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Klaus Bachmann: Die Geisterfahrer

Mit der Wahl im Jahr 2023 endete die Geisterfahrt Polens unter der PiS. Deren Risiken und Nebenwirkungen reichen weit über den Wahltermin hinaus. Die Rückkehr zur Demokratie ist nämlich alles andere als einfach. Cover edition.fotoTAPETA, Bild mit Canva erstellt.

»Das ist nicht Polen.«

Klaus Bachmann: Die Geisterfahrer

Polen wird hierzulande gern ein wenig unterschätzt, keineswegs nur von den zahlreichen offenen und verdeckten Russland-Freunden, die in verhängnisvoller Tradition allzu leichtfertig über die Staaten Osteuropas hinwegschauen. Dabei ist Polen wirtschaftlich viel bedeutender als etwa Russland, zuletzt übertraf das deutsche Exportvolumen in unser Nachbarland das Richtung China. Grund genug also, einen genaueren Blick auf unseren östlichen Nachbarn zu werfen.

Acht Jahre bestimmte die PiS unter dem autoritären Regime von Jaroslaw Kaczyński die Geschicke der polnischen Politik. Geprägt war die Zeit von Berichten von lautem Reparationsgetrommel Richtung Deutschland und der Neigung, wie Ungarns Victor Orban eine antidemokratische, antipluralistische und antieuropäische Politik zu betreiben. Gelegentlich wurde in größeren Zeitungen von den Entwicklungen berichtet, doch zeigt das Buch von Klaus Bachmann wieder einmal, dass Medienberichte oft nur an der Oberfläche kratzen.

Schon der Titel Die Geisterfahrer gibt die Marschrichtung vor. Autor Bachmann hat erklärtermaßen ein subjektives Buch über die PiS-Jahre verfasst, denn die Schilderungen basieren auf eigener Anschauung. Die sieht die PiS-Partei und ihre ausführenden Macht-Menschen als im Kern bemerkenswert unfähig an. Der Grund ihres Scheiterns lag letztlich auch darin, dass zwischen pompöser, aggressiver Rhetorik und Repression und den sich immer weiter davon entfernenden Realitäten eine allzu große Lücke klaffte.

PiS, die Partei, die stets geschworen hatte, die polnische Bevölkerung vor illegaler Einwanderung zu bewahren, hatte diese selbst organisiert, und, das war der unbewiesene Verdacht dahinter, daran sogar noch verdient.

Klaus Bachmann: Die Geisterfahrer

Da wäre etwa die Migrationspolitik, ein Thema, das auch in Deutschland ein Dauerbrenner ist und weidlich von interessierten Kreisen genutzt wird, um Stimmung zu machen. Das hat auch die PiS getan, etwa um die gezielt als Waffe eingesetzten Flüchtlinge aus Belarus (und später Russland) abzuwehren. Nach außen setzte man auf Brutalität, in der Realität wurden die Flüchtlinge oft nach Westen durchgelassen.

Während offen gehetzt wurde, gelangte gleichzeitig »eine in die Hunderttausende gehende Zahl von Arbeitsmigranten aus aller Welt nach Polen«, um dem Arbeitskräftemangel zu begegnen. Die mittels hoher Schmiergelder an Visa gelangten Personen hatten Zutritt zum Schengenraum. Daraus lässt sich einiges ableiten, etwa eine große Skepsis, wenn Parteien in anderen europäischen Ländern mit hohem Arbeitskräftemangel massiv gegen Migration wettern.

Es ist schon bemerkenswert, wie sehr es der Regierung unter der Zuchtrute Kaczyńskis gelungen war, ihre Gegner zu mobilisieren. Das zeigte schon die gewaltige Wahlbeteiligung. Zwar hatte die PiS durch verschiedene Maßnahmen, etwa durch ein zur Wahl parallel anberaumtes Referendum, versucht, die eigenen Leute zu in die Wahllokale zu bekommen. Gleichzeitig wurde die Opposition behindert, doch hatten Korruption, Vetternwirtschaft, groteske Propaganda und nicht zuletzt der gravierende Missgriff in der Abtreibungsfrage die Gegner in Scharen zu den Wahlurnen getrieben.

Besonders wertvoll ist die Darstellung von dem, was nach der Wahl kam. Mit Präsident Duda saß die PiS noch mit an den Schalthebeln der Macht, auch wenn die Parlamentsmehrheit vergangen war. Das reichte für eine weitere groteske Komödie, eine Hängepartie, die den Antritt einer neuen Regierung unter Donald Tusk verzögerte. Doch das war nur ein Präludium zu dem, was Bachmann als grundlegendes Dilemma identifizierte.

Wie macht man ein Land wieder demokratisch, ohne gegen demokratische Prinzipien zu verstoßen?

Klaus Bachmann: Die Geisterfahrer

Polen ist nach der Herrschaft der Geisterfahrer auch in diesem Punkt ein Vorreiter in Europa, denn dieses Dilemma habe es laut Bachmann „in Europa seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben“, könnte es „aber bald wieder geben“. Natürlich denkt man zuerst an Ungarn, aber auch hierzulande sind jenseits AfD und BSW Politiker in anderen Parteien weit auf das Territorium antidemokratischer Rhetorik eingeschwenkt, die auf verhängnisvolle Weise an jene „Lügenkaskaden“ erinnern, die Anne Applebaum als einen wesentlichen Faktor bei der Aushöhlung einer freiheitlichen Ordnung identifiziert hat.

Das Problem ist, dass eine neue, demokratische Regierung wie die von Donald Tusk in Polen nur dann etwas ändern kann, wenn sie auf die von der PiS etablierten autoritären Machtmechaniken zurückgreift. Damit besteht die Gefahr, ein wenig wie sie selbst zu werden. Selbst lupenreine Demokraten können dank der Umstände den Autokraten ähnlicher werden, als ihnen selbst lieb ist. Ganz davon abgesehen, dass Machtmenschen wie alle anderen nie jene Widerständigkeit gegenüber den Verlockungen haben, die nötig wäre, um sich nicht korrumpieren zu lassen.

Demnächst wird es wohl noch ein weiteres Land mit Alleinstellungsmerkmal geben: Polen als der Staat, dessen Eliten versuchen, ihn mit undemokratischen Mitteln zu demokratisieren.

Klaus Bachmann: Die Geisterfahrer

So ist Die Geisterfahrer eben auch ein Buch, das dazu auffordert, Polen im Blick zu behalten. Sollte Bachmann recht haben, wäre das ein Menetekel für Russland, das sich in der Putin-Zeit zu einer repressive Diktatur verwandelt hat, dessen offen menschenverachtendes Regime sich noch viel weniger demokratisieren lässt. Dort gibt es nicht einmal eine Opposition, die ihren Namen verdient hätte, geschweige denn Eliten, denen westliche Werte etwas bedeuten.

Zugleich zeigt es aber auch, wie gefährlich das Geschwätz ist, das behauptet, Autoritäre würde man bloßstellen können, man solle sie sich an der Macht selbst entzaubern lassen. Es gibt genug Beispiele, die das Gegenteil belegen. Einer davon ist die PiS, die immer Sündenböcke für eigenes Scheitern fand, auf die bequem jede Verantwortung abgewälzt werden konnte. Das ist eine der Warnungen, die von den Geisterfahrern aus Polen ausgeht. Wer schon in der Opposition nach Sündenböcken sucht und die tatsächlichen Probleme verschweigt, wird das in der Regierung nicht anders handhaben.

Klaus Bachmann: Die Geisterfahrer
Polen und acht Jahre PiS
edition.fotoTAPETA_Flugschrift 2024
Broschiert 116 Seiten
ISBN: 978-3-949-262-39-5

Ken Krimstein: Die drei Leben der Hannah Arendt

Die Graphic Novel zeichnet einige Stationen aus dem bewegten, ja dramatischen Leben Hannah Arendts nach, gibt aber auch Einblicke in ihre Geisteswelt. Cover dtv, Bild mit Canva erstellt.

Berühmte Zitate oder Wendungen sind beliebt, viele kennen sie, manche führen sie im Munde, doch sind sie oft aus dem Zusammenhang gerissen oder werden missverstanden ohne den Kontext. Das ist mit Carl von Clausewitz und seinem Diktum, Krieg sei nichts anderes als die Fortführung von Politik mit anderen Mitteln, nicht anders als mit Hannah Arendts Wort von der »Banalität des Bösen«.

Klingt gut, schlau und wertet jene auf, die das Zitat verwenden – auch wenn ihnen völlig unklar ist, was eigentlich »Banalität« in diesem Falle meint, gar nicht zu reden, welche Schlussfolgerungen daraus gezogen werden. Auf diese Fragen gibt auch Die drei Leben der Hannah Arendt keine Antwort, im Gegenteil: Es wirf sie und viele andere Fragen erst auf.

Die Graphic Novel von Ken Krimstein macht den Leser mit einer Reihe von Lebensstationen von Hannah Arendt vertraut, darunter äußerst dramatische, wie die Flucht aus Marseille vor dem Zugriff der mit den Deutschen kollaborierenden französischen Sicherheitskräfte. Die wunderbare, leicht sperrige Art der Illustration macht von der ersten Seite an deutlich, dass es hier um viel mehr geht, als um die Nacherzählung eines bewegten und bewegenden Lebens.

Immer wieder wird der Leser mit philosophischen bzw. politisch-theoretischen Begriffen, Fragen, Betrachtungen und Überlegungen konfrontiert, denn das alles macht das Leben Arendts aus. Sie sucht nach Antworten, bei Kant, in Seminaren, Bibliotheken, Gesprächen mit Gelehrten ihrer Zeit, durch das Schreiben von Essays und die Auseinandersetzung mit Kritikern.

Man macht auch Bekanntschaft mit dem, was jenen widerfahren kann, die Ruhm und Berühmtheit erlangen. Die Erwartungen anderer werden enttäuscht, wenn man nonkonform denkt und sich äußert – man eckt an, wird geschnitten, angefeindet und von Freunden im Stich gelassen. Freiheit und Offenheit hat ihren Preis, immer und überall.

Was heute so gewandt und geläufig klingt, die »Banalität des Bösen« als Beschreibung von Eichmanns Wesen, den viele Zeitgenossen lieber als Monster sehen wollten, hat massive Anfeindungen ausgelöst – kaum vorstellbar in der Rückschau. Damit entsteht eine Leerstelle in der Graphic Novel, die – hoffentlich – viele Leser dazu bringt, vielleicht einmal einen Teil der Lebens- und Lesezeit mit der Auseinandersetzung mit einem Text Hannah  Arendts zu verbringen.

Das Schaurigste in dem Buch ist jedoch etwas anderes. Arendt gehörte zu jenen, die von den Franzosen interniert und nach Südfrankreich gebracht wurden, als die Wehrmacht angriff. Das allein ist bedrückend genug, für mich noch unangenehmer ist die Reaktion der Insassen auf den Vorschlag Arendts, die kurze Phase der Unsicherheit, Anarchie nach dem Zusammenbruch des französischen Widerstands zur Flucht zu nutzen – viele blieben und wurden nach Osten deportiert. Sie haben lieber weggesehen, als dem Übel ins Auge zu schauen. Eine Warnung.

Ken  Krimstein: Die drei Leben der Hannah Arendt
Aus dem Englischen von Hanns Zischler
dtv 2018
Klappenbroschur 244 Seiten
ISBN: 978-3-423-28208-6

Göttinger Literaturherbst 2023

Meine glorreichen Sieben – das sind die Veranstaltungen des Göttinger Literaturherbstes 2023, auf die ich mich am meisten freue. Das Programm ist in diesem Jahr großartig, vielleicht schaue ich mir noch die eine oder andere Sache zusätzlich an, denn – von der ewig-hässlichen Stadthalle (brrr) einmal abgesehen – gibt es viele sehr schöne, atmosphärische Veranstaltungsräume.

Heute beginnt für mich der Göttinger Literaturherbst 2023 mit einer zweifellos großartigen Veranstaltung: Der Historiker Christopher Clark spricht über die Revolution von 1848/49 in Europa – womit das Thema aus seinen nationalen Brutkästen geholt wird. Clark hat ein voluminöses Buch zu dem Thema verfasst, das Frühling der Revolution betitelt ist. Wie in seinen berühmten und diskutierten Die Schlafwandler wird der Leser mit neuen Perspektiven konfrontiert, los geht es mit der Revolution in – nein, nicht Paris – Palermo (nach einem Vorspiel in der Schweiz).

Es ist das einzige historische Sachbuch meines persönlichen Programms, das – wie man sieht – vier Romane, ein historisches und ein naturwissenschaftliches Sachbuch sowie ein Kompendium mit einem sehr persönlichen Zugang zum Thema Schreiben umfasst.

Thematisch geht es historisch-politisch zu. Aufklärung von Angela Steidele ist zum Glück kein Buch über die Abgründe des Sexualkundeunterrichts, sondern führt den Leser ins 18. Jahrhundert, ein Historischer Roman, auf den ich mich sehr freue (danke noch einmal an Marius Müller von Buch-Haltung für die schöne Besprechung).

Andrej Kurkow lässt seine Helden Samson und Nadjeschda durch die blutigen Wirren des »Bürgerkriegs« im Gefolge des Ersten Weltkrieges in Kyjiw (Kiew), Ukraine, taumeln. Dabei ist es ihm in seinem ersten Teil gelungen, die Gewalt anklingen zu lassen, ohne in Voyeurismus zu verfallen; stattdessen wählt er einen plüschigen Ton, was die Ereignisse nicht weniger grausam, aber erträglicher gestaltet. Auf den zweiten Teil bin ich sehr gespannt – den werde ich allerdings erst im Anschluss lesen können.

Der Roman Lichtspiel von Daniel Kehlmann lässt den Leser am bewegten Leben des Regisseurs W.G. Pabst und zahlreichen anderen Zeitgenossen teilhaben. Schon das erste Viertel des Romans zeigt, was Kehlmann gelungen ist: Er hat eine leicht lesbare (laut Wolfgang Herrndorf eine unterschätzte literarische Qualität) und wirksame sowie angemessene Erzählform gefunden, ohne ins Seichte abzugleiten. 

Das lässt sich auch über Planck oder Als das Licht seine Leichtigkeit verlor von Steffen Schroeder sagen, der den Leser in die Zeit führt, zu der das Hitlerreich in den Todeskampf eintrat und sich seine Monstrosität nach dem gescheiterten Attentat Stauffenbergs nur noch durch einen Sieg der alliierten Truppen beenden ließ. Plancks Sohn ist ihm Mahlwerk der Gestapo und SS gefangen, der Tonfall der Erzählung bleibt dabei in einer gewissen Weise lakonisch, sarkastisch, boshaft-heiter.

Bei Lichtspiel und Planck oder Als das Licht seine Leichtigkeit verlor wird ganz nebenbei immer auch deutlich, was Deutschland bzw. die deutschsprachige Welt der 1920er Jahre verloren hat, als das braune Pack die Macht übertragen bekam. Ich weigere mich jedoch, diese Romane als »wichtig« zu bezeichnen, weil sie »uns« etwas für unsere eigene Zeit zu sagen hätten oder eine Warnung bereithielten. »Wir« haben »uns« noch nie davon beeindrucken lassen.

Ralf Rothmann hat mit seiner Theorie des Regens ein Kompendium seiner Notizen aus vielen Jahrzehnten zusammengestellt. Hier werde ich ganz ohne vorherige Lektüre an der Veranstaltung teilnehmen, von Rothmann habe ich noch kein einziges Wort gelesen. Ich bin voller Neugier, auf das Gespräch und darauf, wie es ist, völlig unbedarft zuzuhören.

Schließlich noch eine Form des wissenschaftlichen Eskapismus. Felicitas Mokler hat ein Buch veröffentlich, dessen Titel für sich selbst spricht: Die Evolution des Universums: Vom Urknall bis in die Ewigkeit. Als alter Science Fiction-Leser und Teleskop-Sternegucker (es ist kalt in klaren Herbst- und Winternächten) lasse ich mich gern auf den neuesten Stand der Kosmologie bringen. Wobei – verstehen werde ich sicherlich nicht alles, doch darum geht es gar nicht. Die eigenen Grenzen des Verständnisses kennenzulernen, ist meines Erachtens oft genauso wertvoll, wie das Verstehen selbst.

Amor Towels: Lincoln Highway

Viele lobende Besprechungen, mich hat der Roman nicht überzeugt. Cover Hanser, Bild mit Canva erstellt.

Bei diesem Roman komme ich mir vor wie ein literarischer Geisterfahrer. In so vielen Jahresrückblicken 2022 wurde Lincoln Highway vom Amor Towels als Highlight aufgeführt, Buchblogs, denen ich zahlreiche tolle Anregungen zu verdanken habe, loben ihn.

Mich hat er eher enttäuscht, dabei war ich von Ein Gentleman in Moskau sehr angetan. Die literarischen Zutaten jedenfalls sind gut: Road-Novel, eine Buddy-Gruppe mit divergierenden Zielen und Absichten, ein Strauß unerwarteter Begegnungen und viele Wendungen – alles da, was es braucht.

Zu den großen Mythen der USA gehört die Mobilität, die über ein reines Bewegen hinausgeht; zu den großen Mythen der westlichen Welt gehört seit Homer der Aufbruch, oft genug der von außen erzwungene. So in diesem Fall, denn die Hauptfiguren müssen sich aus dem Staub machen, allerdings aus ganz unterschiedlichen Motiven.

Towles schickt seine Helden auf eine haarsträubende Irrfahrt, mit aberwitzigen Wendungen und wunderbaren Zuspitzungen. Ganz gemächlich entfaltet sich die Geschichte, weitet sich und erreicht eine beträchtliche inhaltliche Tiefe, die an einer ganz wunderbaren Stelle das menschliche Sein an sich beleuchtet.

Doch gibt es für meinen Geschmack durch den Schreibstil und Aufbau einige arge Redundanzen. Der Roman lässt ab der Hälfte stark nach, verliert an Spannung, mehr und mehr Handlungs– und Gesprächsmuster wiederholten sich. Die Verschränkung mit dem Ulysses wirkte zunächst cool, im Verlauf zunehmend konstruiert.

Irgendwo auf diesem Weg bin ich aus dem Zug oder Auto gefallen bzw. über Bord gegangen. Abgebrochen habe ich das Buch aber nicht, zum Glück, denn das Ende ist wiederum sehr gelungen. Gern verweise ich auf ausführlichere und lobende Besprechungen des Buches, denn jeder Leser liest sich selbst auf eine ganz andere Weise in einen Roman hinein: Horatio-Bücher & Kaffeehaussitzer.

Amor Towels: Lincoln Highway
Aus dem Englischen von Susanne Höbel
Hanser Verlag 2022
Gebunden 576 Seiten
ISBN: 978-3-446-27400-6

Yeva Skalietska: Ihr wisst nicht, was Krieg ist

Ein besonderes Tagebuch aus der Ukraine, in dem eine Zwölfjährige über ihre ersten Tage in Charkiw während des russländischen Angriffskrieges berichte. Cover Kaur, Bild mit Canva erstellt.

Am Dritten Tag des Krieges hat die zwölfjährige Yeva bereits gelernt, die Entfernung von Explosionen anhand des Knall-Lautes abzuschätzen. Da ist sie schon nicht mehr in ihrer Wohnung in Charkiw, sondern mit ihrer Oma bei einer Freundin untergekommen. Zum Glück, denn schon einige Tage später trifft ein russländisches Geschoss die alte Unterkunft, reißt ein Loch in die Hauswand, den Balkon ab und zerstört die Küche.

Dank Smartphone gibt es davon auch ein Foto – es ist in ihrem Tagebuch Ihr wisst nicht, was Krieg ist, abgebildet. Für Yeva ist der Verlust mehr als nur ein materieller, es fühlt sich an, als wäre ein Teil ihrer Kindheit und damit von ihr selbst zerstört worden. Noch später, als sie bereits auf der Flucht nach Westen sind, hört sie, dass vom Wohnblock noch mehr zerstört wurde.

Wenn die Medien davon berichten, dass die Frontstadt Charkiw immer mehr zur Geisterstadt werde, stecken solche Geschichten dahinter; viele davon erahnt der Leser von Yeva Skalietskas Tagebuch aus den Kurznachrichten, die sie mit ihren Mitschülern austauscht. Die Ängste, die Unsicherheit und Verzweiflung, aber auch die Erleichterung, herausgekommen und in Sicherheit zu sein, sind spürbar.

Panikattacken lernt Yeva auch kennen, in Charkiw unter dem Eindruck des russländischen Beschusses, aber auch ganz im Westen der Ukraine, als sie in Uschorod an der ukrainisch-ungarischen Grenze angekommen sind. Statt Freude überfallen sie Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Ein Leben ist innerhalb weniger Tage völlig aus den Angeln gehoben worden. Die Intensität der Aufzeichnungen ist bedrückend, das Geschwafel selbst ernannter Pazifisten dagegen dosenhohl.

Yeva gelangt über Ungarn nach Irland, davon berichtet ein Teil ihres Tagebuches. Das ist übrigens sehr gelungen aufgemacht, drei schön gestaltete Karten informieren den Leser über den Fluchtweg Yevas, die Ukraine und Charkiw. Gerade auch junge Menschen können hier einen Einblick bekommen, wie es ist, wenn ein verbrecherischer Angriffskrieg den Frieden vertreibt. Das Vorwort von Marina Weisband ist sehr informativ – es spricht nichts dagegen, das Buch auch in der Schule zu lesen.

Yeva Skalietska: Ihr wisst nicht, was Krieg ist
Übersetzt von Dr. Alexandra Berlina
Knaur 2022
Hardcover 192 Seiten
ISBN: 978-3-426-28622-7

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