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Andrej Kurkow: Samson und Nadjeschda

Ein wunderbarer Roman mit handfester Ermittlerarbeit im Kyjiw des Jahres 1919. Cover Diogenes, Bild mit Canva erstellt.

Der Bürgerkrieg zwischen den Roten und Weißen im Gefolge der Oktober (November)-Revolution 1918 bildet den Auftakt für zwei äußerst blutige Jahrzehnte in der Sowjetunion. Erst nach Stalins Tod Anfang der 1950er Jahre ist der Blutzoll im geographisch größten Land der Erde, das politisch, gesellschaftlich, technologisch und in vielen anderen Bereichen immer noch weit vom Westen entfernt ist, geringer geworden.

Buchstäblich mitten hineingeworfen in den Strudel aus Gewalt wird der Leser des Romans Samson und Nadjeschda von Andrej Kurkow. Die Hauptfigur verliert seinen Vater durch den Säbelhieb eines Kosaken und sein Ohr. Eine dramatische Szene, direkt am Anfang, die jedoch keine falschen Erwartungen wecken sollte: Action und explizit geschilderte Gewalt halten sich über weite Strecken der erzählten Geschehnisse in Grenzen.

In diesen Zeiten ist manchmal auch nicht klar, wo das Gute ist und wo das Böse.

Andrej Kurkow: Samson und Nadjeschda

Stattdessen erzählt Kurkow seine Geschichte in einem eher plüschig wirkenden Tonfall. Gesetzt und gediegen wirken Sprache und Handlungsweise Samsons, in gewisser Weise Teil des kleinen, vorrevolutionären Bürgertums. Er taumelt. Der Krieg hat die Gesellschaft ohnehin erschüttert, Revolution, Bürgerkrieg und Gesetzlosigkeit haben der Sicherheit den Garaus gemacht. Alles wirkt improvisiert, chaotisch, viele Zeitgenossen führen Tätigkeiten aus, für die sie gar nicht qualifiziert sind.

Die Konfrontation mit dem Tod seines Vaters und der eigenen Verstümmelung vertiefen die Orientierungslosigkeit des Protagonisten. Kurkow lässt ihn einige Zeit durch Kyjiw irren, bei seinem Versuch, in der sich rasant verändernden Welt Fuß zu fassen. Die neue Macht in der ukrainischen Großstadt macht sich recht bald durch zwei Rotarmisten bemerkbar.

Die beiden Soldaten kundschaften Samsons Wohnung aus, indem sie vorgeben, Nähmaschinen zu suchen, um sie zu requirieren; etwas später quartieren sie sich unter Vorlage eines obskuren Dokuments bei ihm ein, besetzen ein Zimmer und verwenden die Bleibe, um ihre Beute abzustellen. Die Rotarmisten nutzen nämlich die halbanarchischen Zustände als Gelegenheit, um sich zu bereichern.

Samson wird nach einigem Vorlauf und mehr durch Zufall Teil der neuen Macht, indem er der Miliz beitritt und Teil der Ordnung wird. Das ist fast ein wenig komisch, denn von polizeilichen Ermittlungen versteht er überhaupt gar nichts; trotzdem findet er sich plötzlich bewaffnet, mit entsprechenden Papieren und Kleidung ausgestattet auf der Seite der Bolschewisten wieder – ohne selbst einer zu sein.

»Ordnungen gibt es verschiedene.« Der Arzt biss sich auf die Lippen. »Es gibt die bolschewistische Ordnung, es gibt die anarchische von diesem Machno, und es gibt die weiße, denikinsche. Sie stehen alle auf keinem Papier und ändern sich wie das Wetter in England.«

Andrej Kurkow: Samson und Nadjeschda

Merkwürdig indifferent bleibt die Haltung Samsons, die am ehesten mit dem Drang nach bürgerlicher Anständigkeit beschreibbar wäre. Nadjeschda, die erst nach einer geraumen Zeit und dann auch noch im Rahmen heiratsvermittlerischer Aktivitäten der Hausmeisterwitwe in Samsung Heim auftritt, ist ganz anders: Sie verkörpert jenen zukunftsoptimistischen Sowjetbürger, der sich ebenso entschlossen wie naiv in den Dienst der Sache stellt. Nadjeschda, obschon im Titel genannt, bleibt recht blass und passiv, was ein wenig schade ist.

Die Lage ist aber während der gesamten Handlung begleitet von dem Eindruck einer nahen Bedrohung. Immer wieder ist von den Weißen und ihren Generälen die Rede, es gibt Aufstände, an deren Niederschlagung auch die Miliz teilnehmen soll. Militär und Polizei sind ohnehin eng miteinander verwoben, oft begleiten Rotarmisten Samson bei seinen Ermittlungen, umgekehrt muss er an nächtlichen Patrouillen teilnehmen.

Der Protagonist bleibt von einem Kampfeinsatz verschont, angesichts der Erbarmungslosigkeit, die im Buch nur genannt, nicht explizit beschrieben wird, für Samson ein ein großes Glück. Brutal geht es aber auch in den Straßen Kyjiws zu, als Gefangene aus den Kellern des Polizeigebäudes ausbrechen. Ein Toter liegt lange auf der Fahrbahn vor dem Gebäude des Miliz; Samson wird von seinem Kollegen davon abgehalten, einem Fliehenden in den Rücken zu schießen.

Samson, den Nagant im Anschlag, versuchte schnell zu entscheiden, in welchen der sich entfernenden Rücken er schießen sollte. »Lass das«, hielt ihn Wassyl auf. »Was bringt dir das?«

Andrej Kurkow: Samson und Nadjeschda

Unterdessen entwickelt sich tatsächlich ein Kriminalfall, eng verwoben mit dem politischen Durcheinander. Ohne die nötige Schulung, gar nicht zu reden von Ausrüstung und Erfahrung, macht Samson sich daran, den Mörder eines seiner Kollegen aufzuspüren. Dabei nutzt der findige Ermittler-Frischling aber auf intelligente Weise seine bzw. Nadjeschdas Möglichkeiten, die im statistischen Büro arbeitet und an einem Zensus beteiligt war – ein Ansatz für Samson, seinen Fall voranzubringen, der auf eine Weise schön aufgelöst wird.

Samson und Nadjeschda ist kein klassischer Krimi, wie deutlich geworden sein dürfte. Die Ermittler-Tätigkeit des Helden ist einem Zufall geschuldet, von dem Versuch, sich zu orientieren, in der aus den Fugen geratenen Welt einen Platz zu finden und anständig zu bleiben. Eigentlich ist das zum Scheitern verurteilt und man darf gespannt sein, wie lange es Kurkow gelingt, seinen Helden unbescholten durch das blutige Chaos zu lavieren.

Ach, ja: das Ohr. Samson bewahrt sein Ohr auf, denn es leistet ihm als abgetrennter Körper weiterhin gute Dienste, weil es ihn hören lässt, was im Umfeld des alleinstehenden Organs geschieht. Eine skurrile, alle Realitäten verspottende Idee, die aber gerade im Rahmen des sowjetischen Realismus einen gehörigen Charme hat. Möglicherweise ist das Ohr Kurkows zwinkerndes Auge in Bezug auf die historische Bodenständigkeit seines Romans.

Andrej Kurkow: Samson und Nadjeschda
aus dem Russischen von Johanna Marx und Sabine Grebing
Diognes 2022
Hardcover Leinen 368 Seiten
ISBN: 978-3-257-07207-5

Tony Hillerman: Tanzplatz der Toten

Wunderbarer Sarkasmus gehört dazu, wenn die Navajo-Police ihre Ermittlungen aufnimmt. Der Auftaktband war sehr überzeugend. Cover Unionsverlag, Bild mit Canva erstellt.

Warum? Warum? Warum? Polizisten, Detektive, Agenten – Ermittler aller Art sind immer auf der Jagd nach dem Motiv, dem Beweggrund für eine Tat, welcher Natur sie auch immer sein mag. Autoren von Romanen mit kriminalistischem Kern brauchen also eine Quelle, aus der sie Motive schöpfen können; Tatmotive für ihre Täter und Handlungsmotive für ihre Figuren.

Tony Hillermans Quelle für Tanzplatz der Toten ist die Mythologie der Zuñi, einer indianischen Gemeinschaft in den USA. Der Ermittler, Joe Leaphorn, gehört aber den Navajo an, wie schon der Klappentext informiert, hält er sich gewöhnlich aus den Angelegenheiten der Zuñi heraus. Im Handlungsverlauf klingt die Kluft zwischen beiden Gemeinschaften immer wieder an, es gibt eine überraschend klare Abgrenzung in „wir“ und „sie“.

Sollte sich die Zuñi-Fliege tatsächlich dazu herablassen, über die Hand eines Navajo zu spazieren?

Tony Hillerman: Tanzplatz der Toten

Es liegt einige Bitterkeit in diesen Worten, aber auch eine gehörige Portion Ironie. Leaphorn macht von ironischen Betrachtungen und Äußerungen dosiert Gebrauch. Dosiert beschreibt auch treffend die Figurengestaltung: Hillerman lässt bemerkenswert viel von seinem Charakter unerklärt, eine Reihe von Facetten der Persönlichkeit des Navajo kann der Leser aus seinen Worten und Handlungen erschließen.

Das ist eine sehr schöne Herangehensweise, denn so wird der Leser immer wieder überrascht, während sich das Bild von Lieutenant Joe Leaphorn weiter zusammensetzt. Da es sich um den Auftakt einer Buchreihe handelt, hat sich der Autor für die folgenden Bände jede Menge Spielraum für die Entwicklung dieser Romanfigur belassen, was sehr zu begrüßen ist.

Trotz des Trennenden sind die beiden Jungen George und Ernesto miteinander befreundet, ja, der Navajo George möchte gern Zuñi sein, von der einen in die andere Gemeinschaft wechseln. Das ist faktisch unmöglich und zugleich der Ausgangspunkt eines Dramas, an dessen Anfang das Verschwinden beider Jungen steht, und das immer weitere Kreise zieht.

Leaphorn ist durch die unterschiedliche Zugehörigkeit der Jungen gezwungen, bei seiner Ermittlung mit den den Kollegen der Zuñi zusammenzuarbeiten. Nolens, volens, versteht sich. Die Spurensuche entfaltet vor den Augen des Lesers viele interessante Details der Lebenswirklichkeit der indianischen Gemeinschaften, ohne je in anthropologischen Info-Dump zu verfallen.

In die Kultur der Navajo will ich die Leser und Leserinnen hineinziehen.

Tony Hillerman: Tanzplatz der Toten

Die Umstände sind allesamt eng mit der Auflösung des Falles verbunden, gleichgültig, ob es sich um soziale Faktoren wie Trunksucht, Armut, bürokratische Aspekte wie die Zuständigkeiten oder Grenzverläufe oder eben die Mythologie handelt. Zu den ganz besonderen Momenten gehört das Gespräch Leaphorns mit einem katholischen Geistlichen (ausgerechnet!) über die beiden Jungen und die Mythen der Zuñi – ein Schlüssel für die Handlungsmotivation von George.

Zuhören und Geduld sind zwei der wichtigsten Ermittlungsmethoden des Navajo-Polizisten, Leaphorn bringt oft durch aufmerksames Schweigen seine Gegenüber zum Reden. Außerdem ist er ein brillanter Spurenleser, ein Motiv, das clichéhaft in Western aller Art vorkommt und von Hillerman geschickt adaptiert, aufgewertet und in seine Geschichte eingeflochten wurde.

Dort hatte er sich umgedreht, sich niedergehockt, wie seine Fußabdrücke mit dem stärker belasteten Ballen verrieten, und hatte mit dem Gesicht zur Lichtung gewartet.

Tony Hillerman: Tanzplatz der Toten

Leaphorn ist in der Lage, Geschehnisse aus Spuren durch seine genaue Beobachtungsgabe zu rekonstruieren. Dabei greift er auch auf andere für den mitteleuropäisch sozialisierten Leser ungewöhnliche Kenntnisse zurück, etwa Aspekte der rituellen Jagd: Sie weisen ihn auf Abweichungen von der Norm hin, aus denen er bestimmte Rückschlüsse über das Verhalten des Jägers ziehen kann.

Das wirkt alles sehr authentisch und erhöht die Spannung immens. Dazu trägt auch bei, dass der Ermittler dem Pfad der Rationalität folgt, Unlogik ist ihm verhasst. Er extrahiert die wichtigen Fakten aus den zum Teil surreal wirkenden mythologisch geprägten Erzählungen, wodurch diese (wie auch die Ermittlungen) nicht zu esoterischem Gedöns verkommen. 

Er hatte plötzlich das Gefühl, von der Wirklichkeit ins Surreale zu wechseln.

Tony Hillerman: Tanzplatz der Toten

Die indianischen Gemeinschaften sind dabei nicht nur unter sich. Auch der »Weiße Mann« ist in der Gegend, in Gestalt von Forschern, die auf der Suche nach bahnbrechenden Erkenntnissen über den Folsom-Menschen graben, oder einer Schar Hippies, die Hippie-Dinge tun. Auch das FBI gibt sich die Ehre und wird – geradezu klassisch – mit einigem verächtlichen Spott überzogen.

Der in seinem Äußeren wie Denken fast geklont wirkende Agent O´Malley, „zackiger Haarschnitt, sauber gewaschen, geschniegelt und unbelastet von übermäßiger Intelligenz“, tappt bei seinem Auftreten zielsicher in einer Reihe von Fettnäpfchen, die von den Navajo und Zuñi einträchtig mit sarkastischen Kommentaren quittiert werden.

Mein Daddy hatte eben doch recht, sagte Pasquaanti. Trau keiner verdammten Rothaut, hat er immer gesagt.

Tony Hillerman: Tanzplatz der Toten

Pasquaanti vertritt die Zuñi-Police, er ist derjenige, mit dem Leaphorn im Fall der beiden vermissten Jungen kooperiert. Die aus vielen anderen Büchern und Filmen sattsam bekannte Zugeknöpftheit des FBI bekommt hier eine rassistische Note. Die Perspektive des Romans bringt umgekehrt einige – für mich sehr schöne und auch komische – Sichtweisen mit sich.

Das Auftreten des FBI ist keineswegs nur eine Art Gimmick. Es zeigt die Eskalation des Falles und der Ermittlungen, die Suche nach Vermissten wird zur Jagd nach einem Mörder und berührt ganz andere Bereiche, wie Drogenhandel. So zeitlos der Roman wirkt, an einigen Stellen schimmert durch, dass er Anfang der 1970er Jahre verfasst wurde. In Vietnam kämpfen die USA noch immer ihren verlorenen Krieg, ein Nebeneffekt ist der steigende Drogenkonsum.

Die indianischen Gemeinschaften leben nicht isoliert von der übrigen Welt, auch der Ermittler Leaphorn nicht. Ganz am Ende des Romans wird seine Neugier deutlich, die vorher schon mehrfach angedeutet wird. Der „Weiße Mann“ gehe an die Dinge völlig anders heran, als „wir Indianer“; so verabschiedet er sich aus dem Roman mit der Ankündigung, er wolle „noch mehr darüber herausfinden, was in den Weißen vor sich geht.“ Angesichts des verheißungsvollen Auftakts eine Einladung für die ausstehenden Teile, der ich gern Folge leisten werden.

[Rezensionsexemplar, daher Werbung]

Tony Hillerman: Tanzplatz der Toten
aus dem Englischen von Helmut Eilers
Unionsverlag 2023
TB 224 Seiten
ISBN 978-3-293-20953-4

Volker Kutscher: Die Akte Vaterland

Ein schönes, stimmungsvolles Cover, mit dem Haus Vaterland, gelungen wie der ganze Roman. Cover Kiepenheuer und Witsch, Bild mit Canva erstellt.

Buchreihen sollten sich steigern. Volker Kutscher ist das mit seiner Reihe um Gereon Rath gelungen. Der vierte Band, Die Akte Vaterland, in der Reihe um den in Berlin tätigen Kommissar hat mir deutlich besser gefallen als die ohnehin guten Vorgänger. Das liegt an der größeren Vielschichtigkeit, sowohl der Handlungsstränge als auch der Themen. Die Handlung setzt im Sommer 1932 ein, die Weimarer Republik lauscht dem Lied vom Tod.

Rath, der Unpolitische, wird Zeuge von tiefgreifenden Veränderungen. Die Regierung Brüning ist gestürzt und ersetzt durch eine unter der Leitung von Papens. Die SA, Hitlers braungewandete Schlägerbande, terrorisiert wieder die Straßen, die Gewalt, die durch das zeitweilige Verbot unter Brüning eingedämmt wurde, schwillt wieder an. Für die Polizei eine zusätzliche Belastung – doch ist schon spürbar, wie die braune Gülle auch in deren Reihen eindringt.

Kutscher verknüpft auf ganz wunderbare Weise die veränderte Stimmungslage mit dem Fall, der Rath beschäftigt. Dieser wehrt sich nach Kräften, sich mit den politischen Verhältnissen auch nur zu beschäftigen, doch die Morde, denen er nachzugehen hat, sind mit Nationalismus, Rassismus und völkischem Gepöbel eng verwoben. Die Wurzeln und Motive der Tat, die nach und nach aufgedeckt werden, reichen in die Vergangenheit, in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, den blutigen Wirren im Osten.

Ganz nebenbei erfährt der Leser einiges über die – in der Rückschau – kaum fassbaren Verhältnisse dieser Zeit. Rath muss Berlin verlassen und seine Ermittlungen in Ostpreußen durchführen, genauer gesagt im Grenzbereich zu Polen. Vor Ort wird er mit der heiklen Wirklichkeit konfrontiert, die in einer unerschütterlichen Treue zu Preußen und dem Reich etwa der masurischen Bevölkerung besteht – die trotz ihrer eher dem Polnischen zuneigenden Sprache klar pro-deutsch eingestellt sind.

Sie glauben nicht, wer sich alles in diesem Land unter Preußens Krone eingefunden hat im Laufe der Jahrhunderte: Deutsche, Franzosen, Holländer, Schlesier, Litauer, Juden und natürlich Polen. Und alle verstehen sie sich als Preußen.

Volker Kutscher: Die Akte Vaterland

Politische Agitatoren nutzen dies aus, schüren den Hass auf die polnischen Nachbarn, gestützt auf braun-uniformierte Schlägertrupps wird jedem Andersdenkenden zugesetzt. Ein Verhalten, das bereits Tradition besitzt, verändert haben sich die Äußerlichkeiten und der verschärfte Revanchismus. Kutscher hat diese Dinge geschickt in die Aufdeckung des Falles eingeflochten, der Leser wird – wie Rath – damit konfrontiert, ohne das Gefühl zu haben, im Geschichtsunterricht zu sitzen.

Was mir besonders gefällt, ist die Figur des Kommissars Gereon Rath, der neben Ecken und Kanten eben auch ganz unverkennbare Schatten in seiner Persönlichkeit hat. Er mag die Braunhemden nicht, ist aber nicht unbedingt ein erklärter oder gar aktiver Demokrat; er liebt seine Charlotte Ritter, bricht jedoch sein Wort und verhält sich in einer Weise, zeitgemäß mit viel Patina bedeckt ist, etwa in seiner ritterlichen Attitüde. Kein einfach gestrickter Held, mir umso lieber. Und so freue ich mich auf den fünften Teil.

Ein kleiner Lese-Tipp noch: Harald Jähners Höhenrausch ist ein perfekter Begleiter für die ersten Teile der Krimireihe von Volker Kutscher. Das Haus Vaterland spielt dort – wie vieles andere – auch eine Rolle, vor allem aber erfährt der Leser eine Menge über Stimmungen, Mentalitäten, Rollen und deren Entwicklung während der Weimarer Republik.

Volker Kutscher: Die Akte Vaterland
Kiwi-TB 2014
576 Seiten
ISBN: 978-3-462-04646-5

Kenneth Fearing: Die große Uhr

Die große Uhr ist ein sehr spannender, unterhaltsamer Noir-Thriller aus den 1940er Jahren. Cover Elsinor-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Wer zu einem Klassiker greift, erwartet Patina. Kenneth Fearings Die große Uhr hat in dieser Hinsicht einiges zu bieten. Die Technologie der 1940er Jahre und die an die Zukunft geknüpften, einigermaßen ulkig anmutenden Erwartungen etwa; die Drinks und Rauchwaren immer und überall, vom anfangs aufscheindenden Frauenbild einmal ganz zu schweigen.

Im Fremden schärft sich aber auch immer das Bild der eigenen Gegenwart, als blicke man in einen verzerrten Spiegel, der neben den Unterschieden eben auch Bekanntes wiederkennen lässt. Die Medienkritik, die Fearing übt, lässt sich in vielerlei Hinsicht auf die heutige Zeit übertragen, aber auch seine Sicht der problematischen Seiten einer kapitalistischen Gesellschaft.

Im Kern handelt es sich bei dem Roman aber um einen Noir-Thriller, Spannung gibt es eine Menge, nach einer recht ausführlichen Exposition. Man darf dankbar sein, dass Die große Uhr nicht jene im Übermaß anzutreffende Erzähl-Struktur eines kurzen, dramatischen Häppchens zu Beginn mit nachfolgendem Rückblick aufweist, sondern – klassisch – erzählt. Spannungsjunkies, die schon nach einer halben Seite ihren Kick brauchen, sollten vielleicht besser die Finger von dem Roman lassen.

Ich glaube nicht an eckige Pflöcke in runden Löchern. Der Preis ist zu hoch.

Kenneth Fearing: Die große Uhr

Zwielichtig ist es von Anbeginn an. Die Hauptfigur, George Stroud, lebt in scheinbar wohlsituierten Verhältnissen: Frau, Kind, Job als Chefredakteur einer True-Crime-Zeitschrift, ein eigenes Häuschen in Aussicht. Doch das Selbstgespräch vor dem Spiegel im zweiten Kapitel lässt Abgründe erahnen, die Strouds Leben belasten, privat und beruflich.

Nicht nur Tagträume bilden einen illusorischen Weg aus der als unerträglich empfundenen Realität, der Protagonist ist ein notorischer Fremdgänger. Sein sexuelles Begehren wird ausgerechnet von Pauline Delos geweckt, der Geliebten seines Chefs Earl Janoth, beide landen gemeinsam im Hotelbett und das Drama, das sich von der ersten Seite ankündigt, nimmt seinen Lauf.

Ein jäher Wendepunkt setzt Spiel und Gegenspiel in Gang, das den Leser bis zum Ende in Atem hält. Dank der gelungenen Exposition der Handlung befindet sich George Stroud in einer vertrackten Zwangslage, er muss ein Ermittlungsteam auf sich selbst ansetzen – es ist nicht nur für ihn unheimlich, sein Ego Stück für Stück enthüllt zu sehen. Die gesuchte Person, also er selbst, steht unter Mordverdacht, und so muss Stroud alles tun, um den Fortgang der Suche zu behindern.

(…) stand ich vor dem Janoth-Building, das wie eine unsterbliche Gottheit aus Stein inmitten eines Häuserwaldes aufragt.

Kenneth Fearing: Die große Uhr

Sein eigenes (Fehl-)Verhalten zwingt ihn zu diesem Doppelspiel, er will vermeiden, dass er sein Leben oder seine Familie verliert. Welchen Wert diese hat, angesichts seines Lebenswandels, bleibt offen; er könnte nur um die bequeme bürgerliche Fassade besorgt sein oder aber angesichts des drohenden Verlusts ihre tatsächliche Bedeutung für ihn erkannt haben.

In jedem Fall reicht die Motivation, sich dem lebensgefährlichen Drahtseilakt auszusetzen. Gefahr droht, denn in der vom Takt der »großen Uhr« beherrschten Welt ist ein Menschenleben weniger wert als der ungestörte, reibungslose Fortgang der Maschinen.

Fearing erzählt aus wechselnden Perspektiven, was den Romanfiguren eine gewisse Mehrschichtigkeit  verleiht. So ist der Unternehmer Janoth zwar ein kapitalistischer Geschäftsmann, zugleich aber darauf bedacht, Qualitätsjournalismus in seinen Blättern zu fördern. Durch die Perspektivwechsel kommen außerdem Spiel und Gegenspiel zur Geltung, während die Handlung auf ihr Finale  zustrebt.

Ich kannte das Riskio und den Preis.

Kenneth Fearing: Die große Uhr

Im Hintergrund aber tickt die »große Uhr«, ein Sinnbild für die nimmermüden, allmächtigen Mühlen der kapitalistischen Welt, in der die Menschen gezwungen sind, ihr Leben dem Takt der Uhr anzupassen und nicht – wie es in der amerikanischen Verfassung heißt – nach Glück zu streben. Die Uhr ist aber zugleich ein Symbol der Sterblichkeit, der Tod liegt über der Existenz wie ein mächtiger dunkler Schatten, eine ewige Winternacht. Noir par excellence!

Die große Uhr ist der dritte Band einer Krimi-Reihe des Elsinor-Verlages, die Klassiker der Genres neu auflegt. Herausgegeben wird sie von Martin Compart, der zu dem Roman ein ausführliches Nachwort mit vielen interessanten Informationen zu Autor und Werk sowie Denkanstößen verfasst hat, die der sehr fesselnden und unterhaltsamen Lektüre rückwirkend noch mehr Tiefe verleihen.

[Rezensionsexemplar; daher Werbung].

Kenneth Fearing: Die große Uhr
Aus dem Englischen von Jakob Vandenberg
Klappenbroschur 200 Seiten
Elsinor-Verlag 2023
ISBN 978-3-942788-71-7

Leonardo Padura: Adiós Hemingway

Der amerikanische Schriftsteller Ernest Hemingway ist mir fremd. Ein einziges, kümmerliches Buch habe ich von ihm gelesen. Ich kann nicht einmal behaupten, »A Farewell to Arms« hätte mir nicht gefallen, im Gegenteil: Soweit ich es nach mehreren Jahrzehnten noch in Erinnerung habe, mochte ich das Buch.

Ich glaube mich sogar an eine spezifische Textstelle zu erinnern, in der Hemingway seiner Hauptfigur Gedanken über die Kampfkraft von Österreichern (Operettenarmee) und Deutschen (gefährlich) andichtet. Ein Erinnerungsfetzen über eine so lange Zeit ist gewöhnlich ein untrügliches Zeichen dafür, dass ein Buch bei mir etwas hinterlassen hat.

Je mehr man beim Schreiben eigene Wege geht, umso einsamer wird man.

Leonardo Padura: Adiós Hemingway

Und trotzdem Funkstille. Auch in anderen Romanen, die ich bislang gelesen habe, tauchte der Name Hemingway sehr selten auf. Das hat sich jüngst geändert.  Steffen Kopetzky lässt in „Propaganda“ seinen Protagonisten John Glueck mit dem Großmeister der US-Literatur im Jahr 1944 nahe Paris zusammentreffen.

Das geschieht zu einem Zeitpunkt, da dieser bereits »fett« geworden ist und zu straucheln beginnt, auf der Suche nach dem großen Roman über den Zweiten Weltkrieg, dem amerikanischen »Krieg und Frieden«. Trotz der Zwischentöne ist dieser Hemingway noch lichtumflort, seine Tragik beginnt sich nur abzuzeichnen, ganz im Gegensatz zu »Cheminguey« im Roman »Adiós Hemingway« von Leonardo Padura.

Die lange Auffahrt zu dieser Buchvorstellung sei mir verziehen, aber im Kern geht es Padura um den Schriftsteller, auch wenn er das ganze hinter einem sehr durchsichtigen Wandschirm namens Kriminalfall verbirgt. Der Autor reaktiviert seinen in Frührente gegangenen Ermittler Mario Conde und schickt ihn auf die Suche nach dem Mörder eines Toten auf der Finca Virgía, Hemingways Residenz auf Cuba.

Nun war er ein beschissener Privatdetektiv in einem Land, in dem es weder Detektive noch Privatleben gab, mit anderen Worten: Er war eine schiefe Metapher in einer schiefen Wirklichkeit.

Leonardo Padura: Adiós Hemingway

Padura geht es in seinen Romanen immer um diese wundervoll formulierte »schiefe Wirklichkeit« unter der Zuchtrute des diktatorischen Regimes mit rostroter Farbe. Hemingway hat davon nichts mehr mitbekommen, zu seinen Zeiten auf der Insel waren Castro und Guevara ein fernes, sich näherndes Unwetter revolutionärer Umtriebe. Wenn also auf der zweiten Zeitebene des Buches von dem Titanen der amerikanischen Literatur die Rede ist, dann geht es um die Zeit vor der Revolution.

Wer sich politisch nicht auskennt, möge vielleicht einen kurzen Blick auf den entsprechenden Artikel bei Wikipedia werfen, um zu verstehen, wie mehrschichtig die Ambivalenz ist, mit der ein cubanischer Schriftsteller fast vier Jahrzehnte nach dessen Tod  dem amerikanischen »Gast« auf der Insel begegnet. Besonders dieser Umstand macht »Adiós Hemingway« für mich so lesenswert.

…wie sehr Hemingway in seiner naiven Eitelkeit zu einem Instrument in den Händen der stalinistisches Propaganda geworden war.

Leonardo Padura: Adiós Hemingway

Mario Conde ist zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Romans bereits in vier anderen Büchern auf Verbrecherjagd gegangen, ehe er den Job eines Polizisten geschmissen hat, schriftstellert (bis dahin unerfüllte Sehnsucht) und als Antiquar seine Brötchen verdient. Hemingway ist für ihn eine gewaltige Inspiration gewesen, bis er sich anlässlich der immer deutlicher werdenden Schattenseiten von ihm distanzierte; ihn zu verachten, ja fast zu hassen begann.

Ihm bietet sich nun die Gelegenheit, Hemingways langer (und explizit aufgeführter) Liste an Charakterschwächen eine weitere, schwerwiegende hinzuzufügen: Mord. Die Jagd nach den Hintergründen, die zum Tod der Person geführt hat, die auf dem Grundstück der Villa gefunden wurde, wird zum Kampf um das Erbe des Schriftstellers. Aber auch um  die Frage, ob man eine Gelegenheit nutzen oder Gerechtigkeit walten lassen will, und um den Platz, den der Testosteron-Schreiber erhalten soll.

Vor allem jedoch beschwerte ihn die Schuld, stets das Leben der Literatur, das Abenteuer der schöpferischen Kunst vorgezogen zu haben.

Leonardo Padura: Adiós Hemingway

Padura lässt Hemingway selbst zu Wort kommen, denn sein Roman hat zwei Zeitebenen. Für mich immer eine willkommene Erzähltstruktur. Die beiden Erzähllinien sind gut miteinander verknüpft, wer sich für den Mordfall interessiert, wird einen Hauch Spannung empfinden. Vor allem aber bietet es für Padura die unschätzbare Möglichkeit, seine Haltung zu Hemingway darzulegen.

Es soll nicht allzu viel vorweggenommen werden, aber sie ist natürlich indifferent. Padura hat sich dafür entschieden, die allerletzte Lebensphase Hemingways zum Leben zu erwecken, als der Lebenswandel massiv auf die Gesundheit und die Fähigkeit, etwas zu Papier zu bringen, durchschlug. Eine tragische Gestalt im Schatten seiner selbst.

Er hatte einen vom Leben besiegten Mann gesehen. Einen Monat später hat er sich erschossen.

Leonardo Padura: Adiós Hemingway

Was mich besonders angesprochen hat, ist der Aspekt des Schreibens. Von (fast) allen klischeehaften, naiven Vorstellungen ist »Adiós Hemingway« weit entfernt, Schreiben ist immer eine Art gewalttätiger Auseinandersetzung, wenn man nicht nur Worte aneinanderreiht, um dem Leser Handlungsspannung zu bieten.

Am Ende dieses kurzen und kurzweiligen Buches ist man als Leser reicher. Hemingway tritt in einer ganz besonderen Gestalt hervor, ein Schriftsteller, der den Nobelpreis nicht persönlich angenommen, aber auch nicht verweigert hat, ein Amerikaner, der in den USA nicht mehr leben konnte und auch nicht zum Cubaner wurde, zwar auf der Insel, aber nicht mit ihren Bewohnern lebte und sich nie in eine Cubanerin verliebte. Aber eben auch jenen, der den einfachen Menschen zuhörte, wenn er mit ihnen Zeit verbrachte.

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