Es ist keine Watschen, die Sabine Adler in ihrem vorzüglichen Buch austeilt, sondern ein Faustschlag. Empfänger des Hiebes ist vor allem die SPD, wenngleich insbesondere die langjährige Bundeskanzlerin Angela Merkel, das FDP-Duo Linder / Kubicki, der so genannte Ostausschuss der Deutschen Wirtschaft und pro-putinistisch-russische Trommler einiges um die Ohren bekommen.
Doch tut sich die SPD besonders negativ hervor, aus ganz unterschiedlichen Motiven, in vielfacher Gestalt und Handlungsweise, doch mit insgesamt verheerenden Folgen. Sabine Adler bleibt in ihrem Buch sachlich, nüchtern, schildert ohne Zuspitzungen oder gar unseriösem Geklingel, was viel dazu beiträgt, dass ihre Erkenntnisse wie eine durchschlagende Gerade wirken.
An dieser Stelle werde ich darauf verzichten, die weite Spanne der Themen und Aspekte nachzubeten, die Adler in Die Ukraine und wir berührt. Wer sich für Politik interessiert und in den letzten fünfundzwanzig Jahren nicht im Tiefschlaf der Selbstzufriedenheit zugebracht hat, wird vieles ohnehin kennen – nicht aber in dieser geballten, wunderbar zusammengestellten und vielschichtigen Form. Die gibt den Blick auf eine Entwicklung frei, für die der Begriff »Versagen« viel zu harmlos wirkt.
Die Wurzeln reichen tief. Sie beginnen bei dem, was heute als »Ostpolitik« Willy Brandts missverstanden oder bewusst falsch dargestellt wird, wenn etwa ignoriert wird, dass Brandt mit einer Bundeswehr im Rücken nach Osten fuhr, die mit vier Prozent des jährlichen Bruttoinlandsproduktes finanziert wurde, weit mehr als das Doppelte dessen, was Schröder-Merkel-Scholz-Deutschland auszugeben bereit war bzw. ist.
Brandt ging mit dem Rückenwind einer schlagkräftigen Armee im Rahmen eines verteidigungsfähigen Bündnisses nach Osten, weshalb die so genannte »Entspannungspolitik« keine verheerenden Folgen zeitigte, wie das sozialdemokratische Appeasement der Gegenwart. Und doch gab es schon da jene Strukturen, die auf die dunkelsten Zeiten deutsch-russischer Zusammenarbeit deuteten.
Adler verweist dankbarerweise auf Rapallo und den Hitler-Stalin (bzw. Molotow-Ribbentrop)-Pakt, die jene bis heute spürbare Ignoranz gegenüber den mittelosteuropäischen Staaten, namentliche Polen, Baltikum, Belarus und Ukraine (zuzüglich Rumänien) begründeten. Die Geschichtsblindheit der Genossen der Gegenwart ist ein Echo dieser fürchterlichen Zeiten – trotzdem sind viele in Deutschland empört, wenn die Übergangenen sich mit scharfen Worten melden.
Polen beispielsweise hat jedes Recht, Deutschland scharf zu kritisieren – das war eben nicht nur die PiS, die ablehnende Haltung reicht weit. Kein Wunder, ist doch zum Beispiel die SPD Anfang der 1980er Jahre mit banger Angst gegenüber der revoltierenden polnischen Arbeiterbewegung (!) Solidarność aufgetreten, sie setzte auf Systemstabilität! Wen kratzt schon der Freiheitswille der Völker?
Vor allem Gerhard Schröder, aber auch Helmut Schmidt, Egon Bahr und der ewige Friedensapostel Erhard Eppler haben diese kolonialistische Sicht auf Mittelosteuropa gepflegt. Doch auch die Nachfahren, Gabriel, Schwesig, Platzeck und viele andere haben sich das Weltbild zu eigen gemacht und trotz des russländischen Angriffskrieges nicht korrigiert.
Dabei wäre allerspätestens 2014, mit der militärischen Besetzung der Krim und russländischen Truppen im Donbas der Punkt erreicht gewesen, alles infrage zu stellen und einen Politikwechsel, ja: Zeitenwende einzuleiten.
Das geschieht bis heute nicht. Merkel etwa hat ohne Not die verfluchte Ostseepipeline Nordstream 1 nicht gekippt und sogar Nordstream 2 durchgedrückt – gegen alle Widerstände aus West- und Osteuropa. Deutsche Sonderwegs-Pfade im 21. Jahrhundert, die ganz dringend aufgearbeitet werden müssten. Das wird wohl ein frommer Wunsch bleiben.
Doch bieten vorzügliche Bücher wie Die Ukraine und wir eine Möglichkeit, sich selbst wenigstens auf persönlicher Ebene mit den Fragen auseinanderzusetzen. Allein der Titel ist ein Grund, zu danken, rückt er doch das ewige Objekt im deutsch-russischen Spielchen dorthin, wohin es spätestens seit 2022 gehört: in den Mittelpunkt.
Sabine Adler: Die Ukraine und wir
Ch. Links Verlag 2022
Hardcover 248 Seiten
ISBN 978-3-96289-180-0