Schriftsteller - Buchblogger

Schlagwort: Ukraine (Seite 4 von 7)

Dekoder (Hrsg.): »Das ist ein Ozean aus Wahnsinn«

Eine fabelhafte Sammlung von Beiträgen aus Belarus und Russland, die sich mit Putins Angriffskrieg auf die Ukraine kritisch auseinandersetzen. Cover edition fotoTAPETA, Bild mit Canva erstellt.

Aus der Ferne erscheinen die Dinge immer einfacher, als sie in Wirklichkeit sind. Eine Binsenweisheit, die – wie so vieles andere – in Kriegszeiten aus dem Blick geraten kann. Vor allem, wenn es um jene Ferne geht, die nicht mehr so ohne Weiteres erreicht werden kann, weil man gut beraten ist, im Wortsinne jede Nachricht, jede offizielle Äußerung als Lüge zu betrachten.

Man darf dem Verlag edition fotoTAPETA dankbar sein, dass er Bücher wie »Das ist ein Ozean aus Wahnsinn« realisiert, denn die kritischen Stimmen zum Krieg aus Russland und Belarus sind wie ein kleines Fenster, das geöffnet wird und einen schmalen Spalt bietet, um Einblick zu erhalten in jene Lebenswelt, die in deutschen Medien oft nur in nichtssagenden, verallgemeinernden Sätzen Ausdruck finden.

Was heißt es eigentlich, wenn jemand Russland verlassen muss? Zunächst einmal bedeutet das, dass es sich um eine oder mehrere Personen handelt, die sich nicht aus Jux und Feriensehnsucht im Westen aufhalten, während sie gleichzeitig Putin unterstützen, was zurecht äußerst kritisch gesehen werden muss. Es sind Bewohner der Russischen Föderation, die unter dem Druck der Repressionen dieser Diktatur keine Zukunft haben.

Wir verstehen nicht, was mit uns geschieht, welche Epoche wir konkret haben.

Dekoder (Hrsg.): »Das ist ein Ozean aus Wahnsinn«

Es ist  bedrückend, die Auszüge des Tagebuchs von Xenia Luschenko zu lesen, in denen sie ihre Erschütterung über den Kriegsausbruch, die panische Angst um ihren Sohn, den sie ans Exil verliert, die zunehmende Isolation im Land angesichts der fliehenden Freunde und die brutale Machtdurchsetzung des Regimes an ihre Hochschule beschreibt. Die Zeitgenossen tun, als ob alles normal wäre oder geben sich opportunistisch: ein „Z“ ans Revers, kein Problem.

In diesem ganz vorzüglichen Sammelband kommen sehr viele, sehr unterschiedliche Menschen aus Belarus und Russland zu Wort, die eine Facette, einen Ausschnitt dessen beschreiben, was sich hinter dem Wort „Krieg“ verbirgt. Manche Dinge ähneln sich, etwa das Gefühl der Scham, des schlechten Gewissens gegenüber den mit Zerstörung und Vernichtung überzogenen Ukrainern. Das war ganz besonders intensiv in Natalja Kljutscharjowas Tagebuch vom Ende der Welt zu spüren.

Etwas anders sieht der Blick in die Zukunft aus. Übereinstimmend ist die Sorge, dass es keine geben könnte, für die jeweilige Person, aber auch für das gesamte Land. Was genau damit gemeint ist, hängt vom Standpunkt und der Lebenssituation ab; die Künstlerin sieht eine andere Zukunft schwinden als der politisch gut vernetzte und aktive Journalist einer großen Zeitung.

Damit korrespondiert auf eine bemerkenswerte Weise der Verlust der Vergangenheit. Gewissheiten zerstäuben im Sturmwind des Angriffs- und Vernichtungskrieges, letztlich auch die Vergangenheit des so genannten „Großen Vaterländischen Krieges“, dem propagandistisch bis zur Unkenntlichkeit verzerrten Erinnern an den Überfall des nationalsozialistischen Deutschlands im Sommer 1941. Selbst das, was unter den Bergen an Lügen durchschimmert, verliert an Wert, wenn man selbst Teil eines verbrecherischen Krieges ist.

Vor allem ein Beitrag aus Belarus hat mir viel Stoff zum Nachdenken geschenkt. Für das Land, das für kurze Zeit mit so vielen Hoffnungen bedacht war, die – wie so unendlich viele zuvor – von der erbarmungslosen russländisch-imperialen Machtmaschine zermalmt wurden, ist Teil des Krieges: Aufmarschgebiet, Stützpunkt für die Luftangriffe auf zivile Ziele, Lieferant von Material an den Aggressor, wenn auch kein aktiver Kriegspartizipant.

Für Belarusen ist das eine immens schwierige Lage. Wer möchte es den Ukrainern verdenken, wenn sie mit dem Finger auf die Einwohner zeigen und Vorwürfe äußern. Wie soll man damit umgehen? Eigentlich hat das belarusische Volk sehr deutlich gezeigt, dass die Führung des Landes nicht Belarus ist, im Gegenteil, die Verantwortung liegt also beim Regime.

Trotzdem machen es sich belarusische Kommentatoren des Krieges nicht so leicht und wälzen alles auf die Herrschenden ab; die Scham gegenüber den Ukrainern ist spürbar, auch das verzweifelte Bemühen, eine halt- und tragbare Haltung zu dem Verhängnis zu finden. Man ahnt: ein vergebliches Unterfangen, Kriege nehmen keinerlei Rücksichten auf Befindlichkeiten, von absolut Niemandem.

Die Staatsmacht hat Boris Romantschenko den Krieg erklärt. Dieser alte Mann hat vier Konzentrationslager, darunter Buchenwald, überlebt. Im März 2022 ist eine russische Rakete in Charkiw eingeschlagen und hat ihn getötet. (Wladimir Metjolkin)

Dekoder (Hrsg.): »Das ist ein Ozean aus Wahnsinn«

Der für mich bewegendste Beitrag stammt von Wladimir Metjolkin, der als Journalist für die Studentenzeitschrift Doxa gearbeitet hat und angeklagt wurde. Anfang April 2022 wurde er verurteilt und hat in seinem Schlusswort bei der Gerichtsverhandlung über den Angriffskrieg Russland gegen die Ukraine gesprochen.

Metjolkins Mut ist für mich höchst beeindruckend, ebenso die Klarheit, mit der er den russländischen Angriffskrieg charakterisiert und darstellt. Er stellt das in Russland gepflegte Narrativ von der Befreier- und Siegernation im Kampf gegen das nationalsozialistische Deutschland gegen jene Opfer in der Ukraine, die Veteranen des Zweiten Weltkrieges und Überlebende des Holocaust waren.

Er schildert klar, wie menschenverachtend die russländische Kriegführung auch gegenüber den eigenen Leuten ist, aber selbstverständlich auch gegen Zivilisten, Frauen, Kinder in der Ukraine. Die Propaganda wird als solche demaskiert, die horrenden Folgen für Russland ebenso klar benannt, wie das, was zu dem dramatischen Zivilisationsbruch führte: Putins Drang nach ewiger Macht und »imperialistisches Denken«. Mit diesem Mann gibt es nichts zu verhandeln.

[Rezensionsexemplar]

Dekoder (Hrsg.): »Das ist ein Ozean aus Wahnsinn«
Verschiedene Übersetzer
edition.fotoTAPETA_Flugschrift 2023
Broschiert 224 Seiten
ISBN: 978-3-949262-31-9

Natalja Kljutscharjowa: Tagebuch vom Ende der Welt

Wie erlebt jemand im Land des Aggressor den russländischen Angriffs- und Vernichtungskrieg gegen die Ukraine? Antworten gibt es in diesem Tagebuch. Cover Suhrkamp Verlag, Bild mit Canva erstellt.

In Russland ist der Zweite Weltkrieg bis in die Gegenwart sehr präsent. Die russländische Version des Zweiten Weltkrieges, sollte man sagen, in der dieser erst im Juni 1941 beginnt, in der es keinen sowjetischen Angriffskrieg gegen Finnland, keine Annexion des Baltikums und Bessarabiens und erst recht keine Eroberung Ostpolens gibt, Hand in Hand mit den Nationalsozialisten.

Diese geschichtlichen Erzählungen dienen nur der Propaganda; aber natürlich gibt es auch die Erinnerungen Einzelner, mündlich, in Berichten, Tagebüchern, Briefen oder Romanen, die von den Kriegserlebnissen erzählen. Der erste Kriegstag nimmt dabei eine besondere Rolle ein, wenn die Welt aus den Angeln gehoben wird und alles umstürzt.

Das sollte man beachten, wenn man jenen Satz liest:

Ich hatte nie gedacht, dass es auch in meinem Leben einmal einen ersten Kriegstag geben würde.

Natalja Kljutscharjowa: Tagebuch vom Ende der Welt

Natalja Kljutscharjowa schreibt diesen Satz in ihrem Tagebuch vom Ende der Welt, angesichts der nicht abreißenden Kette an größeren und kleineren Kriegen rund um den Erdball, den nicht enden wollenden Bürgerkriegen und Kämpfen zwischen Kriegsherren und Machtgruppen in zerfallenden Staaten, wirkt er zunächst einmal etwas seltsam.

Doch auf Russland bezogen, auf das durch die spezifisch russländischen Erinnerungen (ich weigere mich, das Kultur zu nennen) an den Zweiten Weltkrieg gefütterte Selbstbild und die darin beschworene Rolle als Opfer, heroischen Zentrum des Widerstands und letztlich auch des einzigen echten Siegers entfaltet dieser Satz seine ganze Wirkung: Russlands erster Kriegstag als verbrecherischer Aggressor.

Irgendwann später im Tagebuch findet sich eine Stelle, in der die Autorin das explizit so schreibt; man kann darüber ein wenig die Nase rümpfen, an Tschetschenien, Georgien, Syrien denken oder an die hybride Kriegführung gegen den Westen, doch unterscheidet sich der russländische Angriffskrieg gegen die Ukraine allein durch Umfang und Ziel, vor allem aber Offenheit von allen anderen. Es ist ein – verlogener, propagandistisch vernebelter Krieg, aber eben auch ein unübersehbarer.

Es ist also ein erster Kriegstag mit allen niederschmetternden Folgen, die nicht nur jene betreffen, die seinen direkten Auswirkungen ausgesetzt sind (wie zum Beispiel in der ukrainischen Frontstadt Charkiw bei Zhadan, Skalietska, Gerassimow), sondern auch fern von der Front, von allem Geschützdonner, dem Brüllen und Toben der Kampfhandlungen.

Ich dachte immer, jemand, der aus eigener Erfahrung weiß, was Krieg bedeutet, würde ihn nie unterstützen. Wie sich nun herausstellt, weiß ich sehr vieles nicht über die Menschen.

Natalja Kljutscharjowa: Tagebuch vom Ende der Welt

Die Reaktionen vieler Mitmenschen auf den Kriegsausbruch sind für Natalja Kljutscharjowa oft schwer erträglich, die eigene Ohnmacht ist noch schlimmer. Fragen umschwirren sie wie garstige Moskitos. Was hätte man tun können? Was kann man tun? Die Anti-Kriegsdemos sind auf eine niederschmetternde Weise geschildert, nach innen hatte das Putin-Regime seinen Angriffskrieg bestens vorbereitet.

Die Erschütterung angesichts des Unheils, die der Krieg heraufbeschwört, ist ein Motiv, das in vielen älteren Kriegstagebüchern auftritt; die Worte, die Hermann Stresau im September 1939 findet, klingen so vertraut; auch die Zerrissenheit, sich weder Sieg noch Niederlage wünschen zu können, das fürchterliche Unheil aber vorauszuahnen, ist spürbar.

Was das Tagebuch vom Ende der Welt besonders macht, ist die Offenheit, mit der Natalja Kljutscharjowa von ihrer Scham spricht, die sie empfindet, Teil Russlands zu sein. Das Bedürfnis nach Flucht aus dem Land, dem viele nachgeben (müssen) und das schlechte Gewissen, wenn der Druck etwas nachlässt. Sie wird zum Nachrichten-Junkie, als könnte ein dauerhafter Strom an Informationen etwas ändern, eine Ersatzhandlung, um die Hilflosigkeit zu überdecken.

Die Scham macht ein Häkchen: gut, alles okay, sie weint. Weinen ist erlaubt.

Natalja Kljutscharjowa: Tagebuch vom Ende der Welt

Wie sehr der Krieg das Leben zumindest Einzelner aus den Angeln hebt, sie tief verstört, wird deutlich als die Autorin schreibt, sie habe die Bedeutung der berühmten Worte, dass die Lebenden die Toten beneiden würden, begriffen. Babi Jar ist von einer russländischen Rakete getroffen worden. Jene Verstorbenen, die gegen die Nationalsozialisten gekämpft und geglaubt haben, sie stünden auf der Seite des Guten, ist es besser, das nicht erlebt zu haben.

Eine besondere Angst der Autorin gilt jenen, die aus dem Krieg zurückkehren und das, was sie gelernt haben, in der Heimat fortsetzen. Das geschieht bereits, Wagner-Söldner, ehemalige Verbrecher aus Gefängnissen, die ihren Dienst in der Ukraine überlebt haben, führen ihr Tun in Russland weiter.

Die Morde bei Butscha lassen sie fürchten, »der nie vertriebene Dämon von 1937« würde zurückkehren, eine finstere, apokalyptische Vision. Wie begegnet man derlei? Mit einem Zitat aus Dune von Frank Herbert: »Ich darf keine Angst haben. Angst tötet das Bewusstsein. Angst ist der kleine Tod.«

[Rezensionsexemplar]

Natalja Kljutscharjowa: Tagebuch vom Ende der Welt
Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt
Suhrkamp 2023
Broschur, 167 Seiten
ISBN: 978-3-518-12781-0

Jeffrey Veidlinger: Mitten im zivilisierten Europa

Die Schilderungen der Pogrome sind oft schwer erträglich, dafür bietet das Buch einen detaillierten Blick auf die Gewalttaten und ihre Folgen für die Opfer, aber auch ihren Platz auf dem Weg in den Holocaust. Cover C.H.Beck, Bild mit Canva erstellt.

Am Ende lässt Jeffrey Veidlinger sein Buch Mitten im zivilisierten Europa in den Holocaust ab Juni 1941 münden, der über die jüdischen Bürger Osteuropas hereinbrach, als die deutsche Wehrmacht ihren Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion entfesselte. Die letzten Seiten dieses bemerkenswerten, oftmals schwer erträglichen Buches gehören den ersten Mord- und Gewalttaten in den gerade eroberten Gebieten.

Befeuert von Einsatzgruppen, SS und Wehrmacht haben Einheimische Pogrome gegen ihre jüdischen Mitbürger entfacht, wieder wurden Nachbarn und nichtjüdische Mitmenschen zu Tätern, wie schon in den Jahren 1918 bis 1921. Geradezu gespenstisch wirkt es, wenn Veidlinger darauf verweist, dass Täter der älteren Gewalttaten wieder mitmischten, zum Teil von den Nationalsozialisten an prominenter Stelle installiert.

Jeffrey Veidlingers Buch Mitten im zivilisierten Europa widmet sich einem ebenso schmerzlichen wie wichtigen Thema, das den Brückenschlag darstellt, dem hierzulande nicht die nötige Aufmerksamkeit in der Erinnerungskultur zukommt. Es gibt eine gewisse Kontinuität bei den Gewalttaten gegenüber Juden, gerade zu Beginn des Vernichtungskrieges, die von deutscher Seite durch Einsatzgruppen, Ghettoisierung und Vernichtungslager dramatisch eskaliert wurde.

Zumindest in den Köpfen der Opfer war also die Gewalt, die sie 1941 erlebten, direkt mit dem Blutvergießen von 1918 verbunden.

Jeffrey Veidlinger: Mitten im zivilisierten Europa

Die »Vorgeschichte des Holocaust«, also der »wahre Beginn desselben Holocaust«, der seit vielen Jahrzehnten umfassend erforscht und in unzähligen Darstellungen besprochen wurde, ist der Kern dieses vorzüglichen Buches. Die Geschichte muss nicht neu geschrieben werden, SS, Wehrmacht und Einsatzgruppen werden kein Jota entlastet, aber einige Dinge, die während des Zweiten Weltkrieges geschehen sind, erscheinen klarer.

Veidlinger weist darauf hin, dass 1941 rund ein Drittel der Opfer in der Nähe ihrer Wohnhäuser getötet wurden, wie in früheren Zeiten haben sie die Gewalt als Pogrom empfunden. Der Holocaust, der im Rahmen des deutschen Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion durchgeführt wurde, ist also in Teilen (!) noch mit den zu Unrecht als überkommen angesehenen Begriff des »Pogroms« zu beschreiben.

Diese Pogrome hatten eine Vorgeschichte, die Veidlinger nachzeichnet; sind doch zwischen November 1918 und März 1921 ungleich mehr Menschen auf barbarische Weise getötet, vergewaltigt, gedemütigt, beraubt und vertrieben worden als in allen Pogromen zuvor, sie haben ihre Lebensgrundlage im Wortsinne verloren, sodass sie fliehen mussten. Mehr als eine halbe Million jüdische Menschen haben sich ins Ausland aufgemacht, insgesamt flohen vor der Gewalt des brutalen Bürgerkrieges mehr als zwei Millionen Menschen.

Eine Flüchtlingskrise war die Folge, die damals wie heute massive Auswirkungen auf die aufnehmenden Staaten hatte. Die Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung und ihre Flucht waren dabei bedeutsam, denn Juden wurden in den aufnehmenden Staaten besonders wahrgenommen, ja galten als das Bild des Flüchtlings, obwohl sie nur ein Viertel der Fliehenden stellten. Rechte Hetzer haben die Steilvorlage aufgenommen und die ohnehin vorhandenen antisemitischen und antikommunistischen Stimmungen geschürt. Die Verschwörungserzählungen waren ebenso abstrus wie wirksam.

Wie jedes geschichtliches Ereignis war der Holocaust unvorhersehbar, doch seine allgemeinen Umrisse wurden vorausgeahnt.

Jeffrey Veidlinger: Mitten im zivilisierten Europa

In diesem Sinne ist das Buch sehr lehrreich und mit Blick auf die realpolitischen Verhältnisse niederschmetternd. Man ist geneigt, zum Misanthropen zu werden, angesichts der grotesken  Vorwürfe, die gegen die Juden erhoben und geglaubt wurden. Obgleich viele von ihnen wegen der Bolschewiki und ihrer Ideologie bzw. deren erbarmungsloser Durchsetzung auf dem Rücken von Millionen Opfern geflohen sind, wurden sie als angebliche Multiplikatoren ebenjener Gesinnung gebrandmarkt.

In den hanebüchenen Vorwürfen, die gegen Juden erhoben wurden, unterscheiden sich der zeitgenössische Osten und Westen nur graduell, vor allem das Motiv des Antibolschewismus, der Juden und Bolschewiki / Kommunisten gleichsetzte, ist überall anzutreffen. Pogrome wie jenseits der Oder gab es in Deutschland erst nach 1933, in dem Ausmaß und der Brutalität erst im Krieg, doch Massenerschießungen durch Einsatzgruppen und die industrialisierte Massentötung waren und bleiben etwas Einmaliges.

Besonders erschütternd ist die Feststellung, dass alle an antijüdischen Pogromen beteiligt gewesen sind: Polen, Ukrainer, Russen, Bolschewiki, Rote Armee, Weiße, Kosaken – aber auch ganz gewöhnliche Menschen, Nachbarn, Mitarbeiter, Angestellte, Bekannte, Kunden und Auftraggeber; buchstäblich alle konnten sich über Nacht in Denunzianten, Kollaborateure, Schaulustige oder Nutznießer eines Pogroms verwandeln.

Der Wert jüdischen Lebens war gesunken.

Jeffrey Veidlinger: Mitten im zivilisierten Europa

Man kommt gar nicht umhin, die Frage aufzuwerfen, was eigentlich von »Zivilisation« zu halten ist. Der Firnis, der sie gegenüber der Barbarei, der anarchischen Gewaltanwendung trennt, scheint recht dünn zu sein. Daran ändern auch die vielen Menschen wenig, die versucht haben, den Juden zu helfen; die sie warnten, versteckten, sich für sie einsetzten – denn am Ende blieben trotzdem verwüstete Städte, niedergebrannte Häuser und verkohlte Leichen übrig.

Die Monographie weist auf einige sehr wichtige Aspekte hin, die das historische Verständnis schärfen. Der Begriff des »Bürgerkriegs« vereinfacht laut Veidlinger die Umstände zu sehr. Dafür gab es viel zu viele Konfliktparteien, keineswegs zwei klar voneinander getrennte Lager, wie im amerikanischen Bürgerkrieg etwa. In der Ukraine dieser Jahre tobte ein Krieg ohne Fronten, mit oftmals kleinen, regionalen Machthabern bzw. Kriegsherren. Ein vorzüglicher Nährboden für Pogrome.

[Rezensionsexemplar]

Jeffrey Veidlinger: Mitten im zivilisierten Europa
Aus dem Englischen von Martin Richter
C.H.Beck 2022
ISBN: 978-3-406-79108-6
Hardcover 456 Seiten

Yeva Skalietska: Ihr wisst nicht, was Krieg ist

Ein besonderes Tagebuch aus der Ukraine, in dem eine Zwölfjährige über ihre ersten Tage in Charkiw während des russländischen Angriffskrieges berichte. Cover Kaur, Bild mit Canva erstellt.

Am Dritten Tag des Krieges hat die zwölfjährige Yeva bereits gelernt, die Entfernung von Explosionen anhand des Knall-Lautes abzuschätzen. Da ist sie schon nicht mehr in ihrer Wohnung in Charkiw, sondern mit ihrer Oma bei einer Freundin untergekommen. Zum Glück, denn schon einige Tage später trifft ein russländisches Geschoss die alte Unterkunft, reißt ein Loch in die Hauswand, den Balkon ab und zerstört die Küche.

Dank Smartphone gibt es davon auch ein Foto – es ist in ihrem Tagebuch Ihr wisst nicht, was Krieg ist, abgebildet. Für Yeva ist der Verlust mehr als nur ein materieller, es fühlt sich an, als wäre ein Teil ihrer Kindheit und damit von ihr selbst zerstört worden. Noch später, als sie bereits auf der Flucht nach Westen sind, hört sie, dass vom Wohnblock noch mehr zerstört wurde.

Wenn die Medien davon berichten, dass die Frontstadt Charkiw immer mehr zur Geisterstadt werde, stecken solche Geschichten dahinter; viele davon erahnt der Leser von Yeva Skalietskas Tagebuch aus den Kurznachrichten, die sie mit ihren Mitschülern austauscht. Die Ängste, die Unsicherheit und Verzweiflung, aber auch die Erleichterung, herausgekommen und in Sicherheit zu sein, sind spürbar.

Panikattacken lernt Yeva auch kennen, in Charkiw unter dem Eindruck des russländischen Beschusses, aber auch ganz im Westen der Ukraine, als sie in Uschorod an der ukrainisch-ungarischen Grenze angekommen sind. Statt Freude überfallen sie Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Ein Leben ist innerhalb weniger Tage völlig aus den Angeln gehoben worden. Die Intensität der Aufzeichnungen ist bedrückend, das Geschwafel selbst ernannter Pazifisten dagegen dosenhohl.

Yeva gelangt über Ungarn nach Irland, davon berichtet ein Teil ihres Tagebuches. Das ist übrigens sehr gelungen aufgemacht, drei schön gestaltete Karten informieren den Leser über den Fluchtweg Yevas, die Ukraine und Charkiw. Gerade auch junge Menschen können hier einen Einblick bekommen, wie es ist, wenn ein verbrecherischer Angriffskrieg den Frieden vertreibt. Das Vorwort von Marina Weisband ist sehr informativ – es spricht nichts dagegen, das Buch auch in der Schule zu lesen.

Yeva Skalietska: Ihr wisst nicht, was Krieg ist
Übersetzt von Dr. Alexandra Berlina
Knaur 2022
Hardcover 192 Seiten
ISBN: 978-3-426-28622-7

Dimitri Kapitelman: Eine Formalie in Kiew

Ein kurzer Roman über die Abgründe von Migration und Famile. Cover dtv, Bild mit Canva erstellt.

Von einem, der auszog, ein Deutscher zu werden – und dazu dank teutonischer Bürokratie nach Kyjiw reisen muss, um eine Formalie zu erledigen. Unnötig zu erwähnen, dass es nicht bei der Formalie bleibt, ebenso unnötig zu erwähnen, dass es nicht bei dem einen sprichwörtlichen Klischee bleibt. Erfreulicherweise hat Autor Dimitrji Kapitelman eine ganze Reihe von Sprachneuschöpfungen ins literarische Feld geführt, um sich diesen Klischees angemessen anzunehmen und ihnen Leben einzuhauchen.

Der Leser folgt dem Ich-Erzähler in die Abgründe einer Migrations– und Familiengeschichte. Beide Motivkreise sind eng miteinander verwoben, beide sind fern jeglicher Verklärung und rührseliger Aufhübschung. Von einem Land ins andere überzusiedeln ist (über-)fordernder Kraftakt; Kapitelman spitzt das zu, in dem er sagt, die Katze habe sich am schnellsten in Deutschland integriert. Die Eltern des Erzählers fremdeln, übertünchen die Fremdheit mit Verklärung ihrer eigenen Herkunft.

Das ist ein Motiv, das aus anderen Migrations-Romanen bekannt ist. Nino Haratischwili etwa hat in ihrem Roman Die Katze und der General dieses Thema gekonnt auf den Punkt gebracht. Es lohnt sich für den Leser, auf die Zwischentöne zu hören – wer Migration verstehen will, kommt hier auf seine Kosten. Es ist kompliziert, einfache »Lösungen« sind und bleiben populistische Phrasendrescherei.

In der Ukraine erlebt der reisende Erzähler eine Reihe von Überraschungen, die hier nicht vorweggenommen werden. Der Krieg im Osten des Landes, in Deutschland und weiten Teilen Westeuropas lange Jahre als »Krise« verharmlost und vergessen, wetterleuchtet immer mal wieder am Erzählhorizont, Putins Angriffs- und Vernichtungskrieg ist noch fern. Angesichts dessen, was Kapitelman erzählt, ist man schon verblüfft, wie widerstandsfähig sich die Ukraine erwiesen hat. 

Auf den ersten Blick jedenfalls, denn Zwischentöne und Beiläufigkeiten lassen bereits erahnen, wie blind die Annahme gewesen ist, die Ukraine würde sich nicht wehren (können). Bei allen Missständen hat sich das Land, haben sich seine Menschen zu einer Zivilgesellschaft entwickelt, auch wenn sowjetische »Stillstandsarchitektur« und vieles andere Überkommene noch präsent sind. 

Dimitri Kapitelman: Eine Formalie in Kiew
dtv 2023
Taschenbuch 176 Seiten
ISBN 978-3-423-14842-9

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