wind

Auf Kuba wurde Fidel Castros Herrschaft nicht gebrochen. Da die Insel aber nach dem Fall der Sowjetunion allein im Weltgeschehen bestehen musste, gelang das nur auf Kosten gewaltiger Entbehrungen für die Bevölkerung und unter Einsatz repressiver Mittel. Die Kubaner gehören in gewisser Hinsicht zu den Verlierern, ja: Opfern des Mauerfalls.

Selbstverständlich ist Wie Staub im Wind eine scharfe Kritik an den politischen Verhältnissen auf der Insel, die – ideologisch betoniert – für die Bevölkerung Jahre an Elend und Leid mit sich brachten. Hunger, schlechte medizinische Versorgung, grassierende Korruption, wirtschaftliche Stagnation, Verfall, Auswanderungs- und Fluchtwellen – alles wird anhand der Lebensläufe der Protagonisten hautnah erfahrbar.

Warum verließ jemand sein Heimatland, ohne es zu verlassen?

Leonardo Padura: Wie Staub im Wind

Und doch geht Padura gleich mehrere Schritte weiter, manchmal mit haarsträubend direkten Äußerungen seiner Figuren, die aufgrund ihrer Schroffheit zum Nachdenken veranlassen. Es sei zu einfach, alles auf den Kommunismus zu schieben, meint eine von ihnen, denn die Menschen blieben unabhängig vom System immer die gleichen. Die Kubaner seien der größte Fluch des verfluchten Kuba.

Jene, die es schaffen, das Land zu verlassen, werden keineswegs automatisch zu glücklichen Menschen; Flüchtlinge stehen unter Druck und sind ungleich. Wenn sich etwa ein Kubaner in Florida bewusst wird, dass er im Gegensatz zu einem Flüchtling aus Haiti Glück gehabt hat, weil er aus Kuba kommt, wird deutlich, dass auch das Elend Hierarchie kennt.

Anderes kommt bekannt vor, ähnelt jenem, das etwa Deniz Ohnde oder Nina Haratischwili in ihren Büchern schildern. Der Flüchtling, der in seinem neuen Heimatland wirtschaftlich Fuß fasst, die Sprache sehr gut bis perfekt beherrscht, heiratet und so augenscheinlich ein Musterbeispiel von Integration sein sollte, ist und bleibt fremd (und wird so wahrgenommen), trotz seiner geradezu absurden Mühen.

»Katalanischer als die Katalanen sein und die eigene schäbige Herkunft vor sich selbst verstecken. Sich bei alledem niemals eingestehen, dass er nie ein echter Katalane sein würde, weder für sich selbst noch für die radikalen Rebellen, mit denen Montse verkehrte.«

Leonardo Padura: Wie Staub im Wind

Diese Dinge sind nicht nur in Deutschland so, sie betreffen nicht nur die Einwanderer mit türkischen oder russischen Wurzeln hierzulande, sondern beschreiben ein globales Phänomen der Migration. Vielleicht ein guter Anlass, die Debatten um diese Frage aus der deutschtümelnden Sonderwegs-Befangenheit zu lösen.

Padura stellt gleich am Anfang Fragen, die möglicherweise Beifall von der falschen Seite auslösen könnten, wenn diese denn solche Romane läsen. Warum jemand sein Heimatland überhaupt verlasse, ohne es zu verlassen? An seinem neuen Lebensort, Florida, ausschließlich die Gesellschaft von Kubanern, kubanische Kultur, Sprache usw. suche, in einer Art Parallelgesellschaft lebe, wie das Phänomen in Deutschland genannt wird.

So kamen sie letztlich nie endgültig im Exil an, blieben für immer auf der Flucht. Sie nährten sich von gehätschelten Erinnerungen und träumten das süße Trugbild einer Rückkehr, sei es tot oder lebendig. […] Wer hierher floh, wollte Flüchtling bleiben.

Leonardo Padura: Wie Staub im Wind

Ganz ähnliches kann man bei Haratischwili nachlesen. Faszinierend, dass etwas, das als typisch deutsch (und Versagen) wahrgenommen wird, im angeblichen Melting Pot USA ebenfalls anzutreffen ist. Und die Frage, früh im Roman gestellt, bekommt eine ganze Reihe von sehr unterschiedlichen Antworten, die allesamt menschlich sind und damit zwingend unbefriedigend.

Apropos unbefriedigend: Zu den wenigen Kritikpunkten an Wie Staub im Wind gehört ausgerechnet der »Clan«. Die Gruppe, die an mehreren Stellen als verschworener Haufen bezeichnet wird, habe ich dem Autor nicht wirklich abgenommen. Eigentlich sind die Fliehkräfte von Anbeginn an klar, ebenso die Bruchlinien, während das Verbindende seltsam unscharf bleibt. Das ist angesichts der großen Stärken des Romans aber zu verschmerzen.

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Leonardo Padura: Wie Staub im Wind
aus dem kubanischen Spanisch von Peter Kultzen
Unionsverlag 2022
Hardcover 528 Seiten
ISBN 978-3-293-00579-2

Leonardo Padura: Der Mann, der Hunde liebte

Der Roman des Cubaners Leonardo Padura gehört zu den drei besten, die ich je gelesen habe. Cover Unionsverlag, Bild mit Canva erstellt.

Wie bringt man jemanden dazu, einen Menschen zu töten? Auf diese Frage gibt es unzählige Antworten, abhängig davon, unter welchen Umständen der Tötungsakt vollzogen werden soll. Der cubanische Schriftsteller Leonardo Padura führt in seinem großen Roman vor, welchen Weg Ramón Mercader, der Mörder von Leo Trotzki, gegangen ist; oder besser: entlang getrieben wurde, denn erst eine massive Manipulation unter anderem seitens der eigenen Mutter sowie Mitarbeitern von Stalins Geheimdienst hat ihn zu der Bluttat befähigt.

Die Vielschichtigkeit der Charaktere in »Der Mann, der Hunde liebte« gehört zu den Stärken des Romans. Wenn ich Ramóns Mutter und Geheimdienst-Schergen den Schwarzen Peter im einleitenden Absatz zuschiebe, bleibt wenig Raum für Verständnis; ihr Antrieb zum Handeln ist aber ebenfalls vielschichtig, sie haben alle ihre Beweggründe, die sie aber auch als Waffe einsetzen, um ihr Ziel zu erreichen, oft verstärkt durch Lügen.

»Ich war gläubig, aber ich habe dich gezwungen, an Dinge zu glauben, von denen ich wusste, dass es Lügen waren.«

Leonardo Padura: Der Mann, der Hunde liebte

Padura hat zum Glück eine brillante Entscheidung getroffen und seinem Roman eine angemessen komplexe Struktur gegeben, statt sich nur auf die Geschichte des Mörders zu beschränken. Wer nun ein zähes Leseerlebnis befürchtet, sei beruhigt: Die Erzählung umschlingt den Leser unmittelbar und lässt ihn bis zum bitteren Ende nicht mehr los. Komplex heißt nämlich, dass schon die drei zeitlich getrennten, inhaltlich aber eng miteinander verwobenen Erzähllinien für eine immense Abwechslung und Spannung sorgen.

Das Endergebnis, der Tod Leo Trotzkis, steht mit der ersten Zeile des Romans fest, denn die ist nichts anderes als eine karge Zeitungsnotiz, gefolgt von dem Auszug eines Verhörprotokolls, in dem der Mörder schildert, wie er – mittels eines Eispickels – die Tat ausführt und wie – sehr wichtig! – Trotzki darauf reagiert. Diesen beiden Anfängen schließt sich die Schilderung einer Beerdigung an, nicht etwa des gemeuchelten Revolutionärs, sondern der nach langer Krankheit verstorbenen Frau des Erzählers namens Iván.

Kaum hatte Ramón Pawlowitsch den Hörer aufgelegt, hörte er wieder den Schrei.

Leonardo Padura: Der Mann, der Hunde liebte

Man stolpert also ein wenig in diese große Erzählung, ist verständlicherweise etwas verwirrt und orientierungslos – ein angemessener geistiger Zustand für diesen Roman. Denn für Iván, den – wie immer bei Padura – unvollendeten Schriftsteller, bricht durch seine Begegnung mit dem »Mann, der Hunde liebte« eine Welt zusammen. Der Zusammenbruch vollzieht sich langsam, streckt sich über Jahre und ist gewissermaßen eine Parallele zur Agonie des Sowjetreiches, ehe es schließlich innerhalb weniger Wochen implodierte.

Im Falle Iváns zerfällt sein Glaube an eine Ideologie zu Staub, während die Erkenntnis reift, über Jahre, Jahrzehnte hinweg belogen und betrogen worden zu sein. Als Kommunist auf der Insel Cuba unter dem Regime von Fidel Castro sah sich Iván als Mitstreiter für eine bessere und gerechtere Welt, was ihn übrigens sowohl mit Trotzki als auch mit dessen Mörder Ramón verbindet.

Ein naiver, zunächst aufstrebender Mitstreiter, dem das Regime auf brutale Weise klarmacht, dass es in Wahrheit um Konformismus geht und jede Form von Abweichung, ob gewollt oder unbewusst, erbarmungslos geahndet wird. Iván wird fast alles genommen, was sein Leben hätte ausmachen können – trotzdem ist die Konfrontation mit der Wahrheit, den unendlich brutalen, erbarmungslosen und zutiefst verlogenen Abgründen des Stalinismus auch für den Geschlagenen und Geprügelten ein tiefer Schock.

Den eigenen Glauben an eine gerechte Welt zu verlieren, ist eine Sache; die kommunistische Wirklichkeit als verlogene Hölle auf Erden zu durchschauen, eine ganz andere. Das verbindet Iván ebenfalls mit Trotzki und dem Attentäter Ramón. Alle drei machen eine Phase der Ernüchterung durch, der schmerzhaften Erkenntnis, dass ihre Träume nur als Alpträume realisiert worden sind.

Doch war meine erste Reaktion die, dass ich mir leidtat, ich und all jene, die an die in der damals untergegangenen Sowjetunion erreichte Utopie geglaubt hatten.

Leonardo Padura: Der Mann, der Hunde liebte

Padura doziert nicht. Er lässt den Leser miterleben, wie sich die drei Protagonisten Stück für Stück inmitten dieser grausamen Flut bewegen, abstrampeln und von ihr mitgerissen werden. Es ist auch ein Roman über mein ganz persönliches Herzensthema, wie der Einzelne  dem Phänomen namens Macht gegenübersteht. In Stalins Reich spielte das Individuum keine Rolle, auch wenn es sich mit vielen anderen zu Millionen aufsummierte; alles wurde dem Machterhalt untergeordnet, der vorgeblich dem Erreichen einer besseren Welt diente.

Während Iván und mit Abstrichen auch Ramón tatsächlich keinen Einfluss auf den Lauf der Dinge hatten, gilt das nicht für Leo Trotzki. Der ist selbst ein Massenmörder gewesen, ein roter Blutsäufer in himmelschreiendem Ausmaß. Auf sein Konto gehen – zum Erhalt der Macht – Entscheidungen, die Millionen Menschen in den Tod gerissen haben. Lange vor Stalins unmenschlichem Regime ist das (Lenins und) Trotzkis nichts anderes gewesen als eine erbärmlich verbrämte Schreckensherrschaft.

[…] und ohne Gesetz und Gnade eine rote Schreckensherrschaft zu installieren und mit Feuer und Schwert eine dahintaumelnde Revolution zu retten, die sich kaum noch auf den Beinen halten konnte.

Leonardo Padura: Der Mann, der Hunde liebte

Wie kann man einem solchen Monster anders als mit tiefgreifender Antipathie folgen? Paduras Kniff ist, dessen Geschichte in dem Augenblick beginnen zu lassen, da er selbst zum ohnmächtigen Opfer wurde und vor ihm ein langer, qualvoller Weg in Bedeutungslosigkeit und Tod lag. Vor allem aber dessen hellsichtige Klarheit über das Stalinregime und dessen irrsinnige politische Manöver, die mithalfen, Hitler an die Macht zu bringen und Franco den Sieg in Spanischen Bürgerkrieg einzufahren, wecken ein gewisses Maß an Respekt.

Ramóns Weg beginnt später, in jenem Spanischen Bürgerkrieg. Zwischen seiner und der Erzähllinie Trotzkis liegen zunächst Jahre, der zeitliche Abstand schmilzt peu á peu dahin, je näher sich die Handlung dem Attentat nähert. Padura hat keinen Thriller verfasst, obwohl die Spannung über das »Wie« des Tötungsaktes bleibt; es geht ihm um eine Entzauberung, die der Mord für Ramón, aber auch für die gesamte Sowjetideologie bedeutet. Pars pro toto – ein Akt stellvertretend für ein ganzes Weltbild, das von Menschenfeinden bis in die Gegenwart verfochten wird.

Iváns Perspektive, die sich immer wieder in diesen tödlichen Paartanz zwischen Trotzki und Ramon, Opfer und Mörder, (Massen-)Mörder und Opfer, hineinwindet, füllt die öde Polit-Phrase vom Lernen aus der Geschichte mit Leben. Schmerzhafte Entscheidungen und Prozesse sind unvermeidlicher Teil dieses Lernens, das sonst keins ist. Es verlangt Taten, die sich mit der gepflegten Ideologie nicht vereinbaren lassen.

Padura führt seinen Leser durch Szenen von abgründiger Beklemmung, er braucht die Folterkeller in Stalins Reich nicht zu betreten, es reicht, einem der Schauprozesse beizuwohnen. Besondere Intensität wohnt der letzten Wegstrecke inne, die der Mörder zurücklegt, ehe er das Attentat ausführt. Zu den Kuriositäten der Literatur gehört, dass Spoiler die Spannung keineswegs zerstören (müssen), im Gegenteil: Jeder weiß, dass der Mord gelingt, dennoch ist die einengende Spannung schwer erträglich.

»[…] und deswegen habe ich euch, meine Kinder, zu dem gemacht, was ihr seid: Kinder des Hasses.«

Leonardo Padura: Der Mann, der Hunde liebte

Ramón Mercader ist zu einem Killer ausgebildet worden, angefüllt mit Hass und auf vielfältige Weise manipuliert. Dennoch nagt der Zweifel an ihm wie eine gefräßige Ratte an einem Kadaver; er weiß, dass er eine Marionette geworden ist, er weiß, dass ihm der Tod droht, er spürt die Schwäche seiner Beweggründe und das knackende Eis unter seinen Füßen und trotzdem schreitet er zur Tat. Es mag sein, dass Wissen Macht ist; doch schützt es weder vor Ohnmacht noch vor Verbrechen.

Der letzte Teil des Romans trägt – anders als die ersten beiden – einen Titel: Apokalypse. Er trägt ihn zurecht, denn wie ein Hammer trifft auch den Mann, der Hunde liebte, die Erkenntnis vom tiefen Verrat an allem, was er geglaubt hat. Man stelle sich vor: Das gesamte Leben, alle Träume von einer gerechteren Welt, der Glaube an die Sowjetunion und ihre Führer zerfallen zu Asche, aus der wie ein Phönix eine blutgetränkte Wahrheit emporsteigt, die alle eigenen Opfer in Mittäterschaft verwandeln. Folgerichtig trägt das finale Kapitel den Titel: Requiem.

Leonardo Padura: Der Mann, der Hunde liebte
Aus dem Spanischen von Hans-Joachim Hartstein
Unionsverlag 2012
Broschiert 736 Seiten
ISBN 978-3-293-20579-6

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