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Schlagwort: Rom

Martin Pfaffenzeller, Eva-Maria Schnurr (Hg.): Die letzten Tage von Pompeji

Nach diesem Buch steht ein Besuch in Pompeji recht weit oben auf der Liste. Das Komendium ist ein wunderbarer Streifzug durch die Lebens- und Alltagswelten der Menschen, die in Pompeji lebten und starben. Wissenschaftliche Fragestellungen, etwa über die Aussagekraft von archäologischen Funden, kommen nicht zu kurz.

Wie lebten sie eigentlich, die Leute von Pompeji? Wie starben sie? Diesen Fragen geht das Kompendium Die letzten Tage von Pompeji von Martin Pfaffenzeller und Eva-Maria Schnurr (Hg.) in vielen kurzen Beiträgen nach. Nebenbei werden noch wichtigere Fragen aufgeworfen. Woher stammt eigentlich unser Wissen? Wie glaubwürdig ist die Überlieferung? Und noch wichtiger: Was davon ist wirklich Wissen, was Vermutung, was Konsens, was umstritten?

Die Fragen beginnen damit, was eigentlich in Pompeji und Umgebung, einschließlich Herculaneum geschah. Klar ist, dass der Vesuv ausbrach, vermutlich im Oktober 79 n. Chr. In einem Beitrag versucht Martin Pfaffenzeller die letzten Stunden eines Pompejaners nachzuzeichnen, der (zu) lange ausgeharrt hatte, ehe er am 25. Oktober zu fliehen versuchte und dabei von der Glutlawine des Vulkans überrollt wurde.

Die Umstände müssen apokalyptisch gewesen sein. Der Fliehende konnte sein Haus nicht mehr auf gewöhnlichem Wege verlassen, denn in der Gasse davor lagen Bimssteinchen in einer nahezu zwei Meter hohen Schicht. Ein beherzter Sprung aus dem Fenster wurde nötig, die Flucht geriet zum mühsamen Vorankämpfen in der Dunkelheit, ehe den Pompejianer an einer Kreuzung der Tod – vermutlich durch Ersticken in den heißen Aschewolken – ereilte.

Der Mann, der wohl zwischen 30 und 40 Jahre alt war, hätte auch schon vorher sterben können. Viele Bewohner der Stadt wurden von den Dächern ihrer eigenen oder fremden Häuser erschlagen, als diese unter dem Druck der Bimssteinmassen nachgaben. Eine Flucht war jedoch ebenso möglich, allerdings bald nur noch zu Fuß: Westliche Winde blockierten die Abfahrt von Schiffen, Bimsstein den Fluss Sarno.

Sie [die Glutlawine] bewegte sich so schnell, dass sie für die gut zehn Kilometer vom Vesuv nach Pompeji nur etwas länger als eine Minute brauchte.

Martin Pfaffenzeller, Eva-Maria Schnurr (Hg.): Die letzten Tage von Pompeji

Besonders gelungen ist die knappe Spurensuche, an deren Ende das Datum der Katastrophe steht. Lange ist man vom 24. August 79 n. Chr. ausgegangen, doch legen Feuerschalen in den Häusern sowie dort aufgefundene Granatäpfel einen Tag im Herbst nahe. Aufschluss gibt ein Holzkohle-Graffito, das informiert, an einem 17. Oktober wären Öle aus der Vorratskammer entnommen worden. Gewöhnlich wäre der Schriftzug rasch verschwunden, er muss also kurz vor dem Desaster verfasst worden sein, zumal im ebenfalls zerstörten Herculaneum eine ähnliche Inschrift aufgefunden wurde.

Das Beispiel zeigt, wie in dem Kompendium Pompeji versucht wird, Erkenntnisse über das Leben in der Stadt und die Quellen auf ihre Stichhaltigkeit zu hinterfragen. Naturgemäß sind es archäologische Funde, die Auskunft geben oder eben auch verweigern bzw. verzerren oder gar verfälschen. Ein schönes Beispiel ist der Beitrag über die Ökonomie Pompejis. Gewöhnlich wird von der erstaunlichen wirtschaftlichen Potenz der Stadt gesprochen. Als Beleg gelten etwa die Amphoren mit dem Stempel eines pompejanischen Fabrikanten, die in Südfrankreich oder nördlich der Alpen aufgefunden wurden.

Jens-Arne Dickmann, der Autor des Beitrags, verweist darauf, dass einzelne Funde nur eine sehr begrenzte Aussagekraft haben. Zwar wurden auch Fragmente von Weinamphoren mit dem Stempel eines weiteren Pompejianers in Karthago gefunden, doch wurden Amphoren auch wiederverwendet – mit ganz anderen Inhaltsstoffen. Dickmann hält es für angemessener, von einzelnen wirtschaftlich potenten Personen aus Pompeji zu sprechen, wenn es um als typisch geltende Produkte aus der Stadt geht, als von der der Stadt an sich.

Generalisierende Aussagen sind ohnehin schwierig, wie ein weiteres Beispiel zeigt. So wurden hunderte von tabernas, also Ladengeschäfte ausgegraben, die oft Menschen auch als einfache Unterkunft dienten. Auch aus diesem Grund haben wohl wesentlich mehr Menschen in der vollgestopften Stadt gewohnt, als lange angenommen. Viele dieser Ausgrabungen wurden wenig sorgfältig durchgeführt, man kann über das Gewerbe in der jeweiligen taberna oft nichts mehr sagen.

Bei festen Einbauten für die Verarbeitung von Waren oder Wasserversorgung liegt die Sache anders, diese sind zumeist vorhanden. Das handelt es sich häufig um textilverarbeitende Werkstätten, woraus geschlossen wurde, Pompeji wäre ein Zentrum der Wollverarbeitung gewesen. Ein Kurzschluss angesichts hunderter Länden, in denen möglicherweise etwas anders hergestellt oder weiterverarbeitet wurde. Beispielsweise gibt es Hinweise, dass Parfüme eine große Rolle spielten. Gärtnereien für die Zuchtblumen, deren Blüten in Öl gebunden wurden, sind bezeugt, wie auch die Verarbeitung selbst.

Ihr Begehren ausleben durften vor allem männliche Vollbürger, für die Objekte ihres Begehrens – Frauen, Jünglinge oder auch männliche Sklaven – blieb nur eine passive Rolle.

Martin Pfaffenzeller, Eva-Maria Schnurr (Hg.): Die letzten Tage von Pompeji

Die vielen, bunten Facetten des Zusammenlebens in Pompeji spiegeln sich in der Vielfalt der Themen von Die letzten Tage von Pompeji. Wie das Zitat zeigt, wäre es ebenfalls ein Kurzschluss von den zahllosen erotischen Wanddarstellungen und Gegenständen auf eine freizügige Sexualmoral zu schließen. Im Gegenteil: Für Frauen, insbesondere der Oberschicht, galt es Züchtigkeit und einen guten Ruf zu wahren. Prostitution einfacher Frauen gab es hingegen zuhauf.

Wie das Leben der einflussreichen Bürger aussah, lässt manchmal staunen. Die Mannwerdung eines Heranwachsenden wird von seinen Eltern mit stolzen 6.840 Gästen begangen – rund ein Fünftel der Gesamtbevölkerung. Speis, Trank, Unterhaltung, Gladiatorenspiele mit mehr als 400 Gladiatoren (gewöhnlich kämpften 20 bis 30) machten aus dem Event eine Demonstration von Macht, Reichtum und Einfluss.

Doch auch im Kleineren gibt es Spektakuläres zu entdecken. Die Fluchtäfelchen etwa oder auch die Frage, wie es um die Lesefähigkeit der Bevölkerung Pompejis bestellt war. Wozu wären Graffiti gut gewesen, wenn niemand sie lesen, also verstehen konnte? Wie also lernte das man ohne öffentliche Schulen? Blutige (Hooligan-?) Krawalle im Stadion, Zoff beim Zocken in der Taverne, gefährlicher Mief in Bedürfnisanstalten, Heilkunst, Saufkunst, Kochkunst – es gibt in Die letzten Tage von Pompeji eine Menge Wissenswertes auf informative und unterhaltsame Weise zu entdecken.

Rezensionsexemplar

Martin Pfaffenzeller, Eva-Maria Schnurr (Hg.): Die letzten Tage von Pompeji
So lebten die Römer im Schatten des Vulkans
Penguin Random House 2025
Taschenbuch 256 Seiten
ISBN: 978-3-328-11242-6

Lesevorhaben Wiedergelesen – 4 für 2025

Vier der vielen Bücher aus meinem Regal, die ich bereits kenne, aber unbedingt noch einmal lesen und hier auf dem Blog vorstellen will.

Auch in meinem Regal stehen viele Bücher, die ich gern noch einmal lesen und auf meinem Blog vorstellen möchte. 2024 habe ich das genau einmal gemacht, mehr zufällig, weil ich auf die Umsetzung des genialen Romans Die Straße als Graphic Novel Die Strasse gestoßen bin.

Die Konkurrenz ist groß, Rezensionsexemplare, Geschenke, Spontankäufe (trotz Buchkaufdiät), Buchleihen (Stadtbiliotheken sind ein gefährlicher Ort!) und die vielen Bücher, die bereits gekauft wurden und endlich gelesen werden wollen, rangeln um das knappste aller Güter im menschlichen Leben: Zeit.

So also eine kleine extrinsische Motivation: 4rereadsfür2025. Für jedes Quartal eins, das dürfte zu schaffen sein. Und die Vorfreude ist riesig, denn die vier Bücher sind groß. Historisch-politisch, versteht sich.

Walter Kempowski: Alles umsonst
»Zoffort!« zu lesen, denn es spielt im Januar 1945, im Osten Deutschlands, über dem sich der Sturm der Vernichtung zusammenbraut – perfekt als Januar-Lektüre 2025

Gerd Ledig: Die Stalinorgel
Für mich der beste Frontkriegsroman, den ich kenne. Er schildert die Kämpfe 1942 vor Leningrad und zeichnet in einer Szene ein geniales Bild einer demoralisierten Wehrmacht

Friedrich Christian Delius: Die linke Hand des Papstes
Ein Ausflug nach Rom. Derart sarkastisch und bissig, dass ich das Büchlein zum drittel Mal lese; der Autor begegnet Papst Benedikt in einer evangelischen Kirche, kurz vor dessen Rücktritt

Robert Harris: Vaterland
Das Büchlein wurde bereits mehrfach gelesen, nicht nur von mir. Brillant in einen Thriller gegossene historische Dystopie um den verschwiegenen Holocaust in einer Welt, in der Hitler den Krieg gewonnen hat

Charlotte Schubert: Der Tod der Tribune

Der Lektüre habe ich mit großer Spannung entgegengesehen, schließlich beschäftigt mich das Schicksal der Gracchen seit meinem Studium. Cover C.H. Beck, Bild mit Canva erstellt.

Wie konnte es so weit kommen?

Charlotte Schubert: Der Tod der Tribune

Das zweite Kapitel von Der Tod der Tribune ist mit dieser Frage überschrieben. „So weit“ meint dabei die brutale Ermordung des Volkstribuns Tiberius Gracchus im Jahr 133 v. Chr., das erbarmungslose Niederhauen von 300 seiner Anhänger, die nachfolgende Schändung ihrer Leichen. Zehn Jahre später wurde der jüngere Bruder, Gaius Gracchus, ebenfalls auf gewaltsame Weise mit 3.000 Gefolgsleuten getötet.

Der Vorgang ist – bis dahin – einmalig gewesen, die Folgen für die Römische Republik werden als verheerend angesehen: Oft wird mit dem Doppelmord ein Anfangspunkt benannt, nach dem die Republik Schritt für Schritt in den Abgrund glitt. Dafür kann man Gründe anführen: Beschädigung der Verfassungsordnung, des sakrosankten Amte und des Rechts allgemein. Vor allem aber wurde ein doppelter Präzedenzfall geschaffen, nämlich, auf Gewalt zu setzen.

Politisch denkende Zeitgenossen mögen an dieser Stelle vielleicht an den Sturm auf das Capitol denken oder auch an den Angriff auf Robert Habeck, verbunden mit dramatischen Befürchtungen bezüglich der Aussichten für die westliche Demokratie. Grundsätzlich sind Analogien mit großer Vorsicht zu genießen, Vergleiche, die Unterschiede und Gemeinsamkeiten herausstellen, sind aber wichtig, sonst bleibt die Lektüre zwangsweise akademisch.

Andererseits tut akademische Nüchternheit und eine möglichst sachliche Betrachtung dessen, was über die Umstände, Hergänge, Gründe und Folgen überliefert ist und in der Forschung diskutiert wird, dem Thema gut. Die Gracchen werden manchmal in ein sozialromantisches Licht getaucht, als tragisch gescheiterte Retter der ins Straucheln geratenen Römischen Republik; eine Art Che Guevara – Brüderpaar der Antike. Ausgerechnet Cicero hat allerdings eine ganz andere Einschätzung geäußert.

Tiberius Gracchus der Ältere [d.h. der Vater des ermordeten Volkstribuns] habe, so Cicero später, den Bestand der Republik gerettet, sein Sohn sie zertrümmert.

Charlotte Schubert: Der Tod der Tribune

Die Autorin Charlotte Schubert widmet sich zunächst der Mordtat und den nachträglichen Versuchen einer Legitimation. Das ist wichtig, denn es zeigt, wie dünn und lückenhaft die Überlieferung ist und wie schwierig quellenkritisch tragfähige Aussagen sind. So steht Ciceros Einschätzung im Verdacht, weniger die realen Ereignisse zu bewerten, als einen Versuch zu unternehmen, die eigene Missachtung institutionalisierten Rechts zu überdecken.

Tiberius und Caius Gracchus haben allein wegen ihrer Herkunft und sozialen Verankerung in der römischen Gesellschaft mehr mit ihren Gegnern als mit »dem Volk« gemeinsam: Sie gehörten zur Elite Roms. Tiberius bekleidete zwar das Amt eines Volkstribuns, er stammte weder aus dem Volk noch sprach er für „das Volk“ in einem sozialromantischen Sinne. Noch wichtiger ist ein anderer Punkt: Roms Elite befand sich in einem erbarmungslosen Wettstreit um Macht, Ansehen und Ruhm.

Der Tod der Tribune entfaltet nun ein politisches Panorama, das viele Fäden aufzeigt, die zu jenem Knäuel führten, das mittels einer unerhörten Bluttat kurzfristig »gelöst« wurde. Im Kern drehte sich die Auseinandersetzung um die Bodenreform, die Zuteilung von Land an römische Bürger, ein Projekt, das keineswegs nur die Gracchen vertraten und das nach dem Tod von Tiberius und Caius eben auch nicht in der Versenkung verschwand.

Es verbietet sich, hier auch nur den Versuch zu unternehmen, die komplexe und durchaus widersprüchliche Entwicklung, immer überschattet von der schwierigen Quellenlage, auch nur halbwegs adäquat zu skizzieren. Das bleibt der Lektüre des ausgesprochen interessanten und sehr gut informierenden Buches vorbehalten. Der Leser wird Zeuge eines sich dramatisch zuspitzenden Machtkampfes, in den zufällig äußere Einflüsse hineinspielten.

Wieder einmal – wie so oft in der Geschichte – stellte sich das Geld als der entscheidende Punkt heraus: Tiberius brauchte für die Verwirklichung seiner Reform die materiellen Mittel, und die Mehrheit des Senats wollte ihm nichts bewilligen.

Charlotte Schubert: Der Tod der Tribune

Die so genannte Schenkung durch Attalos III. von Pergamon etwa, mit der Rom als Erbe eines Königreichs im Osten wurde, war dabei wohl entscheidend. Um sich aus dem finanziellen Würgegriff des Senats zu befreien, versuchte Tiberius Gracchus per Gesetz den »Schatz« des verstorbenen Königs zur Finanzierung seines Vorhabens zu nutzen. Das dürfte der Schritt über die »rote Linie« des Senats sein, wie Schubert meint, denn außenpolitische Angelegenheiten gehörten in dessen Verantwortungsbereich.

Entscheidend ist aber nach Einschätzung der Autorin das Verhalten des Volkstribuns während seiner letzten Volksversammlung, das sie als unklug und wohl missverständlich beschreibt und für seine Gegner nicht tolerierbar gewesen sei. Das ist durchaus nachvollziehbar. Machtkämpfe sind immer auch ein Ringen um Handlungsspielräume inmitten der institutionalisieren und formalrechtlich festgelegten Grenzen, die dabei gedehnt und auch überschritten werden.

Tatsächlich haben das vor den Gracchen andere Mitglieder der Elite ebenfalls getan, ohne getötet zu werden. Umgekehrt bleibt aber die Frage, warum sich der Senat nicht nur mit bemerkenswerter Kompromisslosigkeit gegen das Reformvorhaben wandte, die Reformer brüskierte, bloßstellte und diskreditierte. Scheinbar waren Tiberius und später auch Caius so weit gegangen, dass sie von den Senatoren als grundlegende Gefahr für deren Macht angesehen und ausgeschaltet wurden.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Gegner der Gracchen und ihres mit Tiberius’ Tod nicht beendeten Reformwerks Scipio Aemilianus zum Diktator ernennen wollten, um den immer höher kochenden Aufruhr in Rom zu bekämpfen. Scipio war mit Tiberius verwandtschaftlich verbunden, aber politisch verfeindet. Er hatte Karthago und Numantia dem Erdboden gleichgemacht, es erscheint keineswegs übertrieben, wenn Schubert meint, dass Sullas Handlungsweise zwei Generationen später als Blaupause dienen könnten für das, was Rom bereits nach 129 v. Chr. hätte blühen können.

Der Tod Scipios löste zumindest dieses Problem. Nach seinem Tod unterblieben weitere Attacken gegen die Bodenreform und die Gefahr eines Aufruhrs war vom Tisch.

Charlotte Schubert: Der Tod der Tribune

Das ist ein bemerkenswerter Hinweis. Der Tod eines Gegners und entschiedenen Bekämpfers der Reformen war der Grund für die ersterbenden Flammen der Empörung. Das gibt einen wichtigen Hinweis, wo der Unruheherd zu suchen ist. Das schwelende Feuer erlosch jedoch nicht, denn mit dem Volkstribunat des jüngeren Gracchen-Bruders ging das Spiel in verschärfter Form weiter. Caius Gracchus entfaltete ein Feuerwerk an Reformaktivitäten, seine Gegner griffen zu neuen, durchaus perfiden Mitteln, um ihn zu stoppen.

Caius Gracchus kam am Ende im Rahmen einer brachialen Bluttat mit mehr als 3.000 Toten um. Charlotte Schubert skizziert den zeitlichen Ablauf: Zunächst habe sich der vormalige Volkstribun mit seinen bewaffneten Anhängern auf den Aventin versammelt, erst danach sei diese bar jeglicher Legitimität zusammengerottete Truppe Aufständischer mit »umstürzlerischer« Absicht attackiert und niedergehauen worden. Kann man Caius tatsächlich unterstellen, er plante eine Aktion, die in einen Bürgerkrieg geführt hätte? 

Es erscheint  richtig, dass die Morde von 133 und 121 v. Chr. »kaum zu vergleichen« (im Sinne von gleichzusetzen) sind, doch kann man in der Betrachtung der Ereignisfolge die Tötung des Tiberius nicht übergehen. Sie war die erste Gewalttat, initiiert und ausgeführt von Reformgegnern aus dem Senat. Allein die Überlieferung von Caius’ Traumgesicht, das ihm seinen Tod vorausgesagt haben soll, unterstreicht die Bedeutung des Mordes von 133 für die Handlungsweise von Caius und seinen Anhängern zwölf Jahre später. Der vielzitierte Traum wirkt eher wie ein illusionsloser Blick auf das besiegelte Schicksal des ehemaligen Volkstribuns.

Vielleicht war die Zusammenkunft auf dem Aventin eine letzte heroische Geste oder ein Akt der Verzweiflung, um das verwirkte Leben zu retten? Sie wirkt tatsächlich eher defensiv. 3.000 Anhänger des Gracchen wurden niedergemacht; auch wenn sie bewaffnet waren, müssen sich gegenüber den Kräften des Opimius (»Schwerbewaffnete und Bogenschützen«) dramatisch unterlegen gewesen sein. Auch aus diesem Grund frage ich mich, ob  Caius´ Absicht tatsächlich »umstürzlerisch« im Sinne eines bewaffneten Aufstandes war, insbesondere angesichts der erbarmungslosen Schlächtermentalität ihres Gegners.

Dreitausend Menschen haben die Widersacher des Volkstribunen Caius Gracchus niedergemacht; deren Vermögen zog die Staatskasse ein.

Charlotte Schubert: Der Tod der Tribune

Selbst der Hinweis auf den rechtlichen Status von Caius als Privatmann zum Zeitpunkt seines Todes hilft nur bedingt weiter, denn die Ermordung seines Bruders hat gezeigt, dass auch ein Amt keinen Schutz mehr bot. Nicht umsonst versuchte Caius den Schutz gegen gewalttätige Übergriffe wiederherzustellen und zu erhöhen, gerade auch für Privatmänner, die oft dem Machtmissbrauch der Elite ausgesetzt waren; auch die Volkstribunen sollten vor Attacken nach Beendigung ihres Amtes geschützt werden.

Vor allem aber ist augenfällig, dass die Reformgegner eine zutiefst destruktive Verhaltensweise an den Tag legten. Neben der schon aus den Zeiten des Tiberius bekannten Blockade sah sich Caius einer perfiden Taktik seiner Gegner gegenüber: Die Überflügelung der Reformgesetze durch viel weiter reichende, die zwar von der Volksversammlung abgesegnet wurden, aber in keiner Weise finanzierbar waren und nicht umgesetzt wurden; ja, niemals umgesetzt werden sollten. Parallel wurden auf diese Weise Vorhaben des Caius abgeschwächt.

Charlotte Schubert ist in jedem Fall zuzustimmen, dass diese Vorgehensweise geschickt und sehr effektiv gewesen ist. Offen bleibt für mich aber die Frage, woher dieser fundamentale, extrem aggressive und schließlich in dem sehr zwiespältigen und rechtlich obskuren Senatus Consultum Ultimum mündende Widerstand eigentlich rührte. Naheliegend wäre die Vermutung, dass der Senat das Volkstribunat einhegen oder gar beseitigen wollte, mithin also eine institutionelle Umformung der Republik, die man den Gracchen und ihren Anhängern unterstellte.

Faktisch fehlte „die über Jahrhunderte eingeübten Verfahren der Konsensherstellung“, aus meiner Sicht macht Tod der Tribune deutlich, dass diese vor allem auf Seiten des Senats verschwunden war, und zwar auch gegenüber ganz herausragenden Persönlichkeiten wie Fulvius Flaccus. Aber warum? Wo auf dem Weg vom Sieg über Hannibal waren sie verloren gegangen? Einen Ersatz für die Konsensherstellung gab es bis zum Ende der Republik nicht.

Das Instrument des Senatus Consultum Ultimum hat 121 keine Eskalation verhindert, später auch nicht. Nach dem Tod des Caius’ begann eine immer dramatischere Zeit der inneren Gewalt in der römischen Republik, endlose, blutige Kriege im Innern, Proskriptionen, Mord und Totschlag. Diejenigen, die Öl ins Feuer gegossen haben, saßen im Senat; dafür haben nicht nur die Gracchen einen hohen Preis bezahlt:

Mit der Ermordung der Tribunen und der Abschlachtung der Gefolgsleute des Caius hatte sich das senatorische Rom für die Zukunft entscheidende Wege zur Konfliktlösung innerer Krisen verlegt – die Eliten führten so die Republik in eine Sackgasse, aus der es einhundert Jahre später endgültig keinen Ausweg mehr gab.

Charlotte Schubert: Der Tod der Tribune

So ist es.

[Rezensionsexemplar]

Charlotte Schubert: Der Tod der Tribune
Leben und Sterben des Tiberius und Caius Gracchus
C.H.Beck 2024
Gebunden 304 Seiten
ISBN: 978 3 40681372 6

Arthur Koestler: Der Sklavenkrieg

Der erste Satz in Koestlers großem Historischen Roman ist genial, kurz und im wörtlichen wie übertragenen Sinne wunderschön. Cover Elsinor-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Es sind die großen Fragen, die Arthur Koestler in seinem Roman Der Sklavenkrieg stellt. Warum handelt der Mensch gegen seine eigenen Interessen? Zu Beginn der Revolte schließen sich die Sklaven und Entrechteten der Sklavenarmee unter Spartakus an, machen mit ihnen gemeinsame Sache – doch in Capua (ausgerechnet!) stehen die Versklavten bewaffnet auf den Mauern und verteidigen ihre Herren und Besitzer. Warum tun sie das?

Koestlers Roman Der Sklavenkrieg liefert keine mundgerechten Antworten, kein romantisierendes, verschlichtendes Feuerwerk an Plattitüden und Phrasen, wie es in vielen breitenwirksamen historischen Romanen und Hollywood-Filmen gezündet wird. Dabei ist die Handlung, der sich Koestler angenommen hat, unbedingt eine tolle Vorlage für Hollywood, wie die berühmte Verfilmung Spartakus mit Kirk Douglas beweist. Und Der Sklavenkrieg ist vor allem ein Roman, keine philosophische Abhandlung oder Essay.

Mit einer einfachen Erzählung der Ereignisse lässt der Autor den Leser aber nicht davonkommen, ohne der Spannung die Spitze zu nehmen oder gar in historisch-erklärende Langeweile abzugleiten. Natürlich weiß jeder Leser von Beginn an, dass der große Aufstand der Sklaven unter der von Legenden umwobenen Heldenfigur Spartakus am Ende blutig gescheitert ist; wer hat nicht von dem grausamen Schicksal der Überlebenden gehört?

»Es ist kein Vergnügen, von Rom gerettet zu werden.«

Arthur Koestler: Der Sklavenkrieg

Das Römische Reich ist eine Sklavenhaltergesellschaft gewesen, vor allem Kriegsgefangene und Verschleppte aus bekriegten und eroberten Gebieten fanden sich in Ketten wieder. Die Behandlung der Versklavten war – wie zu jeder anderen Zeit – unterschiedlich, von grausamst Misshandelten und Ausgebeuteten bis hin zum intellektuellen Anhängsel und Erzieher reichte die Bandbreite. Gemeinsam war allen die Unfreiheit und die fürchterliche Bestrafung im Falle einer Flucht oder Teilnahme an einem Aufstand.

Neben einer Unzahl an kleineren Widerstandsaktionen gab es innerhalb weniger Jahrzehnte gleich drei große Erhebungen von Versklavten in Italien respektive Sizilien, die allesamt zu verheerenden Auseinandersetzungen, ja regelrechten Feldzügen und Schlachten führten. Der berühmteste Aufstand ist der des Spartakus, auch gegen ihn mussten kriegsstarke Legionen eingesetzt werden, bis die »Ordnung« wiederhergestellt wurde. Diejenigen, die nicht auf dem Schlachtfeld starben, wurden hingerichtet – so auch in Der Sklavenkrieg

Koestler schildert das gruselige Schauspiel gekonnt, er lässt einige der Handelnden die Strafe erleiden und den Leser mitleiden; gleichzeitig aber bettet er es ein in die politisch-strategischen Überlegungen und Absichten des Römers Crassus (Carrhae), auf den dieses fürchterliche Schauspiel zurückgeht. Wenig bis gar nichts zählt das einzelne Leben in der überwältigenden Maschinerie der Macht, die aber von den Händen Einzelner gelenkt wird.

Der Sklavenkrieg ist aus der Sicht vieler Zeitgenossen erzählt, Koestler wechselt munter die Perspektive und lässt vor den Augen des Lesers ein vielfältiges Bild entstehen. Die Handelnden verfolgen ihre eigenen Interessen und Absichten, es gibt eine Vielzahl von einander überlagernden Konflikten, selbstverständlich auch innerhalb der immer weiter wachsenden Sklavenarmee, aber auch unter ihren Gegnern.

»Klar und gerade waren nur die Wege der Gewalt.«

Arthur Koestler: Der Sklavenkrieg

Die aufständische Armee ist alles andere als »gut«, Koestler übergeht nicht das fürchterliche Schicksal, das jene Orte ereilt, die anfangs auf der Route dieses Heerhaufens liegen. Zu den besonderen Szenen gehört jene, in der Bewohner einer dieser Städte trotz der heranwalzenden Gefahr und der sich abzeichnenden inneren Unruhen (die Sklaven der Stadt werden von Aufrührern unterwandert) völlig weltfremd und naiv reagieren und auf grausame Weise mit dem Leben bezahlen.

Die Gegenspieler der Sklavenarmee lernen und passen ihre Strategie an – es kommt zu jener erwähnten gespenstischen Szene, da bewaffnete Sklaven die Mauern einer Stadt gegen ihre heranrückenden Schicksalsgenossen erheben und ihre Herren und Unterdrücker verteidigen! Hier stellt sich die eingangs genannte Frage, weitere drängen sich auf. Warum münden Revolutionen scheinbar zwangsweise in Gewaltorgien? Warum werden sie so einfach usurpiert und zur Etablierung einer Tyrannei genutzt ?

Arthur Koestler hat diesen Roman Mitte der 1930er Jahre begonnen, als Europa von zwei einander abgrundtief hassenden, gleichzeitig aber in gewissen Strukturelementen und vor allem brutalster Menschenverachtung handelnden Regimen unterjocht wurde: dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus. Koestler war Kommunist, später fiel er angesichts der unfassbar brutalen Herrschaft Stalins ab und wendete sich entschieden gegen den real existierenden Kommunismus.

Der Sklavenkrieg kann als ein Echo auf das Zeitgeschehen gelesen werden, er stellt auch eine Auseinandersetzung mit dem dar, was Koestler (deutscher Exilant und entzauberter Kommunist) selbst erlebt. Er ist übrigens nicht der einzige Romancier, der sich in dieser Lage einen historischen Stoff sucht, um sich mit gegenwärtigen Fragen auseinanderzusetzen; Heinrich Mann  hat nicht grundlos in den 1930ern sein monumentales Werk um Henri Quatre vollendet.

Ein zentrales Roman-Motiv ist das »Gesetz des Umweges«. Wenn eine Revolution oder ein Aufstand dieses Gesetz missachtet und den direkten Weg wählt, drohen Blutbad und Untergang. Koestler lässt seine aufständischen Sklaven auf einen – fiktiven – Umweg ziehen und eine utopische »Sonnenstadt« gründen; die aber hat mit dem Paradies auf Erden wenig zu tun, man assoziiert eher Cromwells unerbittliche Puritaner und natürlich das Paradies der Arbeitslager, die stalinistische Sowjetunion.

»Aber die Stadt, der Sonnenstaat, blieb allein.«

Arthur Koestler: Der Sklavenkrieg

Auch der Umweg führt in diesem Fall in den Abgrund. Spartakus verändert sich, wird zum Alleinherrscher, entfremdet sich und regiert mit drakonischer Härte. Wichtiger aber ist, dass jenes Lebensexperiment namens »Sonnenstadt« einerseits ohne Mitstreiter und Nachahmer in der übrigen Welt bleibt, zugleich mit dem Rest dieser Welt verbunden ist; verändert sich die allgemeine Tektonik der Macht, ist auch die »Sonnenstadt« davon betroffen, wie Spartakus und die Seinen schmerzlich erfahren müssen.

Der Sklavenkrieg von Arthur Koestler ist ein überwältigender Roman, der den Leser dank der wendungsreichen Ereignisse und des Tiefgangs der Handlung fesselt, während das Geschehen auf sein tragisches Ende zusteuert. Man schaut in tiefe, dunkle Schluchten und spürt das verlockende Blau, das unerreichbar in der Höhe strahlt, die Verheißung einer besseren Welt. Unten aber steht der Mensch in seiner Widersprüchlichkeit und findet nicht aus seiner Haut heraus.

Der Roman selbst ist in gewisser Hinsicht dem »Gesetz des Umweges« gefolgt, bis er in dieser Form publiziert werden konnte. Das Originalmanuskript galt als verloren, die Veröffentlichung in weitere Sprachen geschah auf der Basis der Übersetzung ins Englische und einer Rückübersetzung ins Deutsche (Die Gladiatoren). Das Originalmanuskript schlummerte derweil in der Sowjetunion unter den misstrauischen Augen des KGB, ehe es nach weiteren Windungen und Wendungen veröffentlicht wurde.

[Rezensionsexemplar]

Arthur Koestler: Der Sklavenkrieg
Elsinor 2021
Hardcover 392 Seiten
SBN 978-3-942788-60-1

© 2025 Alexander Preuße

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