Schriftsteller - Buchblogger

Schlagwort: Zweiter Weltkrieg (Seite 5 von 12)

Gerrit Kouwenaar: Fall, Bombe, Fall

Ein Siebzehnjähriger erlebt 1940 in den Niederlanden den Beginn der Krieges. Das Niemandsland zwischen Krieg und Frieden wird in dieser Novelle brillant erzählt. Cover C.H. Beck, Bild mit Canva erstellt

Zwischen Frieden und Krieg gibt es eine Art Niemandsland, wenn der eine zwar gegangen, der andere aber noch nicht richtig angekommen ist. Eine Zeit der Unwirklichkeit, was vieles ganz normal erscheinen lässt, so, als würde das Leben weitergehen wie gewohnt, während doch alles gerade umstürzt. Gerrit Kouwenaar ist in Fall, Bombe, Fall das Kunststück geglückt, die Atmosphäre dieses Niemandslands auf fabelhafte Weise umzusetzen.

Die Novelle erzählt die Ereignisse, die sich in den Niederlanden im Mai 1940 zutragen, aus der Perspektive des siebzehnjährigen Karel, der mit ebenso pubertären wie gewalttätigen Phantasien dem Leser entgegentritt. Ein Auslöser ist die sexuelle Verlockung beim Anblick eines – wirklich wie im übertragenen Sinne – unerreichbaren Dienstmädchens, das Karel beobachtet.

Seine Auflehnung gegen die bürgerliche Welt und die elterliche Autorität zeigt sich in der gedanklichen Verweigerung, Beethovens »Ode an die Freude« zu mögen. Karel malt sich aus, wie er seine Ablehnung nicht etwa hinausposaunt, sondern im Gegenteil heuchelt, er fände die Musik herrlich. Er würde lügen, den Schein wahren. Eine Form, die elterliche Kontrolle auszusperren, die sich auf Äußerlichkeiten wie Pickel beschränkt, »den Rest kann niemand kontrollieren«.

Ich weiß, dass es verwerflich ist, zu wünschen, dass es Krieg gibt, aber ich fände es herrlich.

Gerrit Kouwenaar: Fall, Bombe, Fall

Dieser »Rest« besteht unter anderem aus dem Wunsch, dass er allmächtig wäre, verwoben mit den für ihn unerfüllbaren sexuellen Phantasien, aber auch mit handfesten Gewaltvorstellungen: Die gesamte Straße ginge in Flammen auf oder ein zufällig vorübergehender Junge stürbe. Über allem steht aber das eher unbestimmte Bedürfnis danach, dass etwas geschehe und die unerträgliche Stille verginge.

Ein Krieg würde die Stille vertreiben; eine fallende Bombe, wodurch sich der Titel der Novelle erklärt. Dabei ist zu diesem Zeitpunkt schon Krieg, Deutschland hat Polen angegriffen, England und Frankreich dem Aggressor den Krieg erklärt, ohne dass bis zu diesem Zeitpunkt im Westen Europas große Kämpfe ausgebrochen wären. Im Osten hat die Sowjetunion Polen und Finnland kriegerisch heimgesucht, quasi im Sichtschatten der Kriege Hitlerdeutschlands.

In den Niederlanden starrt man vorahnungsvoll nach Osten, die Erwartung lautet, dass man anders als 1914 angegriffen werde. Anspannung liegt in der Luft, in verschiedenen Maßnahmen, wie etwa eine Urlaubssperre, schlägt sich die Nervosität nieder. Karel aber erlebt zunächst einen Verwandtenbesuch, der die Handlung in Gang bringt: Sein Onkel Robert bittet ihn um die diskrete Überbringung eines Briefes an eine Frau mit dem exotischen Namen Mexocos.

Ich warte, und ich bin immer noch ein dicker, fröhlicher Mann, doch mein Glück ist in Gefahr.

Gerrit Kouwenaar: Fall, Bombe, Fall

Karels Onkel Robert kommt nicht mehr dazu, seinem Neffen zu erklären, was sein »Glück« ist und wodurch es in Gefahr gerät; die Auflösung lässt noch etwas auf sich warten, denn der Krieg kommt nun doch. Ein gleichmäßiges Brummen liegt in der Luft, »breite Streifen weißen Lichts« zucken »ungelenk« über den dunklen Himmel. Bald ist in der Ferne auch ein Grollen zu hören, »als gäbe es Gewitter«.

Die Nachrichten bringen die Bestätigung: Die »Deutschen haben uns überfallen«. Doch außer der Geräuschkulisse, die eben noch nicht mehr ist, macht sich der Krieg kaum bemerkbar. Karel streift durch die Stadt, die namenlos bleibt; er scheint auf der Suche zu sein, auf der Suche nach dem Krieg. Vor dem Leser entfaltet sich nun auf eine beeindruckende Weise jenes Niemandsland zwischen Frieden und Krieg.

Auf seinem Weg nimmt Karel Details wahr, die in einem seltsamen Spannungsverhältnis stehen. Sandsäcke werden aufgestapelt, eine Bürgerwehr ist durch Patrouillen präsent, es gibt Gerede über die Franzosen und Engländer, die bald kämen; am Himmel kann man Flugzeuge in perfekter Formation ausmachen, ungerührt von den sie umgebenden weißen Wölkchen (Flakfeuer); aber die Cafés sind voll, die Menschen genießen die Sonne, deren Leuchten zu der Nachricht des Überfalls nicht passen will. An einem Haus werden verschnörkelte Buchstaben neu lackiert. Das Gefühl macht sich breit, einer Illusion aufzusitzen.

Es passiert alles Mögliche, und es passiert nichts.

Gerrit Kouwenaar: Fall, Bombe, Fall

Bis der Krieg sein blutiges Haupt erhebt.

Dank des Briefes und des Auftrags, mit dem Karel durch seinen Onkel Robert beauftragt worden ist, lernt er zwei Rias kennen, Mutter und Tochter gleichen Namens, die eine gänzlich andere Existenz führen, als die Eltern der Hauptfigur. Es sind Künstler, Bohème, Jüdinnen, während die Familie Karels durch und durch bürgerlich, leistungsaffin und auf eine formelhafte Weise korrekt auftritt.

Die beiden Frauen sind sich der Gefahr durch die Deutschen bewusst und wollen darauf reagieren; Karel soll einen Antwortbrief an seinen Onkel überbringen. Mehr soll an dieser Stelle nicht verraten werden. Die Novelle ist von einer auf- und abschwellenden Dynamik geprägt, wie der Krieg selbst, der sich immer wieder nähert und in seinen Auswirkungen eskaliert. Das Leben Karels wandelt sich jäh, nicht nur in der Phantasie, denn er wird abrupt von der Kindheit in die Erwachsenenwelt gestoßen.

Die Novelle ist voller wunderbarer Formulierungen, atmosphärischer Passagen, Beobachtungen, Tempo- und Dynamikwechseln; ganz besonders gefallen hat mit Karels Gedankenflug, in dem er sich mit der Floskel, deutsche Truppen hätten die Grenze überschritten beschäftigt. Er fragt sich: Wie überschreitet man eigentlich eine Grenze? Und füllt diese hohle Formulierung mit erzähltem Leben.

[Rezensionsexemplar]

Gerrit Kouwenaar: Fall, Bombe, Fall
Aus dem Niederländischen von Gregor Seferens
Mit einem Nachwort von Wiel Kusters
C.H. Beck 2024
Hardcover 124 Seiten
ISBN: 978-3-406-81390-0

Edoardo De Angelis, Sandro Veronesi: Comandante

Der U-Boot-Krieg zwischen 1939 und 1945 war von brutaler Schlichtheit, wie das Zitat zeigt. Eigentlich, denn es gab auch Situationen, in denen die Kommandanten dramatsiche Entscheidungen zu treffen hatten. Von einer erzählt dieser Roman. Cover Zsolnay-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Das wunderschöne Cover und der Titel haben meine Aufmerksamkeit sofort geweckt. Comandante von Edoardo De Angelis und Sandro Veronesi erzählt von einem U-Boot-Einsatz der italienischen Marine im ersten Kriegsjahr 1940, der den befehlshabenden Offizier zu einer dramatischen Entscheidung zwang. Nach der Torpedierung eines feindlichen Dampfers ließ er einige Überlebende befehlswidrig aufnehmen.

Das Autorenduo De Angelis und Veronesi schildert die Ereignisse in 45 zumeist recht kurzen Kapiteln, die jeweils eine andere Perspektive einnehmen. Den Anfang macht nicht etwa der Comandante, sondern Rina, die Ehefrau des U-Boot-Kommandanten Salvatore Todaro. Sie bringt dem Leser den Charakter der Hauptfigur ein wenig näher: Eigentlich wäre Todaro infolge eines Unfalls vor dem Kriegseintritt Italiens außer Dienst gestellt, dank einer Art Korsett und Morphium kann dieser jedoch seine Tätigkeit wiederaufnehmen.

Dieser Umstand ist für Rina erwartungsgemäß nicht leicht zu ertragen, denn sie erwartet wie alle anderen, dass Todaro in einen Krieg ziehen müsse, der »früher oder später kommen« werde. Auf ihre Frage nach dem Warum, wo doch der Versehrte schon einmal sein Leben für sein Land hingegeben habe, gibt Salvatore zunächst keine Antwort; stattdessen geht er zu einem griechischen Schneider, einer Art Orakel, der ihm einen ominösen Zettel mit altgriechischen Worten reicht.

In jenen Momenten der Rekonvaleszenz habe ich begriffen, dass mein Zustand als Versehrter von einem schwachen Geist erzwungen und eines Kriegers unwürdig ist.

Edoardo De Angelis, Sandro Veronesi: Comandante

Spuren seiner Beweggründe für seine Handlungsweise liefert Todaro in einem späteren Kapitel, etwa durch die Eigeneinschätzung als »Krieger«, die in seligen, am 24.02.2022 als blauäugig entlarvten postheroischen Zeiten sicher seltsam anmutete. Dieses ostentative Krieger-Ethos mag abschrecken oder abstoßen, es ist jedoch wichtig, um zu begreifen, welchen Schritt der U-Boot-Kommandant gemacht hat, als er später vor seiner dramatischen Entscheidung stand.

Todaro strebt nach eigenem Bekunden nicht nach Glück, Zufriedenheit hält er für »Stillstand, etwas Bürgerliches.« Bürgerliches Behagen stünde wohl auch im Widerspruch zu seinem Krieger-Dasein, das die Bereitschaft umfasst, für sein Land zu kämpfen, zu töten und zu sterben. Nach außen hin verkörpert Todaro das Ethos, denn für seine Männer ist er eine Art Zauberer, der nie schläft, ungeheuer viel weiß, das Boot beherrscht und mit kniffligsten taktischen Situationen umgehen kann.

Aber der Begriff des Kriegers umfasst eben auch den der Ehre, noch so ein Wort, das dick Staub angesetzt zu haben schien. In zivilen, nicht-kriegerischen, wenn man so will: bürgerlichen Zeiten mag es widersinnig sein, dass der Versenkung eines Dampfers die Rettung von Schiffbrüchigen folgt, denn der erste Schritt schafft erst jene, die im zweiten gerettet werden. In der Kriegssituation ist das aber alles andere als widersinnig.

Wer Krieg und auch den »Krieger« partout verdrängt, der umgeht in Gedanken eine Situation, die jene Notwendigkeit einer Rettung erst heraufbeschwört. Doch diese Abkürzung funktioniert in der Realität nicht, auch wenn sie in der Gegenwart immer wieder gern gegangen wird. Sie ist bequem, denn sie vermeidet die Notwendigkeit sich mit Widersprüchen auseinanderzusetzen. Der Abkürzende zaubert sich eine glatte, einfach zu handhabende Welt, die mit der Wirklichkeit wenig zu tun hat.

Am Himmel schwirren die Jagdflieger der Royal Air Force wie die Schmeißfliegen umher.

Edoardo De Angelis, Sandro Veronesi: Comandante

Der Einsatz führt Todaros U-Boot Cappellini in den Atlantik, wo es auf die Jagd nach britischen Frachtern und Konvois gehen soll, um Großbritannien vom Nachschub abzuschneiden. Die Geographie hat die Meerenge von Gibraltar zwischen Boot und Ziel gesetzt, ein Motiv, das aus Lothar-Günther Buchheims Das Boot hinlänglich bekannt ist; mit dem Unterschied, dass die Cappellini und U96 in die jeweils andere Richtung die Meerenge passieren sollten.

Der Alltag an Bord eines U-Bootes, die Enge, der fürchterliche Gestank, aber auch die Vielfalt der Besatzung, die aus allen Ecken Italiens stammt und – wenn man so will – sich selbst fremd ist, wird in einigen Kapiteln auf originelle und unterhaltsame Weise geschildert. Zu den kuriosen Dingen gehören die Regionalsprachen, etwa das Sardische, das erlaubt, Funksprüche ohne Chiffrierung zu versenden, weil außer den beiden Sprechern niemand versteht, was gesagt wird.

Nach einigen Seetagen wird es dramatisch, erste Verluste durch Mienen, Wasserbomben und Fliegerangriffe sind zu beklagen, die Autoren schildern mit ebenso treffenden wie gelungenen Bildern, wie die Besatzung in der Extremsituation reagiert. Das eigentliche Drama beginnt, als die Cappellini einen Dampfer angreift und versenkt. Die Attacke geschieht nicht mit Torpedos, die Todaro wegen ihrer Zielungenauigkeit nicht mag, sondern ungewöhnlicherweise im Überwasserangriff mit Bordgeschützen.

Maschinen. Das ist ein Krieg der Maschinen.

Edoardo De Angelis, Sandro Veronesi: Comandante

Das Motto des U-Boot-Krieges lässt sich knapp zusammenfassen: »angreifen, versenken, verschwinden.« Nach kurzem Gefecht mit der Cappellini sinkt der feindliche Dampfer namens Kabalo, wie sich herausstellt, ein belgisches Schiff. Belgien ist zu diesem Zeitpunkt noch neutral, allerdings hat das Schiff britische Militärtechnik an Bord und fährt ohne Licht, wie es für ein neutrales Schiff untersagt ist.

Der Angriff ist also militärisch gerechtfertigt, ein Torpedo lässt die Kabalo in den Fluten verschwinden. Die Cappelini kommt aber nicht so einfach davon, denn Überlebende des gerade versenkten Schiffes machen sich bemerkbar, ein Rettungsboot sowie einige Schwimmer bitten um Hilfe. Der »Krieg der Maschinen«, U-Boot gegen bewaffnetes Frachtschiff, Kanonen, die auf Distanz feuern und ein Torpedo für den Todesstoß – an diesem Punkt endet er, denn der Feind bekommt ein Gesicht.

Der »Befehl 154« des deutschen Admirals Dönitz war unmissverständlich: keine Überlebenden aufnehmen. Todaro weiß das, und er weiß, dass die Befehle auf englischer Seite »von Lord Cunningham und auch von Churchill« genauso lauten. Eigentlich hat der Comandante kein Recht, die Schiffbrüchigen aufzunehmen, tut er es trotzdem, verstößt er gegen einen ausdrücklichen Befehl; eine vertrackte Lage für ihn, den Krieger, dessen Verhältnis zum Krieg eindeutig ist. 

Wir befinden uns im Krieg, Rina, und du weißt, wie sehr ich den Krieg respektiere, du weißt, wie sehr mein ganzes Sein auf den Krieg ausgerichtet ist, und du weißt, wie viel ich dem Krieg zu opfern bereit bin. […] Wir sind auf See. Und wir sind Menschen. Und auch die See hat ihre Gesetze, so wie der Mensch, ob im Krieg oder im Frieden.

Edoardo De Angelis, Sandro Veronesi: Comandante

Todaro nimmt die Überlebenden auf und behilft sich damit, dass er sie als »Schiffbrüchige« bezeichnet. Damit ist einerseits dem Befehl Dönitz’ Genüge getan, andererseits aber auch ein anderes Rechtsgebiet betreten: Das Recht des Krieges wird durch das Recht der See abgelöst, das immer gilt, unabhängig von Krieg und Frieden. Ein kluger, taktischer Kniff Todaros, um die unlösbare Situation zu bewältigen.

Wie die sehr informative Einleitung zu diesem Roman zeigt, hat Dönitz den Italiener einen »Don Quijote des Meeres« genannt, was seine Verärgerung über dessen Verhalten in einem unsinnigen sprachlichen Bild zeigt.  Der Konter Todaros, man sei Italiener, Teil einer zweitausend Jahre alten Zivilisation, man mache das einfach, wirkt bis in die Gegenwart, etwa, wenn es um die Frage geht, ob Patrouillenboot der italienischen Marine Schiffbrüchige vor der libyschen Küste retten dürften oder nicht.

Der Rest des Romans schildert die dramatischen Umstände der Rettungsaktion, die von unerwarteten Unbilden begleitet wurde. Auch das Retten hat seine Tücken, wie andere Beispiele der Zeit, etwa der berühmt Laconia-Zwischenfall zwei Jahre später zeigte. Für mich liegt hier der größte Vorzug dieses schönen, spannenden und den Leser ein wenig piesackenden Romans: eine Anregung zum Nachdenken, ohne den Weg allzu schlichter »Lösungen« einzuschlagen, wenn es um Fliehende geht oder um den wiedergekehrten Krieg.

[Rezensionsexemplar]

Edoardo De Angelis, Sandro Veronesi: Comandante
Aus dem Italienischen von Anna Leube, Wolf Heinrich Leube
Zsolnay Verlag 2024
Gebunden 160 Seiten
ISBN : 978-3-552-07389-0

Ken Krimstein: Die drei Leben der Hannah Arendt

Die Graphic Novel zeichnet einige Stationen aus dem bewegten, ja dramatischen Leben Hannah Arendts nach, gibt aber auch Einblicke in ihre Geisteswelt. Cover dtv, Bild mit Canva erstellt.

Berühmte Zitate oder Wendungen sind beliebt, viele kennen sie, manche führen sie im Munde, doch sind sie oft aus dem Zusammenhang gerissen oder werden missverstanden ohne den Kontext. Das ist mit Carl von Clausewitz und seinem Diktum, Krieg sei nichts anderes als die Fortführung von Politik mit anderen Mitteln, nicht anders als mit Hannah Arendts Wort von der »Banalität des Bösen«.

Klingt gut, schlau und wertet jene auf, die das Zitat verwenden – auch wenn ihnen völlig unklar ist, was eigentlich »Banalität« in diesem Falle meint, gar nicht zu reden, welche Schlussfolgerungen daraus gezogen werden. Auf diese Fragen gibt auch Die drei Leben der Hannah Arendt keine Antwort, im Gegenteil: Es wirf sie und viele andere Fragen erst auf.

Die Graphic Novel von Ken Krimstein macht den Leser mit einer Reihe von Lebensstationen von Hannah Arendt vertraut, darunter äußerst dramatische, wie die Flucht aus Marseille vor dem Zugriff der mit den Deutschen kollaborierenden französischen Sicherheitskräfte. Die wunderbare, leicht sperrige Art der Illustration macht von der ersten Seite an deutlich, dass es hier um viel mehr geht, als um die Nacherzählung eines bewegten und bewegenden Lebens.

Immer wieder wird der Leser mit philosophischen bzw. politisch-theoretischen Begriffen, Fragen, Betrachtungen und Überlegungen konfrontiert, denn das alles macht das Leben Arendts aus. Sie sucht nach Antworten, bei Kant, in Seminaren, Bibliotheken, Gesprächen mit Gelehrten ihrer Zeit, durch das Schreiben von Essays und die Auseinandersetzung mit Kritikern.

Man macht auch Bekanntschaft mit dem, was jenen widerfahren kann, die Ruhm und Berühmtheit erlangen. Die Erwartungen anderer werden enttäuscht, wenn man nonkonform denkt und sich äußert – man eckt an, wird geschnitten, angefeindet und von Freunden im Stich gelassen. Freiheit und Offenheit hat ihren Preis, immer und überall.

Was heute so gewandt und geläufig klingt, die »Banalität des Bösen« als Beschreibung von Eichmanns Wesen, den viele Zeitgenossen lieber als Monster sehen wollten, hat massive Anfeindungen ausgelöst – kaum vorstellbar in der Rückschau. Damit entsteht eine Leerstelle in der Graphic Novel, die – hoffentlich – viele Leser dazu bringt, vielleicht einmal einen Teil der Lebens- und Lesezeit mit der Auseinandersetzung mit einem Text Hannah  Arendts zu verbringen.

Das Schaurigste in dem Buch ist jedoch etwas anderes. Arendt gehörte zu jenen, die von den Franzosen interniert und nach Südfrankreich gebracht wurden, als die Wehrmacht angriff. Das allein ist bedrückend genug, für mich noch unangenehmer ist die Reaktion der Insassen auf den Vorschlag Arendts, die kurze Phase der Unsicherheit, Anarchie nach dem Zusammenbruch des französischen Widerstands zur Flucht zu nutzen – viele blieben und wurden nach Osten deportiert. Sie haben lieber weggesehen, als dem Übel ins Auge zu schauen. Eine Warnung.

Ken  Krimstein: Die drei Leben der Hannah Arendt
Aus dem Englischen von Hanns Zischler
dtv 2018
Klappenbroschur 244 Seiten
ISBN: 978-3-423-28208-6

ernst jandl: Briefe aus dem Krieg

Manchmal ist es auch wichtig, was nicht geschrieben steht – Jandls Briefe zeigen indirekt einen Menschen im Tarnkappenmodus, dessen Mission darin besteht, Zeit zu schinden. Cover Luchterhand-Literaturverlag, Bild mit Canva erstellt.

Zigaretten sind eine transnationale Währung. Lange vor den Krypto-Zahlungsmitteln wurde mit ihnen gehandelt, analog, direkt und vor allem dann, wenn gewöhnliche Geldmittel an ihr Ende kamen: entwertet oder wertlos, insbesondere in Zeiten von Krieg und Gefangenschaft. Es überrascht wenig, wie wichtig dem Dichter Ernst Jandl die Glimmstängel waren, ein Blick auf das Cover des Buches genügt; überraschend sind der Nachdruck und die Häufigkeit seiner Bitten in den wenigen, oft knappen Briefen, die in diesem Buch abgedruckt sind.

Es mag ein wenig seltsam klingen, aber das Drängen nach Zigaretten hat den Briefen Jandls etwas unmittelbar Vertrautes und Authentisches verliehen, so oft ist mir das bei meiner extensiven Lektüre von Briefen, Tagebüchern, Berichten, Erinnerungen, Romanen und Erzählungen aus Kriegszeiten begegnet. Und Bilder, natürlich, Soldaten, den Kopf von Mull umschlungen, das Gesicht blutig, erdgrau und gezeichnet von hoffnungsloser Verzweiflung, ziehen mit einer Intensität an der Zigarette, als handelte es sich um den rettenden Atemzug.

Wenn man also eintritt in das Kriegsleben des späteren Dichters, begleitet den Leser der blaue Dunst, nicht in der dramatischen Form, wie geschildert, aber so stetig wie ein treuer Hund. Jandl schildert nur in einem sehr kurzen Brief einige Eindrücke von der Front, doch haben diese Zeilen eine ungeheure Wucht, sie deuten bereits voraus, spiegeln die Fähigkeit wieder, ins (sprachliche) Detail zu schauen – das Wort »Frontschwein« bekommt für den Soldaten an der Front seine wahrhaftige Bedeutung.

Jetzt erst wird mir der Begriff vom »Frontschwein« klar.

ernst jandl: Briefe aus dem Krieg 1943-1946

Diese konzentrierte Kürze zeichnet die Briefe aus. Die Stationen des 1943 eingezogenen Jandl bis zu seiner Gefangenschaft, zunächst in Frankreich, dann in England, hinterlassen trotzdem ein plastisches Bild. Der Krieg spielt bestenfalls eine Nebenrolle, dort, wo Jandl sich aufhält, findet er nicht statt. Er ist bei seinen Stationen fern der großen Schlachten, der Bombenangriffe, Verheerungen und Vernichtung.

Geschildert werden vorwiegend Kleinigkeiten aus dem Dienstalltag, Bitten um Kleidung, Rauchwerk, einen Koffer, Ankündigungen von Besuchen oder Berichten über dieselben, Wünsche und Hoffnungen, kurze Bemerkungen über den weiteren Gang der Dinge, wohin man versetzt werde und wann der Gang an die Front drohe – Dinge, die heute vor allem in e-Mails oder Messenger-Nachrichten verhandelt werden. Von den inneren Befindlichkeiten Jandls steht dort selten etwas.

Aus dem sehr informativen Vorwort und der Chronik, die wie ein Rahmen die Briefe einfassen, ist zu erfahren, dass Jandl versucht hat, nicht aufzufallen und das in einer spektakulär nüchternen Weise. Weder Innere Emigration noch Aufbegehren, sondern äußerliche Konformität, Anpassen an die Konventionen als Überlebensstrategie. Den Gang zur Front, vor allem zur höllischen Ostfront, vermeiden, aufschieben, hinauszögern – das war Jandls Art, den Krieg zu überleben. Der nachfolgende Satz bekommt so einen anderen Klang.

Nun ist es soweit: Ich bin Grenadier.

ernst jandl: Briefe aus dem Krieg 1943-1946

Von einer Ausnahme abgesehen, spiegelt sich das in den Briefzeugnissen insofern wieder, dass Jandl diese Dinge konsequent ausklammert und nie erkennen lässt, in irgendeiner Form sich drücken oder den Fronteinsatz herauszögern zu wollen; das aber hat er getan, Zeit geschunden, Zeit gewonnen. In diesem Zusammenhang ist auch der Versuch zu sehen, Offizier zu werden, was letztlich fruchtlos blieb, aber kostbare Zeit verstreichen ließ.

Insbesondere die den Briefen nachgestellte Chronik ist in aufschlussreich, denn sie gibt preis, worum sich die Briefe  herumdrücken, die Ausweichmanöver Jandls, der gleich zweimal versuchte, sich durch Arztbesuche vor dem Fronteinsatz zu retten; er ist sogar ein hohes Risiko eingegangen, eine unerlaubte Entfernung von der – zur Front abrückenden – Truppe hätte ihm auch Standgericht eintragen können. Glück auch, dass ihm die Ostfront erspart blieb und er in den Westen kam, wo er überlaufen konnte.

So bekommen Äußerungen in seinen Briefen im Nachhinein einen Hinter-Sinn. Die Bemerkung, das Karabiner-Schießen oder der Unterricht hätten ihm gefallen, sind zunächst einmal durchaus wörtlich zu nehmen, ein wacher Geist nimmt alles mit, was ihm im eher dumpf-stumpfen Kasernenalltag angeboten wird, aber auch Teil der Taktik, Zeit zu gewinnen. Die Ausbildung zum Scharfschützen kostete wieder drei Wochen; Jandl ist wie jemand, der unter einem Tarnumhang des Mitmachens versucht, durchzukommen.

Heroisch mag das nicht sein, doch was heißt das schon? Im Nachhinein ist es leicht, von den Zeitgenossen der blutigen Jahre einen Mut einzufordern, wenn man nie in die Verlegenheit kommen wird, ihn selbst aufzubringen. Allein gegen das Propaganda-Gedröhn, das so viele erreicht und beeinflusst hat, die verheerende Wirklichkeit des Frontalltags aus den Zeitungen und Wochenschauen herauszufiltern und allem Sozialdruck zum Trotz sich treu zu bleiben, ist bemerkenswert.

Die Stille nach dem Krieg ist immer noch Krieg.

Alexis Jenni: Die französische Kunst des Krieges

Eine ganze Reihe von Briefen sind aus der Zeit von Jandls Kriegsgefangenschaft verfasst. Das mag angesichts des Buchtitels seltsam erscheinen, doch ist es sehr passend, denn Kriege enden nicht mit dem letzten Schuss, Waffenstillstand und Friedensschluss. Die Nachkriegsstille ist immer noch erfüllt vom Echo des Kriegsdonners. Im Falle Jandls macht sich das unter anderem darin bemerkbar, dass über Monate hinweg in Unsicherheit ist, wie seine Angehörigen den Untergang des Hitlerreiches erlebt haben. Erst im Februar 1946 erhält er in England Nachricht.

Zum Krieg gehört auch der Schock über die dramatischen Verbrechen, die während des Zweiten Weltkrieges begangen wurden. An einer Stelle in den Texten zu Jandl heißt es, der »Triumph, noch am Leben zu sein«, wäre später dem »schleichenden Gefühl von Schuld« gewichen. Das hat bei mir die Erinnerung an die Aussage eines Wehrmachtssoldaten geweckt, der selbst nie an Kriegsverbrechen teilhatte und trotzdem genau wusste, dass jede seiner (Kriegs-)Handlungen ein Mitmachen, ein Teilhaben an dem verbrecherischen Morden war, was ihn bis an sein Lebensende fürchterlich belastete. Wenn man von schweren Depressionen bei Jandl liest, liegt der Schluss nahe, dass bei ihm Ähnliches im Gang gewesen könnte.

[Rezensionsexemplar]

ernst jandl: Briefe aus dem Krieg 1943-1946
Hrsg. von Klaus Siblewski
Luchterhand Literaturverlag 2005
Gebunden 178 Seiten
ISBN: 978-3-630-87223-0

Jonathan Coe: Bournville

Leider konnte mich der leichtfüßig und flott zu lesende Roman nicht recht überzeugen. Cover Folio-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Einen „Roman in sieben Ereignissen“ nennt Autor Jonathan Coe sein Bournville. Sieben Kapitel zuzüglich eines Prologs bilden die Ankerpunkte im Strom der Zeit, an denen die Erzählung Halt macht und etwas aus der Geschichte einer verzweigten britischen Familie berichtet, in deren Mittelpunkt Mary Lamb steht.

Los geht es jedoch in der unmittelbaren Vergangenheit, jenem Moment, in dem sich das Virus namens Corona Bahn bricht und die Welt vermittels einer Pandemie lahmlegt. Lorna, die Enkelin Marys, befindet sich auf Europatournee, die allerdings mehr einer bangen Jagd gleicht, weil die Band mit ihren Auftritten sozusagen den musikalischen Schlusspunkt vor dem Lockdown setzt.

Nach ihrer Rückkehr auf die britische Insel ermuntert Lorna ihre schweigsame und leicht tüddelige Oma zum Reden. Zum Beispiel über jenen Carl Schmidt, ein deutscher Vorfahr, den Mary 1945 in England kennengelernt hat. An diesem Punkt setzt die Erzählung ein, der Krieg gegen Deutschland geht zu Ende, Frieden und Freudenfeuer werden jedoch durch offen ausgelebte antideutsche Ressentiments getrübt, denn Carl mag zwar formal Engländer sein, wird jedoch als Deutscher angefeindet.

Bournville lässt seine Figuren in unterschiedlicher Besetzung vor dem Radio oder Fernseher sitzen und auf diese eher distanzierte Weise an zentralen Ereignissen teilhaben, der Siegesansprache des Königs etwa oder der Krönung Elisabeths II.. Überhaupt nehmen die Royals einen bemerkenswerten Raum ein, denn allein vier der sieben Ankerpunkte werden Ereignissen um sie gewidmet. Ja, darunter auch der Tod von Lady Di.

Damit beginnen die Schwierigkeiten, die ich mit diesem Roman hatte, denn das Königshaus hat mich doch sehr viel weniger angesprochen als die übrigen drei Kapitel (auch wenn ich tatsächlich die Hochzeit von Charles und Diana im TV verfolgt habe) – Kriegsende, Finale der Fußball-WM 1966 in Wembley und 75. Jahrestag des Kriegsendes. Doch auch bei diesen bleibt die Erzählung seltsam fadenscheinig, denn sie werden in den Gedanken und Gesprächen sowie Handlungen der Familienmitglieder erzählt.

Die drehen sich naturgemäß vorwiegend um eigene, persönliche Angelegenheiten, oft ist das Großereignis mehr ein ferner Lärm, ein Echo, das nicht allzu weit vordringt und an Bedeutung einbüßt. Die Frage stellt sich jedoch, warum sie dann überhaupt ausgewählt wurden? Es wirkt manchmal belanglos, beliebig und ohne zusammenhangslos nebeneinandergestellt, aber präsent genug, um dem, was aus der Familie erzählt wird, ebenfalls die Bedeutung zu rauben.

Das ist schade, denn Bournville ist munter erzählt, leicht und unterhaltsam zu lesen, es gibt eine Vielzahl einzelner Begebenheiten, die eine Menge über das verraten, was man Großbritannien nennt. Wenn etwas ein Engländer als Prince of Wales betitelt wird, stößt das bei Walisern nicht unbedingt auf Gegenliebe, woran die wenigen Brocken akzentschweren Walisisch nichts wesentlich ändern können.

Das sind die lichten Momente in dem Roman, von denen es einige gibt, die jedoch zusammenhangs- und folgenlos aufleuchten und wieder verlöschen. Viel zu selten wird es ironisch oder sarkastisch, gar nicht zu reden von schwarzem Humor, für den sich doch ein weites Spielfeld böte, nicht allein wegen der Farbe jenes Nahrungsmittels, das Anlass für einen jener hübschen, sinnlosen und mit Erbitterung ausgefochtenen europäischen Streits bietet, bei denen man sich kopfschüttelnd abwendet und ein Stoßgebet gen Himmel schickt: Schokolade.

Am Ende des Romans bleibt man seltsam irritiert zurück. Vieles wird angerissen, bleibt jedoch flüchtig, sowohl die historisch-politischen als auch die familiär-persönlichen Themen anbelangt. Da Bournville in ein ganzes Erzähluniversum eingefügt ist, mag es Lesern, die bereits die anderen Werke Coes gelesen haben, bei diesem Roman anders ergehen. Möglicherweise ist für sie das, was ich als flüchtig empfunden habe, eher ein dankbarer Weg, Wiederholungen zu vermeiden.

[Rezensionsexemplar]

Jonathan Coe: Bournville
Aus dem Englischen von Cathrine Hornung, Juliane Gräbener-Müller
Folio-Verlag 2023
Hardcover 409 Seiten
SBN 978-3-85256-885-0

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