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Pécau, Mavric, Andronik, Verney: Die letzten 100 Tage Hitlers

Die letzten Wochen des so genannten »Dritten Reichs« waren ein apokalyptisches Gemetzel. Nicht nur an den Fronten wurde gestorben, sondern auch in den bombadierten Städten, den Vernichtungs-Lagern und auf den Landstraßen bei Todesmärschen. Bildgewaltig erzählt die Graphic Novel vom blutigen Aberwitz des Untergangs. Cover Knesebeck, Bild mit Canva erstellt.

Träfe eine Bombe diesen Zug, würde das drei Millionen Leben retten.

Pécau, Mavric, Andronik, Verney: Die letzten 100 Tage Hitlers

Auf der ersten Seite der  Graphic Novel Die letzten 100 Tage Hitlers steht ein spektakulärer Gedanke: Eine Bombe auf Hitlers Zug würde drei Millionen Menschen das Leben retten. Es ist 15. Januar 1945, Hitler befindet sich auf dem Weg von der Westfront nach Bayern. Doch zertrümmert der Großangriff der Roten Armee seit dem 13. Januar die deutsche Ostfront.

Hitler fährt also in jenem Zug nach Berlin, wo er erst gut drei Monate später Selbstmord begeht. Ein Bombentreffer hätte seinen Tod früher herbeigeführt. Das im Zitat angestellte Gedankenexperiment wird manchmal auch bei den Attentaten auf Hitler, etwa am 20. Juli 1944 (Stauffenberg) oder dem 8./9. November 1939 (Elser) angestellt.

Stimmt es denn, dass drei Millionen Leben gerettet worden wären? Die Zukunft ist immer offen und niemand kann genau sagen, was nach dem plötzlichen Tod Hitlers geschehen wäre. Man sollte sich jedenfalls davor hüten, den Krieg allein auf diese eine Person oder auch nur die NS-Elite zu reduzieren, der Wille den Krieg (weiter-) zu führen, war weit verbreitet. Das zeigt auch die Graphic Novel, denn immer wieder werden Untaten begangen, ausgeführt und getan, bei denen kein »Befehlsnotstand« herrschte.

Insofern wäre der Krieg möglicherweise nicht so viel schneller und erst recht nicht unblutiger zu Ende gegangen. Bestenfalls hätten die Armeen im Westen und Italien den Widerstand eingestellt oder den Alliierten den Weg ins Reich geöffnet; im Osten wäre eine zusammenbrechende Front wohl einem Blutbad an Soldaten und Zivilisten gleichgekommen, wie es auch in der historischen Realität der Fall war. Gestorben sind in diesem Zeitraum jedenfalls sehr viel mehr als drei Millionen Menschen.

Allein die Wehrmacht hatte rund 1,2 Millionen blutige Verluste zu beklagen . Auf sowjetischer Seite dürfte die Zahl der Toten mindestens in ähnlicher Größenordnung gelegen haben, hinzu kommen noch Millionen Zivilisten, Flüchtlinge, (Kriegs-)Gefangene und Lagerinsassen. Das Gedankenspiel ist dennoch sinnvoll, denn es führt dem Leser vor Augen, wie ungeheuerlich diese recht kurze Zeitspanne von Mitte Januar bis Ende April 1945 war. Der Tod wütete ungehemmt. Die allermeisten Dinge, die im Kreis um Hitler und von ihm selbst besprochen wurden, erscheinen aberwitzig. 

Ich erinnere mich noch an den Hungerwinter von 1917. So hat die Revolution begonnen …
Kein Sorge. Dieses Mal wird es keine Revolution geben.
Und warum nicht?
Weil hier bald nur noch Ruinen stehen … in Ruinen denkt niemand an Revolution, man denkt nur ans Überleben.

Pécau, Mavric, Andronik, Verney: Die letzten 100 Tage Hitlers

Die Graphic Novel lebt vom Kontrast, der bisweilen überwältigt. Hitlers Schwadronieren in der realitätsfernen Welt seines Hauptquartiers wird als unmenschliches Geschwätz entlarvt, wenn lange Bildsequenzen über die Realität in der Außenwelt folgen: harsche Frontimpressionen; von fliegenden Standgerichten verhängte Todesstrafen gegen Soldaten; Bilder von Luftangriffen, die direkt aus der Hölle zu kommen scheinen; das Wüten der SS gegen Zivilisten, Lagerinsassen und Deserteure; irrsinnige »Verhandlungen« mit ausländischen Diplomaten; Flüchtlingskolonnen.

Dann gibt es aber auch Szenen, die zeigen, wie weit die Verrohung und ideologische Indoktrination in die Bevölkerung hineinreicht. Eine aufgegriffene Jüdin, die einem Todesmarsch entkommen konnte, wird von Jugendlichen totgeprügelt. Ärzte töten – ohne Befehl – psychisch Kranke, als die Front heranrückt. Die Auswahl und Gestaltung der Bilder zeigt  die Totalität des Kriegsgeschehens, das von Historikern als »Krieg führen bis fünf nach Zwölf« treffend beschrieben wird. Zugleich gab es aber auch für den Einzelnen Spielräume, die auch für brutalste Gewalttaten genutzt wurden.

Welche Armeen meint er?
Ja, genau das ist das Problem. Welche Armeen meint er?

Pécau, Mavric, Andronik, Verney: Die letzten 100 Tage Hitlers

Wer sich einem monströsen Thema wie der apokalyptischen Agonie des Hitlerregimes befasst, muss auswählen, muss ungeheuer viel mehr weglassen als in ein Buch gleich welchen Umfanges hineinpasst. Das ist außerordentlich gut gelungen, die Dichte der Bild-Erzählung ist beeindruckend und auch die verkürzte Gestaltung lobenswert. Wenn in einem Bild ein Zug Königstiger zum Angriff antritt und den Eindruck einer noch immer bedrohlichen Wehrmacht vermittelt, zeigt ein späteres Bild von einem Schlachtfeld, wie sämtliche deutschen Gegenangriffe in Blut ertranken. Das eine sind die Propaganda-Bilder, das andere die Bilder, die tunlichst weggelassen wurden.

Durch Kontraste dieser Art entwickelt die Graphic Novel eine große Wucht. Die Erzählung des »Untergangs« vermittelt dem Leser die völlige Hilflosigkeit des Einzelnen in diesem Mahlstrom der Vernichtung, Leben oder Tod hingen an Zufällen. Die Partisanen-Aktion »Werwolf« spielte faktisch keine Rolle über den psychologischen Effekt hinaus. Es ist trotzdem wichtig, dass in diesem Band ein, zwei Beispiele aufgeführt werden. Für das einzelne Opfer war der Tod auf der Schwelle zum Kriegsende mehr als tragisch, zugleich unterstreicht das, wie wenig der Vernichtungskrieg nur Hitlers Krieg war.

Wenn es neben einzelnen Fehlern (an einer Stelle ist von Goebbels statt Göring die Rede) etwas zu bemäkeln gäbe, dann das Schweigen über die unmenschliche Behandlung der deutschen Zivilbevölkerung durch die Soldaten der Roten Armee. Die sexuelle Gewalt an Frauen lässt sich nicht einmal mit dem Begriff der Massenvergewaltigung angemessen beschreiben, die wahllosen Tötungen, umfangreichen mutwilligen Zerstörungen, Plünderungen und Deportationen hätten ihren Platz finden sollen. Etwa anstelle des Todes von Hermann Fegelein. Hier fehlen leider ein, zwei Bilder zu dessen barbarischen Handlungen im Ostfeldzug. Der Untergang kam nicht aus heiterem Himmel, ihm ging ein Vernichtungskrieg voraus, der keine der genannten Gewalttaten rechtfertigt, aber einordnet.

Im Nachwort von Robert Lüdecke von der Amadeu Antonio Stiftung wird die Bedeutung der Erinnerungskultur beschworen. Es ist völlig richtig, dass Angriffe der Rechten in Form von Verharmlosungen, Relativierungen abgewehrt werden müssen. Die Verpflichtung zum richtigen Erinnern und den nötigen Schlussfolgerungen gilt jedoch auch für andere. Die Gaspipelines Nordstream 1+2 etwa wurden gegen den Willen osteuropäischer Verbündeter (und Opfern von Hitlers Vernichtungskrieg) errichtet, begleitet von einem unsäglichen, unhistorischen Gleichsetzen von (Putins) Russland mit der überfallenen Sowjetunion 1941. Das sind Schlaglichter einer Erinnerungskultur, die sich in phrasengeschwängerten Sonntagsreden erschöpft und sich selbst negiert. Man muss genau hinsehen, sich dem aussetzen, wie in dieser vorzüglichen Graphic Novel.

Jean-Pierre Pécau (Autor), Senad Mavric, Filip Andronik, Jean Verney (Illustrator): Die letzten 100 Tage Hitlers
Aus dem Französischen von Sarah Pasquay
Knesebeck Verlag 2025
Gebunden 125 Seiten
ISBN: 978-3-95728-934-6

Neue Lektüre: Graphic Novel über Hitlers letzte einhundert Tage

Ein imposantes und aussagekräftiges Coverbild ziert die Graphic Novel, die sich mit der blutigen Agonie des so genannten „Dritten Reichs“ auseinandersetzt.

Heute ist eine hoch interessante Graphic Novel bei mir eingetroffen, deren Titel und Cover keinen Zweifel daran lassen, um welche apokalyptisches Thema es geht. Beginnend mit dem 15. Januar 1945 werden die letzten einhundert Tage Adolf Hitlers und damit die blutige Agonie des so genannten „Dritten Reichs“ erzählt.

Die Zahl der Opfer in dieser Zeit geht in die Millionen, die Zerstörung des Reiches durch Bombardierungen und völlig sinnloser Kampfhandlungen am Boden schritt rasant voran, die Mordmaschine des Regimes lief weiter.

Es war nicht nur Hitlers Krieg, auch das Ende führten unzählige andere Männer ergeben weiter, gegen alle Ratio, Verstand und Einsicht – das ist eine Botschaft der militärgeschichtlichen Forschung. Was das für die Zivilbevölkerung hieß, schildert der brillante Roman Alles umsonst von Walter Kempowski am Beispiel Ostpreußens.

Nun bin ich sehr gespannt, wie die Graphic Novel Die letzten 100 Tage Hitlers von Pécau, Andronik, Marvic, Verney mit dem Thema umgeht. Dafür gibt es noch einen persönlichen Grund: Mein Großvater geriet in Berlin schwerverwundet am 02. Mai 1945 in Kriegsgefangenschaft. 

*Rezensionsexemplar

Derek Marlowe: Ein Dandy in Aspik

Ins geteilte Berlin mitten im Kalten Krieg führt dieser ungewöhnliche Spionageroman mit einem Helden, der für Furore sorgte. Cover Elsinor-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Welches Bild auch immer der Begriff „Aspik“ in den Kopf zaubern mag, ein darin eingelegter – kann man sagen: eingelegt? – Dandy (ausgerechnet) wirkt mindestens schräg, in jedem Fall schillernd und ein wenig unappetitlich. Man assoziiert am ehesten jenen sprichwörtlich im Beton eines Bauwerks entsorgten Ermordeten, der aber dadurch aus dem Blickfeld verschwindet. Was in Aspik verwahrt wird, bleibt verzerrt sichtbar.

Mit dem Titel des Spionage-Klassikers von Derek Marlowe sind die Seltsamkeiten dieses Romans nicht beendet. Die Hauptfigur von Ein Dandy in Aspik tritt dem Leser reichlich dubios entgegen. Zurückgezogen, geradezu isoliert führt Alexander Eberlin sein Leben, ein schweigsamer Hausangestellter ist die einzige Person, die regelmäßig in seinem Haushalt auftritt.

Eberlin ist 36 Jahre alt und findet das Alter missvergnüglich. Zu alt für Übermut und Tatkraft der Jugend, zu jung für die Respektabilität des gesetzten Alters – eine schnoddrig-kauzige Haltung, die zum Dandy recht gut passt, wie seine gute Kleidung. Aber dieses stimmige Bild bekommt früh in der Handlung Risse, denn der billige Wein, der laut Eberlin wie Abwasser schmecke, gehört in eine andere, unkultivierte Welt.

In einer Ecke saßen drei arbeitslose Schauspieler und sprachen von sich selber.

Derek Marlowe: Ein Dandy in Aspik

Während der gesamten Romanhandlung wird der Leser immer wieder mit derartigen Brüchen konfrontiert. Dabei handelt es sich nicht etwa um „Fehler“ des Autors, sondern ein gezielt eingesetztes Stilmittel. Der Leser soll stutzen, verwirrt blinzeln und aufmerksam weiterlesen, ob und wie sich derlei Seltsames irgendwann aufklärt.

Das Leben des Alexander Eberlin ist jedenfalls nicht das, was es zu sein vorgibt. Da wäre der Masarati Mistrale, ein schnittiger Sportwagen im Stile eines James Bond-Autos, mit dem man wunderbar durch das kurvenreiche Südfrankreich brausen kann. Er steht in einer Werkstatt bei Lyon – was Eberlin zur Nutzung von Taxis und Öffentlichen Verkehrsmitteln zwingt.

Martin Compart verweist in seinem vorzüglichen Nachwort zurecht auf die geradezu groteske Vorstellung, James Bond, die Ikone des Kalten-Krieg-Spions, würde mit Bus oder Taxi fahren müssen. Dieser tiefgreifende Bruch mit dem monolithischen Bild des souverän agierenden Agenten-Helden ist Ausdruck eines viel weiter reichenden Risses: Eberlin ist Doppelagent.

Sein eigentlicher Name ist Krasnevin, seine Tätigkeit für die Briten nur Tarnung, eine ziemlich gute, um seinem Job nachzugehen: Töten. Eberlin / Kransnevins Aufgabe besteht darin, gefährliche Agenten auf Seiten der Briten auszuschalten. Er agiert in dieser Hinsicht durchaus erfolgreich.

Er hatte sie unterschätzt. Alles, was jahrelang sorgfältig geplant worden war, begann zusammenzustürzen.

Derek Marlowe: Ein Dandy in Aspik

Damit bekommt das zunächst obskur wirkende Verhalten Eberlins zumindest einen Sinn. Den Agenten ohne Auto plagt Heimweh nach Russland, er möchte zurück, was seine Vorgesetzten ablehnen. Das Motiv prägt die Verhaltensweise der Hauptfigur während des Romans und erklärt vielleicht auch, warum es diesem bisweilen an Professionalität mangelt.

Mehrfach wird er von anderen Agenten, insbesondere seiner Nemesis namens Gatiss, für sein unvorsichtiges, laienhaft dilettantisches Verhalten gerügt. Wieder liegt der Vergleich zu James Bond nahe – man stelle sich das einmal vor … Recht früh zeig sich, wie sehr Eberlin seinen Kontrahenten Gatiss fürchtet, er fürchtet eine Enttarnung.

Ein Dandy in Aspik spielt in den 1960er Jahren, mitten im Kalten Krieg, kurz nach dem Mauerbau – also in einer untergegangenen Welt. Die entlang klarer Linien verlaufende Konfrontation von West und Ost, Demokratie und Autokratie ging mit einer Dämonisierung des Gegners einher, der Typus des kommunistischen Ostagenten weicht von Eberlin / Krasnevin beträchtlich ab.

Derek Marlowe spielt in seinem Roman ein wenig mit diesem holzschnittartigen Gut-Böse-Schema, Heimweh will nämlich nicht recht zum Bild des ideologisch motivierten Agenten aus der Sowjetunion passen. Sicher ist es kein Zufall, dass ausgerechnet Gatiss den hochprofessionellen, kalten, emotionslos-unmenschlich handelnden Agenten verkörpert, der für den Westen arbeitet.

Jetzt hatte er glücklich drei Namen. Eberlin, die Dreifaltigkeit.

Derek Marlowe: Ein Dandy in Aspik

Eberlin wird auf eine Mission nach Berlin entsandt, der symbolgeladenen Frontstadt des Kalten Krieges. Inter dem Decknamen George Dancer soll er nach Krasnevin suchen. Er jagt also sich selber, eine wunderbare Quelle für haarsträubende Situationen, die Marlowe weidlich ausnutzt. Besonders groteske Umstände ergeben sich anlässlich eines Versuchs, die Grenze nach Ostberlin zu überschreiten.

Eberlin / Krasnevin / Dancer versucht, nach Osten zu entkommen, um sich der persönlichen Gefährdung zu entziehen und seinem Heimweh gegen den Willen seiner Vorgesetzten den Stachel zu nehmen. Wer einmal selbst einen Grenzübertritt in die DDR unternommen hat, wird die Umstände von Eberlins Versuch als schauerliche Reminiszenz empfinden, jene uniformiert-abweisende Unhöflichkeit, kaum verborgen vom Schleier bürokratischer Worthülsen und Ausflüchte.

Die Zwangslage, in der sich Eberlin befindet, spitzt sich stets zu, die Handlung ist zunehmend von Rasanz und abrupten Wendungen geprägt. Fast unnötig zu erwähnen, wie spannend das ist, obwohl Marlowe es versteht, auch das mit einem ironischen, sarkastischen Unterton zu erzählen.

Viele Dialoge von Ein Dandy in Aspik sind von befremdlicher Krautigkeit. Wo professionell-kühle Gesprächsführung zu erwarten wäre, sind die Wortbeiträge oft ein sprunghaftes, von Assoziationen getriebenes Mäandern. Vielleicht ist das auch ein Echo eines spezifischen Lebensgefühls, das möglicherweise viele Zeitgenossen befallen hatte, sei es im mauerdurchschnittenen Berlin, sei es auf den britischen Inseln: der Eindruck, in einer unwirklichen Welt zu leben.

Wie bei den anderen Bänden der Klassiker-Reihe aus dem Elsinor-Verlag ist auch bei Ein Dandy in Aspik das Nachwort von Martin Compart absolut lesenswert, denn es erhellt den Entstehungsprozess des Buches und gibt dem Leser einen Einblick in das Leben des Autors. Hinzu kommt noch ein sehr interessanter Beitrag Rolf Giesen über die kuriosen Umstände der Verfilmung des Buches.

[Rezensionsexemplar]

Weitere Besprechungen der Klassiker-Reihe:
Fearing, Kenneth: Die große Uhr.
Buchan, John: Der Übermensch.
A.D.G.: Die Nacht der kranken Hunde.
John Mair: Es gibt keine Wiederkehr.

Derek Marlowe: Ein Dandy in Aspik
Aus dem Englischen von Erika Nosbüsch
Ein Klassiker des Spionageromans
Hrsg. von Martin Compart
Elsinor Verlag 2024
Klappenbroschur 256 Seiten
ISBN: 978-3-942788-74-8

Volker Kutscher: Lunapark

Berlin, 1934. Ein toter SA-Mann; Machtkampf zwischen SA und SS; »Röhm-Putsch«, es herrscht das Recht des Stärkeren. Mittendrin Gereon Rath, in einer selbst gestellten Falle. Aus diesem Gemenge kommt keiner unbeschädigt davon. Cover KiWi, Bild mit Canva erstellt.

Jenseits der Mitte des Romans hat Reinhard Heydrich seinen Auftritt und die Tonart der Erzählung ändert sich. Lunapark von Volker Kutscher rutscht wie die Gesellschaft des Deutschen Reiches 1934 und die Protagonisten immer tiefer hinein in die Dunkelheit eines zutiefst menschenverachtenden Regimes, das zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr so einfach aus dem Sattel zu heben war.

Kommissar Gereon Rath wirkt äußerlich und in seinen Handlungsmustern wie gewohnt, Extratouren ohne Rücksicht auf die Vorgesetzten, Kommunikation und Rapport werden sporadisch erledigt, hinter einer Nebelwand geht der Ermittler sehr eigene Wege, die keineswegs nur mit dem Fall zu tun haben. Seine politische Haltung irrlichtert unverändert zwischen Leichtfertigkeit und Ahnungslosigkeit. Doch etwas hat sich  grundlegend gewandelt.

Der Tote, der die Handlung in Gang bringt, ist ein SA-Mann; ein Mord, der allein deswegen schon über das hinausragt, was die Kriminalpolizei gewöhnlich zu bearbeiten hat. Doch in diesem Fall liegt der Tote zu Füßen eines Graffitis, das unverkennbar die Handschrift von Kommunisten trägt, denn es ruft zum Widerstand gegen das Nazi-Regime auf.

Gräf und all die anderen hier im Raum waren nicht an der Wahrheit interessiert, sondern nur daran, Kommunisten zu jagen.

Volker Kutscher: Lunapark

So treffen sich am Tatort Kripo und Gestapo – in Person von Gereon Rath und Reinhold Gräf, dem ehemaligen Kollegen, der dem Ruf der Politischen Polizei gefolgt ist und dort Karriere machen will. Rath hat in Märzgefallene bereits Bekanntschaft mit der Staatspolizei gemacht, wie der Leser weiß er um die Machenschaften dieser Behörde, deren Zuchtrute die Angst ist.

Heinrich Himmler hat den regimeinternen Machtkampf gegen Herrmann Göring gewonnen und damit begonnen, die Polizei unter seine Kontrolle zu bekommen; so wird aus der Politischen Polizei die Gestapo und so kommt Heydrich in Berlin zu seinem Auftritt. Der Leser weiß ja schon: 1934 ist das Jahr des so genannten »Röhm-Putsches«, in dessen Verlauf die SA-Führung brutal ermordet wird und unliebsame Zeitgenossen ebenfalls sterben müssen.

Kutscher hat es wieder geschafft, einen historischen Meilenstein äußerst geschickt in die Handlung einzuflechten, wie schon Preußenschlag, Reichstagsbrand und Bücherverbrennung, ohne dass der Roman zu einer drögen Geschichtsstunde verkommt; die Spannung führt den Leser am Gängelband. Der Kniff: Kutscher verwischt ebenso gekonnt wie radikal die gewohnten Grenzziehungen zwischen Recht und Unrecht, Gut und Böse.

»Rath fragte sich, wer noch alles an dieser katholisch-kommunistischen Verschwörung beteiligt sein mochte.«

Volker Kutscher: Lunapark

Lunapark geht dabei noch einen entscheidenden Schritt weiter als die vorangegangenen Teile der Romanreihe. Wer während des Lesens einmal innehält und versucht, die Handelnden, ihre Motive und Mittel nach moralischen Maßstäben zu ordnen, blickt auf ein unentwirrbares Knäuel; alles ist gründlich durcheinandergeraten. Der Versuch, nach dem Freund-Feind-Schema zu sortieren, verheddert sich hoffnungslos.

Für den notorischen Lavierer Rath immer schwerer wird, sein (Über-)Lebenskonzept erfolgreich weiterzuführen. Das liegt auch daran, dass die Hauptfigur eine unlautere Vergangenheit hat, die ihn in diesem Roman einholt, selbstverständlich eng verknüpft mit dem »Fall«, der so auch für ihn eine ganz persönliche Ebene bekommt, dazu eine lebensbedrohliche, denn der Kommissar findet sich in einer Zwickmühle wieder.

Rath antwortete mit dem schlampigen Hitlergruß, den er sich in den vergangenen Monaten angewöhnt hatte, und nuschelte sein »Heil!«

Volker Kutscher: Lunapark

Als wäre das nicht genug, geht es auch in der Familie Raths kompliziert zu: Adoptivsohn Fritze möchte zur HJ, was auf erbitterten Widerstand von Charlotte stößt, die unliebsame Bekanntschaft mit den Methoden der Nazis, namentlich der SA macht. Bruchlinien tun sich auf, das Lavieren mündet in handfesten Lügen, die üble Folgen zeitigen können. Die familiären Tischszenen sind sehr authentisch und lassen den Leser – bei allem Drama – oft schmunzeln.

Das Schmunzeln vergeht jedoch, als der Thrill seinem Scheitelpunkt entgegenstrebt. Nicht allein die haarsträubende Showdown-Szene ist dafür verantwortlich, sondern das, was dem folgt: Aus Bruchlinien werden handbreite Risse, familiär, beruflich und persönlich. Der sechste Band der Reihe entwickelt seine Protagonisten so weiter, dass der Leser gern sofort zum nächsten Teil greifen möchte – ein Vorzug, wenn man spät zur Party kommt und fast alle bereits erschienen sind.

Groß ist Lunapark aber wie die Vorgängerbände wegen der Atmosphäre. Die Bedrückung, das Ducken, heimliche Spucken, lautlos und ängstlich, während andere sich dem Regime andienen, machen einen großen Teil dessen aus, was den Leser unter Spannung setzt. 1934 ist es für fast alles zu spät, das Kind liegt im Brunnen, Recht ist nur noch das des Stärkeren; wie ein Endzeitroman warnt Lunapark auch vor dem, was (wieder) kommen könnte.

Vor allem ist Lunapark aber ein handfester Kriminalroman mit vielen überraschenden Wendungen, sehr spannenden Szenen und Schockmomenten, Spiel und Gegenspiel und Gegengegenspiel, in dem viele von gegensätzlichen Interessen getriebene Akteure in der Arena einer Millionenstadt gegeneinander antreten, über der jener Schatten immer tiefer wird, der für immer mit dem Begriff Nationalsozialismus verbunden ist.

Weitere von mir besprochene Romane der Buchreihe:
Volker Kutscher: Die Akte Vaterland.
Volker Kutscher: Märzgefallene.
Volker Kutscher: Marlow.
Volker Kutscher: Olympia.
Volker Kutscher: Transatlantik.

Volker Kutscher: Lunapark
KiWi 2018
TB 560 Seiten
ISBN: 978-3-462-05161-2

Jason Lutes: Berlin

Eine epische Grafic Novel erzählt die Ereignisse der dem Abgrund entgegentaumelnden Weimarer Republik aus vielen, spannenden Perspektiven. Cover Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Volker Kutscher, Autor der von mir sehr geschätzten Romane um den Kriminalkommissar Gereon Rath, ist es zu verdanken, dass ich auf diesen Schatz aufmerksam geworden bin. Seine lobenden Worte auf dem Cover dieses wahrlich dicken Schinkens haben mich zu einem zweiten Blick bewogen, obwohl ich mit Grafic Novels bislang nicht so viel anfangen konnte.

»Ein opus magnum, eine Sinfonie der Großstadt, eine Comic-Sinfonie.« Kutschers Worte erweisen sich als wahr: Die Lebensumstände im Berlin der Jahre 1928 bis 1933 werden vielschichtig erzählt und ganz wundervoll ins Bild gesetzt. Die Darstellung wirkt karstig, garstig, schwarz-weiß und frei von allem Glamour.

Freunde von »Babylon Berlin« werden möglicherweise die Nase rümpfen, denn in Lutes Berlin gibt es keine Charlotte Ritter; die Figuren bilden ein breites, widersprüchliches Spektrum der Bevölkerung und sozialer Schichten ab, Jason Lutes hat es meisterhaft verstanden, in kargen Zeichnungen ihre Befindlichkeiten einzufangen.

Geschickt werden Ereignisse und Begebenheiten neben- und nacheinander montiert, Lutes verzichtet zum Glück auf jede Form moralinsaurer Belehrungen. Trotzdem bezieht »Berlin« klar Stellung gegen die brutalen, grobschlächtigen und in ihrem Wesenskern gar nicht so unähnlichen Gewaltextreme der Zeit.

Vor- und Nachwort geleiten den Leser, außerdem findet sich in der Gesamtausgabe noch ein sehr interessantes Interview mit dem Zeichner. Toll hat mir das Berlinern einiger Figuren gefallen und – soviel darf gesagt werden – es endet trotz der Machtübertragung an Hitler 1933 nicht alles in depressiver Schwärze.

[Ein Bibliotheksfund, daher unbezahlt]

Jason Lutes: Berlin
aus dem Amerikanischen von Heinrich Anders
Berlinerisch von Lutz Göllner
Carlsen Verlag 2019
HC 610 Seiten
ISBN 978-3-551-76820-9

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