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Schlagwort: Zweiter Weltkrieg (Seite 3 von 12)

Walter Kempowski: Alles umsonst

Die völlig unvorbereitete Flucht Anfang 1945 kostete Hunderttausende ihr Leben. Kempowski schildert eine Welt, die sich eingesponnen hat in ihre Unwirklichkeiten und die hereinbrechende Realität nur zögerlich annimmt. Das geht über die konkrete historische Situation weit hinaus. Cover btb, Bild mit Canva erstellt.

Unweit von Mitkau, einer kleinen Stadt in Ostpreußen, lag das Gut Georgenhof mit seinen alten Eichen jetzt im Winter wie eine schwarze Hallig in einem weißen Meer.

Walter Kempowski: Alles umsonst

Wer das ostpreußische Städtchen Mitkau auf einer Karte sucht, wird sie nicht finden. Walter Kempowski lässt seinen Roman Alles umsonst zum großen Teil in der Nähe einer erdachten Ortschaft spielen. Realitätsfern ist auch das in die Jahre gekommene Gut Georgenhof, in dem die Personen in Unwirklichkeiten versponnen ihre Tage verleben. Ihre letzten, denn die Handlung führt in den blutigen Januar 1945, in dem Millionen Soldaten und Zivilisten ihr Leben ließen.

Das Gut bewohnen Katharina von Globig, eine zugezogene, verträumte Schönheit, die Gutsbetrieb, Mitkau und der Region fremd geblieben ist. Sie ist verheiratet mit Eberhard von Globig, der wilhelminischem Beamtenadel entstammt und in der Wehrmacht als Offizier Dienst tut: Frankreich, Ukraine, Italien. Etappe statt Front, was sich im Raubkrieg mit wiederholt eintreffenden Paketen mit kulinarischen Köstlichkeiten niederschlägt. Trittbrett fahrende Kriegsgewinnler.

Zur Familie gehört noch das »Tantchen«, Helene Harnisch, eine Anverwandte aus Schlesien, die nach einem Bankrott im Georgenhof Unterschlupf gefunden hat und dort – gegen ein Taschengeld – defacto den Laden in Schuss hält, weil sie im Gegensatz zu Katharina nicht der Wirklichkeit entrückt ist. Sohn Peter ist ganz in seine Kindheit versponnen, seine Schwester Ida verstorben. Peter ist – wie alle anderen im Gut lebenden Menschen – isoliert, kränkelnd gehört er nicht der Hitlerjugend an; von Linientreue kann bei den von Globigs und ihrem Haushalt keine Rede sein.

Kriegsbedingt arbeiten Wladimir, ein Pole, Anna und Vera, zwei von Eberhard selbst angeworbene Ukrainerinnen, auf dem Hof. In einem nahegelegenen, ehemaligen Gasthof hausen zur Zwangsarbeit verpflichtete Europäer verschiedener Herkunft, Kriegsgefangene und Zivilisten. Regelmäßiger Gast im Georgenhof ist Lehrer Dr. Wagner, der sich um Peter kümmert, so lange die Schule für Flüchtlinge zweckentfremdet und geschlossen ist.

Auf der Straße fuhr ein einzelnes Auto in Richtung Mitkau rasch vorüber, dann folgten andere und schließlich Lastwagen, auch Panzer, einer hinter dem anderen, die Glasperlen der Lampe klirrten. Dann trat Stille ein.

Walter Kempowski: Alles umsonst

Die Erzählung setzt am 8. Januar 1945 ein, vier Tage vor Beginn der Großoffensive der Roten Armee, die innerhalb von drei Wochen von der Weichsel bis an die Oder vorrücken sollte. Noch herrscht die Ruhe vor dem Sturm, die niemandem recht geheuer ist, und trotzdem außer vereinzelten besorgniserregenden Gedanken keinerlei Vorbereitungen auf eine Flucht hervorruft. Dabei haben die von Bewohner des Guts schon eine Reisebescheinigung und könnten jederzeit aufbrechen, wo andere endlos auf die Genehmigung warten mussten, die – wenn überhaupt – kam, als es zu spät war.

Besucher kommen ins Haus, ein Ökonom, eine Geigerin, ein Wehrmachtssoldat, Flüchtlinge aus dem Baltikum und dem Osten Ostpreußens; sie erzählen, oft Lügen, machen Andeutungen über die im Osten begangenen Verbrechen, Andeutungen die im Hause von Globig niemand versteht. Die Gäste nehmen Essen und Gesellschaft gern an, sie übernachten dort, stehlen und machen sich wieder von dannen.

Die Leute auf dem Gut leben unter einem Damoklesschwert, das sie zur Kenntnis nehmen könnten; sie tun es nicht, auch wenn sie mit der Nase darauf gestoßen werden. Der Kontrast zwischen der lebensbedrohlichen Lage und der hauseigenen Unwirklichkeit lässt sich weder mit Dummheit, Propaganda noch Angst vor dem NS-Terror erklären, die Ignoranz ist etwas, das weit über die konkrete Situation hinausreicht.

Menschliches Verdrängen im Angesicht einer überwältigenden Katastrophe ist wahrlich ein grundlegendes Phänomen. Ausnahmen bestätigen die Regel, Hannah Ahrendt etwa, die 1940 beim Herannahen der Wehrmacht Chaos und Anarchie unter den französischen Behörden nutzte, um sich von ihrem Internierungslager zu entfernen. Viele andere blieben, warteten ab und starben.

›Sofort die Sachen packen und auf und davon! Ja? Wegfahren, alles stehen und liegen lassen … Gleich morgen früh! … Die Russen kommen!‹

Walter Kempowski: Alles umsonst

Der Leser des Romans weiß, was kommen, was über die Menschen hereinbrechen wird. Immer wieder wird daran erinnert, im Nebensatz, wie willkürlich eingestreut. Ein Fliegeralarm. Zur Front rollende Panzer. Eilig zurückgenommene Front-Lazarette. Gerüchte. Nebensächlichkeiten, beunruhigend, aber auch nur am Rande des vorwärts wälzenden Erzählstroms, den Erinnerungen, Gedanken und Beschäftigungen der Figuren.

Von einer Handlung kann man eigentlich nicht sprechen, eher von Nicht-Handeln. Für einen Leser wie mich ist diese Form hintergründiger Spannung kaum erträglich. Immer wieder möchte man den Personen zurufen, sie aufrütteln, aus ihrem Dornröschenschlaf der unbedarften Weltabgewandtheit wecken. Ein sinnloses Unterfangen, wie man weiß und Autor Kempowski perfide vorführt: Offene Warnungen führen zu groteskem Verhalten.

Erst einmal abwarten; nichts werde so heiß gegessen …; jemand werde schon sagen, was zu tun sei …; Ob man die Vorhänge waschen sollte, alles gründlich saubermachen, bevor man geht? So in etwa sind die grotesk anmutenden Gedankengänge, auch nach der zweiten, dritten Warnung und Ermunterung, schnellstmöglich das Weite zu suchen, sich in Sicherheit zu bringen. Für den Leser frappierend, denn er ahnt schon – nein, er weiß, dass kein gutes Ende naht. Der Titel des Romans, Alles umsonst, sollte unbedingt ernstgenommen werden.

Und der Mann in seinem Versteck dachte an die dunklen Tage, die vor ihm lagen. es war ja eigentlich ganz ausgeschlossen, daß er es schaffen würde.

Walter Kempowski: Alles umsonst

Auf kunstvolle Weise hat Kempowski das Schicksal seiner Figuren mit dem anderer verwoben. Da wären die Ukrainerinnen, Wladimir und die vielen fremden Arbeiter, die Gegenstand von vielen versteckten, subtilen und ganz offenen rassistischen Äußerungen sind, hinter denen sich das Grauen der völkischen Ideologie und des Vernichtungskrieges wie ein gewaltiger Schatten erhebt. Andeutungen reichen, um den Abgrund des Zivilisationsbruchs zu zeigen.

Doch wird ausgerechnet Katharina, die Weltfremde, vom Pastor Mitkaus um eine Gefälligkeit gebeten: Sie sollte für eine Nacht einen vor dem Regime Fliehenden aufnehmen. Als sie den warnenden Anruf ihres Ehemannes entgegennimmt, befindet sich dieser Mann gerade in ihrer Obhut. Beide Schicksalslinien kreuzen sich in dieser ebenso grotesken wie dramatischen Situation, das Leben ist aus mehreren Richtungen bedroht, gerade im Januar 1945, Gestapo, SS und Feldpolizei kennen keine Gnade.

Die Tragödie nimmt ihren Verlauf. Auch als an der Front tausende von Geschützen die Erde im Umkreis von vielen Kilometern zum Beben bringen, können sich die Bewohner des Georgenhofs nicht aufraffen. Die »Flucht« beginnt zur Unzeit, als die rasch vordringenden Sowjets den Weg ins Reich nach Westen bereits abgeschnitten haben. Nur das zugefrorene Haff und der Abtransport über See bieten noch seidenfadene Hoffnung.

Am Straßenrand lagen Tote, manche saßen erstarrt an einem Chausseebaum; Greise, die nicht mehr weitergekonnt hatten, und kleine Kinder.

Walter Kempowski: Alles umsonst

Kempowski schildert die ungeheuerlichen Umstände dieser überstürzten Flucht, das massenhafte Sterben mit unpathetischen, oft lakonischen Worten. Die ungezählten Toten sind Nebensächlichkeiten am Wegesrand, wie ein Echo der vorher nebensächlichen Frontgeräusche. Manche sind erfroren oder an Erschöpfung gestorben, andere wurden erhängt, weil sie angeblich Deserteure, Plünderer, Feiglinge wären.

Gelegentlich blitzt das Motiv der aus Russland durch Ostpreußen zurückflutenden Trümmer von Napoleons Grande Armée im Jahr 1812 auf. 1945 nimmt der Untergang apokalyptische Dimensionen an, eine Götterdämmerung ohne jedes schwülstige Pathos, wie ihn Nationalsozialisten jahrelang heraufbeschworen hatten. Der Tod kommt so gnadenlos und unspektakulär, im Halbsatz, im Nebensatz sterben Kempowskis Figuren.

Von der »Volksgemeinschaft«, einem weiteren wirklichkeitsfernen Propagandastück, ist nichts zu merken. Jeder ist sich selbst der Nächste. Das gilt auch für »Oberwart« Drygalski, einen stramm linientreuen Nachbarn der von Globigs, der schneidig seine Anweisungen mit einem »zoffort!« würzt. Er lässt seine Frau zurück und macht sich vor der herannahenden Front zurück. Eine wunderbare Figur, die den Leser vom ersten Augenblick an abstößt und über viele Kapitel enerviert. Ganz am Ende des Romans macht ausgerechnet Drygalski eine spontane, völlig unvermutete Tat – und der Leser taumelt schweratmend aus der Handlung.

Der Roman ist das erste Buch aus meinem Lesevorhaben Wiedergelesen – 4für2025

Walter Kempowski: Alles umsonst
btb Verlag 2006
Taschenbuch 384 Seiten
ISBN: 978-3-442-73736-7

Lesevorhaben Wiedergelesen – 4 für 2025

Vier der vielen Bücher aus meinem Regal, die ich bereits kenne, aber unbedingt noch einmal lesen und hier auf dem Blog vorstellen will.

Auch in meinem Regal stehen viele Bücher, die ich gern noch einmal lesen und auf meinem Blog vorstellen möchte. 2024 habe ich das genau einmal gemacht, mehr zufällig, weil ich auf die Umsetzung des genialen Romans Die Straße als Graphic Novel Die Strasse gestoßen bin.

Die Konkurrenz ist groß, Rezensionsexemplare, Geschenke, Spontankäufe (trotz Buchkaufdiät), Buchleihen (Stadtbiliotheken sind ein gefährlicher Ort!) und die vielen Bücher, die bereits gekauft wurden und endlich gelesen werden wollen, rangeln um das knappste aller Güter im menschlichen Leben: Zeit.

So also eine kleine extrinsische Motivation: 4rereadsfür2025. Für jedes Quartal eins, das dürfte zu schaffen sein. Und die Vorfreude ist riesig, denn die vier Bücher sind groß. Historisch-politisch, versteht sich.

Walter Kempowski: Alles umsonst
»Zoffort!« zu lesen, denn es spielt im Januar 1945, im Osten Deutschlands, über dem sich der Sturm der Vernichtung zusammenbraut – perfekt als Januar-Lektüre 2025

Gerd Ledig: Die Stalinorgel
Für mich der beste Frontkriegsroman, den ich kenne. Er schildert die Kämpfe 1942 vor Leningrad und zeichnet in einer Szene ein geniales Bild einer demoralisierten Wehrmacht

Friedrich Christian Delius: Die linke Hand des Papstes
Ein Ausflug nach Rom. Derart sarkastisch und bissig, dass ich das Büchlein zum drittel Mal lese; der Autor begegnet Papst Benedikt in einer evangelischen Kirche, kurz vor dessen Rücktritt

Robert Harris: Vaterland
Das Büchlein wurde bereits mehrfach gelesen, nicht nur von mir. Brillant in einen Thriller gegossene historische Dystopie um den verschwiegenen Holocaust in einer Welt, in der Hitler den Krieg gewonnen hat

Andrzej Stasiuk: Grenzfahrt

Der Fluss spielt im brillanten Roman Grenzfahrt eine wichtige Rolle. Er trennte bis zum 22. Juni 1941 Wehrmacht und Rote Armee, ehe das apokalyptische Unternehmen »Barbarossa« seinen Anfang nahm. Cover Suhrkamp-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Keine eigene Geschichte, nur die der anderen. Der Russen, der Deutschen. Sie waren gekommen, hatten Schutt und Asche hinterlassen und waren wieder gegangen.

Andrzej Stasiuk: Grenzfahrt

Große Teile des Romans werden aus einer mittleren Perspektive erzählt. Zwar ist der Ort in Polen gelegen, doch könnte man das alles auch auf ganz Mittelosteuropa beziehen. Dazwischen. Hier die Deutschen, dort die Sowjets, Hammer und Amboss, alle anderen dazwischen. An einem Fluss, der die beiden Gebiete trennt. Die Gegend am Fluss präsentiert als geschichtsloser Raum, den die anderen, die Russen und Deutschen, gefüllt haben.

Die Geschehnisse spielen im Spätfrühling 1941, es ist Ende Mai, Anfang Juni, der nahende Vernichtungskrieg, die große Blutmühle des 20. Jahrhunderts liegt bereits schwer in der warmen und heißen Luft. Geschütze stehen von Tarnnetzen verborgen im Garten, Panzer, Opel Blitz, Motorräder und marschierende Infanterie wirbeln Staub auf, der große Aufmarsch ist im Gange. Auf der anderen Flussseite Bunker, Wachen, Patrouillen. Nachts erhellen Leuchtraketen den dunklen Himmel.

In diesem seltsamen Zwischenraum zu dieser Zwischenzeit vor dem hereinbrechenden Verhängnis tummeln sich die unterschiedlichsten Menschen, die sich unter gewöhnlichen Umständen nie getroffen hätten. Dörfler, Bauern, Hirten; Partisanen mit großen Reden und brutalem Verhalten; Schmuggler; Fliehende, oft Juden, die nach Osten wollen; Rückkehrer aus dem Osten, weil dort auch kein Ort zum Überleben ist.

Eine der Hauptpersonen ist der Fährmann, der in dunklen Nächten sein bereits vor dem Krieg betriebenes Geschäft fortführt. Er lässt sich für das große Risiko bezahlen, ist aber ein ehrlicher Mensch, betrügt seine menschliche Fracht nicht. Er arbeitet auf dem Fluss, dem Dazwischen, pendelt und gerät auch in anderer Hinsicht zwischen die Fronten. Eine lebensbedrohliche Lage für ihn, in einer Zeit, in der das einzelne Leben seinen Wert eingebüßt hat.

Er betrachtete die Spuren der Raupe und begriff nicht, warum die Deutschen gekommen waren und warum sie weiterziehen wollten.

Andrzej Stasiuk: Grenzfahrt

Erzählt wird in wechselnden Perspektiven. Die Sichtweisen sind zum Teil außergewöhnlich, wenn etwa jener hinterwäldlerische Dörfler staunend die Wehrmachts-Kolonnen betrachtet, völlig ahnungslos, woher die Deutschen kommen, was um alles in der Welt sie in seiner Heimat wollen und – ein noch größeres Rätsel – warum sich die Deutschen mit den Sowjets anlegen werden. Und ja, das fragt sich der Leser dann auch.

Stasiuk hat seinen Roman Grenzfahrt mit einer weiteren Zeitebene versehen, in der der Ich-Erzähler mit seinem Vater in ebenjener Gegend sich aufhält, Jahrzehnte später, wenn das große Vergessen alles in den Abgrund zieht, was damals dort geschehen ist. Die Spuren sind rar, das Bedürfnis des Ich-Erzählers, etwas über die Zeit zu erfahren, viel größer als die Neigung des Zeugen, davon zu berichten.

Eine magische Passage erzählt von einem Foto, das der Erzähler betrachtet. Ein „Bild aus jener Zeit“. Er beschreibt die Personen, die zu sehen sind, wohin sie schauen. Sie sehen Dinge, die man auf dem Foto nicht sieht, die aber trotzdem da sind. Der Ich-Erzähler weiß, dass vor dem Foto-Betrachter ein Fenster ist,  eine Tür, er kennt das Haus, hat früher aus dem Fenster geschaut. Trotzdem wusste der Ich-Erzähler lange nicht, was von der Landschaft, die er gesehen hat, noch verborgen ist.

Es kann sein, dass gut fünfzig Kilometer weiter schon die Feuer von Treblinka brennen.

Andrzej Stasiuk: Grenzfahrt

Darüber wurde nicht gesprochen, nicht mit den Kindern. Der Erzähler hat seiner Großmutter zugesehen, wie sie ohne Licht in der Nacht die Kühe gemolken hat. Weiße Milch, ein ganzer Eimer voll aus dieser „tiefsten Finsternis“, die „tiefer als die Nacht selbst“ war. Wer denkt hier nicht an Celans berühmte Gedichtzeile aus der Todesfuge? Schwarze Milch der Frühe. Stasiuk hat seine Grenzfahrt auch zu einer Reise in poetische Bilder gemacht, die – passend zu dem, was in der Vergangenheit geschah – grundlegende Fragen der menschlichen Existenz berühren.

Heroisch ist nichts in diesem Roman. Das gilt auch für die Gruppe an Partisanen, die in der Gegend herumstreift und im Grunde genommen die Bevölkerung drangsaliert. Für den Kriegsverlauf hat das wirre Hin und Her keinerlei Bedeutung, manchmal wirkt die Gruppe wie Schuljungen, die Partisanen spielen. Sie zählen Wehrmachtsfahrzeuge und streiten sich, ob bestimmte Fahrzeuge Panzer sind oder nicht. Nie werden diese Informationen irgendwohin weitergeleitet.

Stasiuk lässt ihre Handlungen brutal, von großen, hohlen Worten umhallt und mit fürchterlichen Folgen erscheinen. Es gibt Tote, man hängt jemanden mit erschütternder scharfrichterlicher Inkompetenz. Ein ähnliches Fiasko ist auch der Versuch, ein Schwein zu töten. Im Grunde genommen sind alle Aktionen der Partisanen sinnlos, gefährlich nur für die Zivilbevölkerung. Eine Bande, Räuber, Marodeure statt heroischer Widerständler.

Der latente Antisemitismus schlägt immer wieder durch, was zwei jüdischen Flüchtlingen fast zum Verhängnis wird. Sie kommen aus der Stadt an den Fluss, in der Hoffnung, dem sicheren Tod im Herrschaftsraum der Deutschen zu entgehen, wenn sie auf die andere Seite, zu den Sowjets gelangen. Eine Illusion, wie so vieles in Grenzfahrt. Stattdessen kumuliert die Handlung in einer schrecklichen Missetat, während die letzten Minuten vor dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion verrinnen.

Große europäische Literatur.

Andrzej Stasiuk: Grenzfahrt
Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall
Suhrkamp 2023
Gebunden, 368 Seiten
ISBN: 978-3-518-43126-9

Wilm Hosenfeld: Ich versuche jeden zu retten

Das Entsetzen über die deutsche Besatzungspolitik in Polen ergriff Hosenfeld bereits wenige Wochen nach dem militärischen Sieg. Dennoch brauchte es noch einige Zeit, ehe sich ganz vom Regime distanzierte und die heraufdämmernde Niederlage mit großer Klarheit kommen sah. Cover DVA, Bild mit Canva erstellt.

Das sind keine Menschen, nicht einmal Tiere, das sind Teufel. (28.12. 1943 über die SS, Gestapo)

Wilm Hosenfeld: Ich versuche jeden zu retten

Der Film Der Pianist von Roman Polanski hat den deutschen Hauptmann Wilm Hosenfeld bekannt gemacht. Der 2002 erschienene Streifen über den polnischen Pianisten und Komponisten Władysław Szpilman erzählt dessen Schicksal während der deutschen Okkupation Polens zwischen 1939 und 1944. Hosenfeld hat Szpilman das Leben gerettet, eine entscheidende, aber für den gesamten Weg des Verfolgten durch die schreckliche Zeit eben auch nur eine Episode.

Polanski hat den Fokus auf die Opfer gelegt, sein herausragender Film ist für mich noch erschütternder gewesen als Schindlers Liste von Steven Spielberg von 1993. Er ist in gewisser Hinsicht schlichter, geradliniger und stiller als das amerikanische Pendant, die völlige Unerbittlichkeit des Kriegsgeschehens und Besatzungsregimes wirkt unmittelbarer. Am Ende nennt der Film noch den Namen des Retters und sagt, man wisse nicht mehr über ihn als seinen Tod im sowjetischen Kriegsgefangenschaft.

Das Buch »Ich versuche jeden zu retten« zeigt, dass dies eine unkorrekte Information ist, was aber selbstverständlich völlig legitim ist: Polanskis Anliegen war wie gesagt das der Opfer, nicht das eines untypischen Deutschen. Briefe und Tagebuchaufzeichnungen geben eine Menge über den Person namens Wilm Hosenfeld preis, ein spektakulärer Einblick in das Leben, Denken und Fühlen eines Mannes, der ebenso Teil der Nationalsozialistischen Welt war wie sich davon abhob. Die Widersprüchlichkeit ist atemberaubend, das zeigen auch nachfolgende Zitate:

Goebbels ist ein großartiger Volksredner. Er überzeugt […] (10.03.1936)

Oder warum wird keine öffentliche Abstimmung im ganzen Reich durchgeführt? Allgemeine, geheime, freie Wahl. (30.04.1936)

Die Partei arbeitet mit Lüge, Verdrehung und Verleumdung, und wo das nicht genügt, mit Terror. (05.05.1936)

Wieder ergreift mich das Erlebnis der großen Gemeinschaft, in das wir marschieren. Es ist wie im Krieg. (12.09.1936)

Wilm Hosenfeld: Ich versuche jeden zu retten

Die zeitliche Dichte der Äußerungen, die zugleich eine große Nähe und Distanz zum Regime ausdrücken, Bewunderung und offene Kritik, verblüfft. Die Forderung Hosenfelds nach Wahlen (zu der Frage der Schulform) sticht besonders heraus. Wie viele andere patriotisch gesinnte Kriegsteilnehmer des Ersten Weltkrieges mit konservativer Haltung war auch Hosenfeld gegen den Versailler Vertrag eingestellt und stand der Weimarer Republik bestenfalls reserviert gegenüber.

Sein schneller Eintritt in die SA, die positiven Äußerungen zu Hitlers Erfolgen auf internationaler Ebene und die Erleichterung über die Auflösung der Bestimmungen des Friedensvertrages, der auch von Hosenfeld als Diktat angesehen wurde, unterstreichen die Affinität zum NS-Regime. Ausgerechnet eine demokratisches Instrument zu fordern, wenn die Herrschenden etwas durchsetzen, was dem Tagebuchschreiber nicht passt, wirkt kurios.

Und doch ist es ein Fingerzeig, dass in diktatorischen Systemen Kritik an bestimmten Umständen nicht zu verwechseln ist mit grundlegender Kritik am System selbst. Im Gegenteil: Das zeitlich letzte Zitat zeigt, wie sehr sich Hosenfeld 1936 trotz recht scharfer Kritik an einer Maßnahme des Regimes als Teil der großen Gemeinschaft fühlt.

Der letzte Satz bezieht sich auf die Stimmung im Kaiserreich 1914, als es tatsächlich zu einer recht lange andauernden inneren Ruhe kam. Die Weimarer Republik galt dagegen als zerrissen, ein Kritik-Motiv, das die Nazis geschickt mit ihrer Volksgemeinschafts-Propaganda bedienten. In Kriegszeiten kommt Hosenfeld darauf oft mit kritischen Worten zurück.

Trotzdem zeigen einige von Hosenfelds Bemerkungen, wie wenig er tatsächlich Teil der »großen Gemeinschaft« war, sondern eher isoliert. Die Gemeinschaftsabende der SA und anderer Verbände ödeten ihn fürchterlich an, das Beifallsgebrüll, die Bierseligkeit und schulter- und sprücheklopfende Kameradschaft war ihm zuwider. Es wirkt, als wäre das Zitat vom September 1936, das Erleben einer »Gemeinschaft« nicht mehr als ein frommer Wunsch.

Die Juden haben nichts zu lachen, mich empört die rohe Behandlung. (16.09.1939)

Wilm Hosenfeld: Ich versuche jeden zu retten

Besonders schwere Irritationen ergaben sich für Hosenfeld, je weiter sich Hitlers Herrschaft etablierte und der Antisemitismus Teil der Lebensrealität wurde. Dem stand Hosenfeld ablehnend gegenüber, was auch für die rassistische Weltanschauung des Nationalsozialismus galt. Nach Kriegsausbruch wurde er in Polen Zeuge, wie Juden und die polnische Zivilbevölkerung misshandelt wurden, was ihn empörte und zu offenem Widerspruch herausforderte.

Besonders interessant sind die Passagen, in denen Hosenfeld von den Schwierigkeiten berichtet, die große Masse an gefangenen polnischen Soldaten halbwegs menschlich zu behandeln. Obgleich ihm daran lag, diese mit Nahrungsmitteln, Unterkünften, Medikamenten usw. zu versorgen und er alle Anstrengungen unternahm, war es im Chaos der ersten Tage faktisch unmöglich, das zu bewerkstelligen.

Natürlich ist Vorsicht geboten, aber Hosenfelds Haltung zu den Polen, auf die er mit einer gewissen paternalistischen und sehr deutschen Kultur-Überheblichkeit blickte, war geprägt von Achtung, Respekt und Menschlichkeit. Er meinte beispielsweise, die polnische Nation wäre verloren, das polnische Volk werde bestehen; ihm gefiel etwa die nationalstolze polnische Hilfskraft mit ihrer unverhohlenen Ablehnung gegenüber den Deutschen.

Wie gern bin ich Soldat gewesen, aber heute möchte ich den grauen Rock in Fetzen reißen. (10.11.1939)

Wilm Hosenfeld: Ich versuche jeden zu retten

Vor diesem Hintergrund ist es kaum verwunderlich, dass innerhalb einiger Monate die Stimmung Hosenfelds ins Negative kippte. Die Zustände im besetzten Polen, die Gewalttaten gegenüber der Zivilbevölkerung, die so genannten Umsiedlungen, die mitleidlos umgesetzt wurden und für großes Leid sorgten, haben ihn erschüttert. Aber Führerglaube und die Empfänglichkeit gegenüber der Propaganda blieben trotzdem!

Schon für die letzten Friedensmonate wirkt die Naivität Hosenfelds oft erstaunlich. Er ging der Propaganda buchstäblich auf den Leim. Ein Grund lag sicher in der Ablehnung des Versailler Vertrages, der die außenpolitischen Maßnahmen Hitlers als große Erfolge erscheinen ließ. Das öffnete der völlig falschen Ansicht, Hitler stehe zum Frieden, Tür und Tor. Noch drei Tage vor Kriegsausbruch dachte Hosenfeld, Hitler werde »jede Verhandlungsmöglichkeit ergreifen«.

Hosenfeld rechtfertigte den Krieg gegen Polen in einigen Schreiben. Auch als er bereits harsche Kritik am Besatzungsregime äußerte, stand er dem Krieg an sich und seinen propagandistisch orchestrierten Motiven aufgeschlossen gegenüber.

Das Leben des Soldaten Wilm Hosenfeld ist geprägt von seiner grundsätzlichen Offenheit gegenüber den Umständen und Menschen, seinem tiefen katholischen Glauben, der unstillbaren Sehnsucht nach seinem Zuhause, seiner Frau und seinen Kindern. Das zieht sich wie ein roter Faden durch die Briefe, auch die Unzufriedenheit mit seiner eigenen Situation und dem Versuch, sich irgendwie einzurichten.

Hitler hat selten eine so überzeugende Rede gehalten wie die vom 9. November. Er ist doch ein fabelhafter Mensch. (15. 11. 1940)

Wilm Hosenfeld: Ich versuche jeden zu retten

Hosenfeld war als Offizier – selbstverständlich – am Kriegsgeschehen und den außenpolitischen Aktivitäten in Europa interessiert. Er gab Kommentare ab, mit denen er zunächst oft völlig falsch lag. Das ist insofern sehr interessant, weil ein Zivilist wie Hermann Stresau in seinen Tagebüchern Als lebe man unter Vorbehalt neben einigen Irrtümern oft verblüffend stimmige Einschätzungen zu der Entwicklung abgab. Im Verlauf des Krieges wurden die Einschätzungen Hosenfelds viel realistischer, etwa 1942, als er die Chancen der neuen Ost-Offensive bemerkenswert illusionslos sah.

Die Kriegserklärung an die USA im Dezember wertete der Autor glockenklar als Menetekel für eine Niederlage Deutschlands. Er sprach von »Untergangsstimmung« und, dass er »in einer Ecke sitzen und die Wand anstieren« könne. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Begründung: Bei einer Einigkeit wie 1914 wäre es seiner Ansicht nach vielleicht möglich, zu bestehen; doch bestehe diese Einigkeit im NS-Deutschland nicht.

Verblüffend klar hob sich diese Meinung von der NS-Propaganda einer »Volksgemeinschaft« ab. Hosenfeld empfand diese angebliche Gemeinschaft nie , im Gegenteil machte er an vielen einzelnen Stellen klare Brüche aus. Wie das nachfolgende Zitat zeigt, übte er auf spektakuläre Weise Kritik am System, denn der Begriff »Abschaum« umfasst die Partei und ihre Gliederungen sowie sämtliche Formationen, die nicht an der Front kämpfen.

Amerika im Krieg mit der Achse. Die neue Welt hat den vorigen Krieg entschieden. Sie wird ihn auch diesesmal zu unserm Unglück entscheiden. […] Dieser Krieg ist für D[eutschland] eine gewaltige Gegenauslese: Die besten Männer bleiben auf dem Schlachtfeld, der Abschaum wird erhalten; damit wird das Gegenteil erreicht, was der Nationalsozialismus mit seiner Rassenlehre erreichen wollte. (Dezember 1941)

Wilm Hosenfeld: Ich versuche jeden zu retten

Nicht minder überraschend sind die zum Teil absurd naiv wirkenden Ansichten, etwa, dass die Geschichte »eben doch von einzelnen Genies gemacht« werde. Damit meinte er auch Hitler, obwohl Hosenfeld sehr genau wusste, was im Schatten dieses »Genies« an Verbrechen verübt wurde. Auschwitz war etwa im April 1942 bereits bekannt als »ein gefürchtetes Lager im Osten«, in dem die Gestapo die Menschen zu Tode quäle oder sie im Schnellverfahren in »Gaszellen« mit Gas töte.

Er wusste von den Foltermethoden, wusste von den vielen Unschuldigen, die dem ausgesetzt sind, wusste von der sinnlosen, kontraproduktiven Gewalt der Besatzungsmacht in Polen, mit der die Einheimischen immer stärker in den gewaltsamen Widerstand getrieben werden. In einem Tagebucheintrag am 17. April 1942 führte Hosenfeld eine Reihe von recht aktuellen Vorgängen in Warschau auf, die verdeutlichen, wie verheerend das alltägliche Wirken der Deutschen in Polen war.

Seine allgemein pessimistische Einschätzung gipfelte in einem hoffnungslosen Blick auf die militärische Lage, überhaupt erweist sich Hosenfeld zunehmend als realistisch, was die Kriegsaussichten anbelangt. Für den Leser erscheint es rätselhaft, warum Hosenfeld trotz derartiger Einsichten von Hitler als »Genie« spricht. Wenn dieser die Weltgeschichte bestimmte, wäre er eben für die von Hosenfeld beklagten Zustände verantwortlich und nicht nur der »Abschaum«, der sein Unwesen treibt. Auch dieser faktisch unauflösliche Widerspruch erscheint lehrreich.

Menschen sind widersprüchlich, inkonsequent und wechselhaft und möglicherweise gar nicht so hehr, wie oft dargestellt oder gewünscht. Hosenfeld war ein Schwärmer, ein Idealist, der seine in der osthessischen Provinz zusammengemaltes Bild an der harschen Realität zerschellen sah. Solche Wendungen vollziehen sich nur im Trivial-Roman bzw. -Film stringent, die historische (und gegenwärtige) Wirklichkeit ist anders, vielschichtiger, komplizierter, in sich durchaus gegenläufig.

Was hier in Warschau mit den Juden geschieht, das kannst du Dir nicht denken. Das ist, solange die Erde von Menschen bevölkert ist, sicher noch nicht dagewesen. Da verliert man jeden Glauben und jede Hoffnung. Wie tief sind wir gesunken. (1. August 1942 [Brief an die Ehefrau])

Wilm Hosenfeld: Ich versuche jeden zu retten

An manchen Stellen beklagte sich Hosenfeld über sich selbst, seine Untätigkeit, seine Ohnmacht, seine fehlende Courage. So sehr er mit sich ins Gericht ging, so wenig traf das auf die Realitäten zu. Das belegt bereits seine 1944 erfolgte Rettungstat, die Szpilman vor dem Tod bewahrte. Doch das war keineswegs die einzige Tat in dieser Weise. Wie aus dem begleitenden Text zu sehen, nutzte Hosenfeld seine Tätigkeit als Sport-Offizier, um für verschiedene Polen eine Art Schutzraum zu schaffen, die sie vor der Verfolgung bewahrte.

Es versteht sich von selbst, dass Hosenfeld davon in seinen Aufzeichnungen nichts berichtete. Das gilt erst recht für die Briefe, die der Zensur unterlagen. Zum Glück gibt es andere Quellen für dieses Wirken. Die Aufzeichnungen und Briefe zeigen eher, wer der Mensch hinter diesen Taten war. Eine unheroische Person, die den Leser mit ihren Schwankungen, Depressionen, Schwärmereien und manchmal auch hochfliegendem Pathos vor einige Zumutungen stellt.

Diese Herausforderung ist allerdings das Spektakuläre an diesem Buch. Eine historische Person tritt dem Leser in einer ganz ungewohnten Mehrdimensionalität entgegen, ohne die verzerrenden Reduzierungen und Fokussierungen. Hosenfeld war kein »Retter« per Geburt, er wurde dazu, peu á peu und aus ganz verschiedenen, durchaus widersprüchlichen Quellen gespeist.

Hosenfelds Sterben in sowjetischer Kriegsgefangenschaft ist ebenso tragisch wie passend, der rettende Deutsche wird Opfer des Stalinismus, des zweiten, menschenverachtenden  Gewaltregimes des zwanzigsten Jahrhunderts. Sehr positiv an der Ausgabe sind die umfangreichen Anmerkungen, die auch Laien die Texte Hosenfelds verständlich machen, außerdem hilft der einführende Beitrag zum Leben, sich in der Fülle der Aufzeichnungen zurechtzufinden.

Wilm Hosenfeld: Ich versuche jeden zu retten
Das Leben eines deutschen Offiziers in Briefen und Tagebüchern
Hrsg. von Thomas Vogel
DVA 2004
Gebunden, 1.194 Seiten
ISBN: 978-3-42105776-1

Andreas Pflüger: Ritchie Girl

Ein intensiv erzählter Roman über die Nachwehen des Zweiten Weltkrieges. Cover Suhrkamp, Bild mit Canva erstellt.

Bei der Lektüre des Roman Ritchie Girl von Andreas Pflüger hat mich manchmal erstaunt, wie sehr dieser Roman von der Gegenwart zu erzählen scheint. Seit Russland seinen genozidalem Vernichtungskrieg gegen die Ukraine begonnen hat, gehen sie doch wieder um, die »Geister der Vergangenheit«, die gar nicht mehr so geisterhaft ihr blutiges Handwerk betreiben.

Im Gegensatz zum Vernichtungskrieg der Wehrmacht findet dieser vor aller Augen statt, für jeden unübersehbar. Umso bitterer, dass »Wegschauen, Schulterzucken« wieder in Mode sind, ebenso die larmoyante Kriegsmüdigkeit, das Folgen von Lügen und Propaganda – aus vielerlei Gründen. Wer sich fragt, die »das« damals geschehen konnte, bekommt Antworten präsentiert, die sehr unbequem und ernüchternd sind.

Das wirkt zurück auf die Betrachtung der Nazi-Zeit und auch zu dem, was Pflüger in seinem Roman vor dem Leser mit hoher Erzählintensität ausbreitet. Die Geschichte entfaltet sich aus der Sicht einer US-Amerikanerin namens Paula Bloom, die gegen Kriegsende nach ihrer Zeit im Camp Ritchie nach Europa zurückkehrt. Sehr intensiv erfährt der Leser das Grauen des Krieges auf den ersten Seiten, der gruseligen Überfahrt folgen grausame Eindrücke hinter der nach Norden vorrückenden Front in Italien.

Paula hat eine ungewöhnliche Biographie. Sie ist die Tochter eines Amerikaners, der in Berlin während 1930er Jahre lebte und arbeitete. Für US-Firmen, die mit deutschen Unternehmen gute Geschäfte machten, auch mit den später berüchtigten IG Farben. Moral stand hinten an, wie heute, wenn Sanktionen gegenüber Russland umgangen werden und Hochtechnologie aus dem Westen dem Aggressor ermöglicht, Krieg zu führen.

In Italien macht Paula als Übersetzerin Bekanntschaft mit einem SS-Offizier und begegnet Georg wieder, einem deutschen Offizier, an den sie ihr Herz verloren hat. Eine wildbewegte Geschichte entspannt sich, denn noch vor der Kapitulation der Deutschen wetterleuchtet der Kalte Krieg am Horizont, neue Bündnisse entstehen, Feinde, auch hochbelastete Täter aus dem Vernichtungskrieg werden wieder interessant.

Die Widersprüchlichkeit gleichzeitiger Entwicklungen, der Nürnberger Prozess und der Rückgriff auf deutsches Personal, die oft zynisch erscheint, durchzieht den gesamten Roman wie ein Bittermandelaroma. Paula wird auf einen aus Österreich stammenden Juden angesetzt, der als Top-Spion der Nazis galt. Sie soll ihm auf den Zahn fühlen, herausfinden, ob dieser Johann Kupfer lügt oder ein wertvoller Geheimdienstmann sein könnte.

Die Geschichte ist in mehrfacher Hinsicht verwickelt, eine einfache Haltung einzunehmen ist für die handelnden Personen unmöglich, wie Paula zu spüren bekommt. Ihre eigene Vergangenheit, das erstickende Gefühl von Schuld wegen ihres Vaters und einer jüdischen Freundin, aber auch ihre noch immer glimmenden Gefühle gegenüber Georg holen sie ein. Ganz nebenbei erzählt Ritchie Girl auch von dem starken Gefälle zwischen Männern und Frauen in dieser Zeit, der latente und strukturelle Rassismus der US-Streitkräfte wird auch nicht verschwiegen.

Der Roman ist sehr unterhaltsam und spannend zu lesen, man fliegt durch die Seiten, vor allem, wenn die Zeitgeschichte und die handelnden Personen bekannt sind. Denn das Personentableau ist üppig geraten, der Erzählstil wirkt manchmal etwas flüchtig und ruppig, was allerdings der Handlungsdynamik sehr zugute kommt.

Beindruckend und erschütternd sind und bleiben die fürchterlichen Wechselfälle des Lebens unter der Knute von SS, Wehrmacht und Kollaborateuren während des Krieges; ebenso das, was Entnazifizierung genannt wurde, aber in vielerlei Hinsicht nicht war. Mit dem Ende konnte ich hingegen nur wenig anfangen, einige Dinge, wie das Schicksal Georgs und Kupfers, wirken inkonsequent. Das ist gemessen am gesamten Roman letztlich eine Petitesse.

Andreas Pflüger: Ritchie Girl
Suhrkamp 2022
Taschenbuch, 464 Seiten
ISBN: 978-3-518-47267-5

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