
Die Pferde bleiben in Erinnerung. Zugegeben, in meinem Fall waren es nebulöse Erinnerungen, obwohl ich Die linke Hand des Papstes schon zweimal gelesen habe. Einmal war das Buch mein Reisebegleiter in Rom, auch das ist schon einige Jahre her, die Erinnerungen an die Lektüre, die sich mit dem Erlebten verwob, ist verschwommen, aber präsent. Doch die Pferde sind mir als Motiv unvergessen geblieben. Pferde als Symbol abgründiger Korruption, in der Schreibgegenwart des Autors und der Vergangenheit der Spätantike.
Es ist ein weiter Bogen von Augustinus zu Gaddafi, von Honorius zu Berlusconi, den Friedrich Christian Delius seinen Lesern zumutet. Und es sind keineswegs die einzigen Zumutungen, insbesondere schwärmerischen Rom- und Italienverehrern rückt die Novelle mit Blicken hinter die Kulissen auf den sehnsuchtsvollen Touristenleib. Einen frühpensionierten Archäologen, der sich halblegal als Stadtführer verdingt, hat Delius zum Erzähler erkoren.
Der Deutsche ist mit einer Italienerin namens Flavia, die transalpine Ehe verhilft dem Erzählten zu Glaubwürdigkeit. Der Name weist in die Antike zurück, zwei Kaisergeschlechter zählen zu den Flaviern, es ist also eine profunde Personifizierung der Historie. Delius verzahnt Erzählgegenwart und Vergangenheit auf allen Ebenen. Flavias zugespitzte Kommentare über die eigenen Landsleute kann sich ein Deutscher nicht leisten, nicht nach Meinung des Erzählers, der seinen Landsleuten die Untaten der Nazi-Schergen unter die Nase reibt. Als Italien 1943 die Nibelungentreue zum Reich aufgab und nicht bis »fünf nach Zwölf« kämpfen und untergehen wollte, brach über die Italiener das Morden herein.
Alarich und Adolf und Kappler und Kesselring, den Florenz-Zerstörer und Partisanenschlächter, die schaffen wir nicht so leicht aus der Welt.
Friedrich Christian Delius: Die linke Hand des Papstes
Das ist kein gutes Thema für Touristen, weiß der Touristenführer, also hält er sich zurück; er überlegt, wie er in seine Führungen derlei einfließen lassen könnte, ohne seine Kundschaft zu verschrecken. Es ist nicht das einzige, wenngleich das bedrückendste Thema für deutsche Leser. Fast alle anderen Wut erzeugenden Aspekte sind hausgemacht italienisch oder katholisch-kirchlicher Natur mit langen Wurzeln in die Geschichte. Den prächtigen Fassaden Roms sieht man es nicht an.
Ein Schnittmenge zu den Nazi-Untaten gibt es, Benito Mussolini und seine Faschisten, die in ihren fürchterlichen Kriegen hunderttausende von Toten zu verantworten haben. Die Schlächtereien in Abessinien, in Albanien, der Angriffskrieg gegen Griechenland und die nachfolgende Besatzungsherrschaft. Das alles ruht halb vergessen im Schatten der monströsen deutschen Massenmorde, von Holocaust und Vernichtungskrieg im Zweiten Weltkrieg.
Die Kirche hat sich nicht mit Ruhm bekleckert, nicht in Person von Papst Pius XII. und auch sonst nicht. Delius lässt seinen Erzähler von einem Onkel in Wehrmachtsuniform berichten, der diesem Papst die Hand im Jahr 1942 gedrückt habe. Eine zufällige Audienz, bei dem der Protestant in Uniform die Aufmerksamkeit des Papstes erregt, es kommt zu einem Gespräch, in dem der Stellvertreter Christi dem Deutschen zu seinem Führer gratuliert.
Wie käme ein Papst zu einem Glückwunsch dieser Art? 1942 waren Millionen sowjetische Kriegsgefangene verhungert, Millionen Juden erschossen und die Gaskammern in den industriell arbeitenden Vernichtungslagern Realität. Wieso wirkt diese Geschichte nicht, dass man abwinken möchte? In den weiten Gedankenkreisen des Erzählers kommen Katholische Kirche und deren Oberhaupt nicht gut weg, Kreuzzüge gegen »Ketzer« aller Art, Verfolgung von Juden, »Hexen und Zigeunern«, die Scheiterhaufen. Eine »Terrorinstitution«, meint der Erzähler.
Friedrich Christian Delius: Die linke Hand des Papstes
Friedrich Christian Delius: Die linke Hand des Papstes
Auch kein gutes Thema für »Touristen, Anti-Touristen« und »aufgeklärte Bildungstouristen« in der »Ewigen Stadt«; die wollen »die Märchen«. Das Thema ist aber gut geeignet für eine Novelle, die in ihrer Sprache und Gedankenführung als assoziative Wutrede daherkommt. Rant würde man heute vielleicht sagen, ausgeführt mit leichter Hand, sarkastisch, wortgewandt und bildstark. Den allgegenwärtigen Lärm der Stadt verspottet Delius als »große römische Jupitersinfonie«, die »kleine« werde sonntags gegeben, wenn es ruhiger sei. Vom grunzenden Pöbeln der so genannten »Wutbürger« ist Delius’ Buch noch weiter entfernt, als die Antike von der Gegenwart.
Den Anlass für diese Wutrede bietet eine ungewöhnliche Begegnung des Erzählers mit dem Papst. Genauer: dem deutschen Papst Benedikt XVI. in der protestantischen Christuskirche zu Rom. Tatsächlich ist ein solcher Besuch für den 14. März 2010 verbürgt, Delius ersinnt für seine Novelle eine fiktive Begegnung seines Erzählers mit dem Papst rund ein Jahr später. Ist das die unerhörte Neuigkeit, die prägend für eine Novelle ist? Das Oberhaupt der katholischen Kirche in einer protestantischen mitten in Rom? Nein, für den Novellen-Falken hat sich Delius eine im Wortsinne »unerhörte« Begebenheit ausgedacht, die hier nicht verraten wird.
Unerhört hätte aber etwas anderes sein können, das sich der Erzähler wünscht: eine Backpfeife des Papstes für Silvio Berlusconi. Ob sie, die Hände des Papstes, noch zu einer Ohrpfeife fähig wären, fragt sich der Erzähler. Für den Wunsch nach dieser wahrhaft unerhörte Begebenheit liefert die Erzählgegenwart einen passenden Anlass: Der Italien »regierende Diktatorenfreund« wurde vom »Öldiktator« aus Libyen, ehemals italienische Kolonie, besucht. Gaddafi brachte ein Zelt und Pferde mit, jene Pferde, von denen eingangs die Rede war.
[…] und zum ersten und einzigen Mal etwas Mitleid hatte mit dem alten Mann, dem vor lauter Macht die Hände gebunden waren.
Friedrich Christian Delius: Die linke Hand des Papstes
Was für ein Satz. Allein die Idee, dass einem Mächtigen wegen seiner Macht die Hände gebunden sein könnten, ist brillant. Doch ist es das Mitleid, das die Wucht der Worte entfaltet. Delius lässt seinen Erzähler recht früh in dem schmalen Buch dieses Mitleid empfinden, ich hätte ihn auch an den Anfang meiner Besprechung stellen können. Doch hier, nach dem über den deutschen Papst und seine Institution Gesagten, wird erst deutlich, welche Ausnahmestellung das Mitleid einnimmt, warum der Erzähler es nur ein einziges Mal empfinden kann.
Eine groteske Inszenierung, ein die katholische Kirche und ihr Oberhaupt verhöhnender Mummenschanz mitten in Rom. Gaddafi gibt eine Islamstunde. Die Belehrten sind einige hundert junge Models, bezahlt, um dem Salbadern zu lauschen. Europa solle sich zum Islam bekehren lassen, meint der Öldiktator. Man stelle sich Angela Merkel vor, die in Mekka derlei mit umgekehrten Vorzeichen sagt.
In Rom aber wird Gaddafi nicht gesteinigt oder auf andere Weise massakriert, es wird lächelnd abgewiegelt. Der bekennende »Kirchenfreund« und »Fernsehkönig«, Vorsteher einer »mafiafreundlichen Partei«, Putinanhänger und »Gotteslästerer« lässt es geschehen. Wäre das nicht wenigstens eine Ohrfeige, ausgeführt mit päpstlicher Hand wert? Wann immer es um Berlusconi geht, bricht die gezügelte Sprache des Erzählers auf, der auch vor dem handgreiflichen Wort »Hurensohn« nicht zurückschreckt.
Achtzig prächtige Zuchthengste, und wir schuldbeladen, Sündenklumpen bis in alle Ewigkeit.
Friedrich Christian Delius: Die linke Hand des Papstes
Es geht um Geld, um Öl, um lukrative Geschäfte mit Gaddafi, um den fast schon naheliegenden Verdacht der Selbstbereicherung, die das Abwiegeln erklären. Korruption statt Werte, mit diesem Zusammenhang berührt Die linke Hand des Papstes die Achillesferse des demokratischen Westens. Berlusconi stellte eine Art Galionsfigur dar, deren verheerendes Wirken in die düstere Gegenwart unserer Tage reicht. Auch wenn die erzählte Zeit in der Novelle noch harmlos wirkt angesichts der alltäglichen Monstrosität des Alltags vierzehn Jahre später, zeigt sie doch die Grundlagen des Verhängnisses.
Doch reicht die Korruption weit zurück in die Vergangenheit. Gaddafis Pferde sind nicht die ersten, die von Libyen nach Italien kamen, um dort etwas zu bewirken. Kein Geringerer als der Heilige Augustinus, so weiß der Erzähler, habe mit einer Bestechung in Gestalt von achtzig Zuchthengsten an den weströmischen Kaiser dafür gesorgt, dass sein Gegenspieler Pelagius aus dem Feld geschlagen wurde. Mit Augustinus’ Sieg hätte die Erbsünde Einzug gehalten in das christliche Dogma.
Was für eine wundervolle Parallelität! Der »anständige Ketzer«, wie sich der Erzähler selbst sieht, der »weder mit der Blindheit der Knieenden noch mit dem Hochmut der Kirchenhasser« geschlagen sei, lässt es krachen. Augustinus’ Gott wolle Unterwerfung, nicht Seligkeit aller Menschen; Frauen gälten als minderwertig – dank eines gelungenen Bestechungsmanövers. Gern würde der Erzähler den neben ihm sitzenden Papst, den Fachmann in dieser Sache befragen, doch dazu kommt es nicht.
Auf diese Weise wird die Bahn bereitet für das unerhörte Ereignis, ein Schelmenstreich des Autors, der dem Papst eine spektakuläre, ungeheuerliche Rede andichtet, die wahrhaftig für Furore gesorgt hätte. Doch hatte die Wirklichkeit auch für den Autor eine handfeste Ungeheuerlichkeit parat. Drei Tage nach dem Versenden des Manuskriptes gab ebenjener Papst seinen Rücktritt bekannt, dem Delius’ Erzähler bei seinem Treffen in der Kirche Anzeichen einer gewissen Schwäche attestierte.
Der Roman ist das zweite Buch aus meinem Lesevorhaben Wiedergelesen – 4für2025
Friedrich Christian Delius: Die linke Hand des Papstes
Rowohlt Verlag 2015
Taschenbuch 128 Seiten
ISBN: 978-3-499-26831-1








