Schriftsteller - Buchblogger

Schlagwort: Autoritarismus (Seite 1 von 2)

Friedrich Christian Delius: Die linke Hand des Papstes

Buchcover von ‚Delius – Die linke Hand des Papstes‘ von Friedrich Christian Delius vor dem Hintergrund der Kuppel und Brücke in Rom, mit der Frage: ‚Was hat das Oberhaupt der Katholiken in einer protestantischen Kirche zu suchen, mitten in Rom?‘
Die Novelle von Friedrich Christian Delius ist eine literarische Wutrede, ausgelöst durch eine überraschende Begegung des fiktiven Erzählers mit dem Papst in der protestantischen Christuskirche zu Rom. Wunderbar als Reiselektüre geeignet, wenn man nicht bloß sehnsuchtsschwelgend durch Rom laufen möchte. Cover Rowohlt, Bild mit Canva erstellt.

Die Pferde bleiben in Erinnerung.  Zugegeben, in meinem Fall waren es nebulöse Erinnerungen, obwohl ich Die linke Hand des Papstes schon zweimal gelesen habe. Einmal war das Buch mein Reisebegleiter in Rom, auch das ist schon einige Jahre her, die Erinnerungen an die Lektüre, die sich mit dem Erlebten verwob, ist verschwommen, aber präsent. Doch die Pferde sind mir als Motiv unvergessen geblieben. Pferde als Symbol abgründiger Korruption, in der Schreibgegenwart des Autors und der Vergangenheit der Spätantike.

Es ist ein weiter Bogen von Augustinus zu Gaddafi, von Honorius zu Berlusconi, den Friedrich Christian Delius seinen Lesern zumutet. Und es sind keineswegs die einzigen Zumutungen, insbesondere schwärmerischen Rom- und Italienverehrern rückt die Novelle mit Blicken hinter die Kulissen auf den sehnsuchtsvollen Touristenleib. Einen frühpensionierten Archäologen, der sich halblegal als Stadtführer verdingt, hat Delius zum Erzähler erkoren.

Der Deutsche ist mit einer Italienerin namens Flavia, die transalpine Ehe verhilft dem Erzählten zu Glaubwürdigkeit. Der Name weist in die Antike zurück, zwei Kaisergeschlechter zählen zu den Flaviern, es ist also eine profunde Personifizierung der Historie. Delius verzahnt Erzählgegenwart und Vergangenheit auf allen Ebenen. Flavias zugespitzte Kommentare über die eigenen Landsleute kann sich ein Deutscher nicht leisten, nicht nach Meinung des Erzählers, der seinen Landsleuten die Untaten der Nazi-Schergen unter die Nase reibt. Als Italien 1943 die Nibelungentreue zum Reich aufgab und nicht bis »fünf nach Zwölf« kämpfen und untergehen wollte, brach über die Italiener das Morden herein. 

Alarich und Adolf und Kappler und Kesselring, den Florenz-Zerstörer und Partisanenschlächter, die schaffen wir nicht so leicht aus der Welt.

Friedrich Christian Delius: Die linke Hand des Papstes

Das ist kein gutes Thema für Touristen, weiß der Touristenführer, also hält er sich zurück; er überlegt, wie er in seine Führungen derlei einfließen lassen könnte, ohne seine Kundschaft zu verschrecken. Es ist nicht das einzige, wenngleich das bedrückendste Thema für deutsche Leser.  Fast alle anderen Wut erzeugenden Aspekte sind hausgemacht italienisch oder katholisch-kirchlicher Natur mit langen Wurzeln in die Geschichte. Den prächtigen Fassaden Roms sieht man es nicht an.

Ein Schnittmenge zu den Nazi-Untaten gibt es, Benito Mussolini und seine Faschisten, die in ihren fürchterlichen Kriegen hunderttausende von Toten zu verantworten haben. Die Schlächtereien in Abessinien, in Albanien, der Angriffskrieg gegen Griechenland und die nachfolgende Besatzungsherrschaft. Das alles ruht halb vergessen im Schatten der monströsen deutschen Massenmorde, von Holocaust und Vernichtungskrieg im Zweiten Weltkrieg.

Die Kirche hat sich nicht mit Ruhm bekleckert, nicht in Person von Papst Pius XII. und auch sonst nicht. Delius lässt seinen Erzähler von einem Onkel in Wehrmachtsuniform berichten, der diesem Papst die Hand im Jahr 1942 gedrückt habe. Eine zufällige Audienz, bei dem der Protestant in Uniform die Aufmerksamkeit des Papstes erregt, es kommt zu einem Gespräch, in dem der Stellvertreter Christi dem Deutschen zu seinem Führer gratuliert.

Wie käme ein Papst zu einem Glückwunsch dieser Art? 1942 waren Millionen sowjetische Kriegsgefangene verhungert, Millionen Juden erschossen und die Gaskammern in den industriell arbeitenden Vernichtungslagern Realität. Wieso wirkt diese Geschichte nicht, dass man abwinken möchte? In den weiten Gedankenkreisen des Erzählers kommen Katholische Kirche und deren Oberhaupt nicht gut weg, Kreuzzüge gegen »Ketzer« aller Art, Verfolgung von Juden, »Hexen und Zigeunern«, die Scheiterhaufen. Eine »Terrorinstitution«, meint der Erzähler.

Friedrich Christian Delius: Die linke Hand des Papstes

Friedrich Christian Delius: Die linke Hand des Papstes

Auch kein gutes Thema für »Touristen, Anti-Touristen« und »aufgeklärte Bildungstouristen« in der »Ewigen Stadt«; die wollen »die Märchen«. Das Thema ist aber gut geeignet für eine Novelle, die in ihrer Sprache und Gedankenführung als  assoziative Wutrede daherkommt. Rant würde man heute vielleicht sagen, ausgeführt mit leichter Hand, sarkastisch, wortgewandt und bildstark. Den allgegenwärtigen Lärm der Stadt verspottet Delius als »große römische Jupitersinfonie«, die »kleine« werde sonntags gegeben, wenn es ruhiger sei. Vom grunzenden Pöbeln der so genannten »Wutbürger« ist Delius’ Buch noch weiter entfernt, als die Antike von der Gegenwart.

Den Anlass für diese Wutrede bietet eine ungewöhnliche Begegnung des Erzählers mit dem Papst. Genauer: dem deutschen Papst Benedikt XVI. in der protestantischen Christuskirche zu Rom. Tatsächlich ist ein solcher Besuch für den 14. März 2010 verbürgt, Delius ersinnt für seine Novelle eine fiktive Begegnung seines Erzählers mit dem Papst rund ein Jahr später. Ist das die unerhörte Neuigkeit, die prägend für eine Novelle ist? Das Oberhaupt der katholischen Kirche in einer protestantischen mitten in Rom? Nein, für den Novellen-Falken hat sich Delius eine im Wortsinne »unerhörte« Begebenheit ausgedacht, die hier nicht verraten wird.

Unerhört hätte aber etwas anderes sein können, das sich der Erzähler wünscht: eine Backpfeife des Papstes für Silvio Berlusconi. Ob sie, die Hände des Papstes, noch zu einer Ohrpfeife fähig wären, fragt sich der Erzähler. Für den Wunsch nach dieser wahrhaft unerhörte Begebenheit liefert die Erzählgegenwart einen passenden Anlass: Der Italien »regierende Diktatorenfreund« wurde vom »Öldiktator« aus Libyen, ehemals italienische Kolonie, besucht. Gaddafi brachte ein Zelt und Pferde mit, jene Pferde, von denen eingangs die Rede war.

[…] und  zum ersten und einzigen Mal etwas Mitleid hatte mit dem alten Mann, dem vor lauter Macht die Hände gebunden waren.

Friedrich Christian Delius: Die linke Hand des Papstes

Was für ein Satz. Allein die Idee, dass einem Mächtigen wegen seiner Macht die Hände gebunden sein könnten, ist brillant. Doch ist es das Mitleid, das die Wucht der Worte entfaltet. Delius lässt seinen Erzähler recht früh in dem schmalen Buch dieses Mitleid empfinden, ich hätte ihn auch an den Anfang meiner Besprechung stellen können. Doch hier, nach dem über den deutschen Papst und seine Institution Gesagten, wird erst deutlich, welche Ausnahmestellung das Mitleid einnimmt, warum der Erzähler es nur ein einziges Mal empfinden kann.

Eine groteske Inszenierung, ein die katholische Kirche und ihr Oberhaupt verhöhnender Mummenschanz mitten in Rom. Gaddafi gibt eine Islamstunde. Die Belehrten sind einige hundert junge Models, bezahlt, um dem Salbadern zu lauschen. Europa solle sich zum Islam bekehren lassen, meint der Öldiktator. Man stelle sich Angela Merkel vor, die in Mekka derlei mit umgekehrten Vorzeichen sagt.

In Rom aber wird Gaddafi nicht gesteinigt oder auf andere Weise massakriert, es wird lächelnd abgewiegelt. Der bekennende »Kirchenfreund« und »Fernsehkönig«, Vorsteher einer »mafiafreundlichen Partei«, Putinanhänger und »Gotteslästerer« lässt es geschehen. Wäre das nicht wenigstens eine Ohrfeige, ausgeführt mit päpstlicher Hand wert? Wann immer es um Berlusconi geht, bricht die gezügelte Sprache des Erzählers auf, der auch vor dem handgreiflichen Wort »Hurensohn« nicht zurückschreckt.

Achtzig prächtige Zuchthengste, und wir schuldbeladen, Sündenklumpen bis in alle Ewigkeit.

Friedrich Christian Delius: Die linke Hand des Papstes

Es geht um Geld, um Öl, um lukrative Geschäfte mit Gaddafi, um den fast schon naheliegenden Verdacht der Selbstbereicherung, die das Abwiegeln erklären. Korruption statt Werte, mit diesem Zusammenhang berührt Die linke Hand des Papstes die Achillesferse des demokratischen Westens. Berlusconi stellte eine Art Galionsfigur dar, deren verheerendes Wirken in die düstere Gegenwart unserer Tage reicht. Auch wenn die erzählte Zeit in der Novelle noch harmlos wirkt angesichts der alltäglichen Monstrosität des Alltags vierzehn Jahre später, zeigt sie doch die Grundlagen des Verhängnisses.

Doch reicht die Korruption weit zurück in die Vergangenheit. Gaddafis Pferde sind nicht die ersten, die von Libyen nach Italien kamen, um dort etwas zu bewirken. Kein Geringerer als der Heilige Augustinus, so weiß der Erzähler, habe mit einer Bestechung in Gestalt von achtzig Zuchthengsten an den weströmischen Kaiser dafür gesorgt, dass sein Gegenspieler Pelagius aus dem Feld geschlagen wurde. Mit Augustinus’ Sieg hätte die Erbsünde Einzug gehalten in das christliche Dogma.

Was für eine wundervolle Parallelität! Der »anständige Ketzer«, wie sich der Erzähler selbst sieht, der »weder mit der Blindheit der Knieenden noch mit dem Hochmut der Kirchenhasser« geschlagen sei, lässt es krachen. Augustinus’ Gott wolle Unterwerfung, nicht Seligkeit aller Menschen; Frauen gälten als minderwertig – dank eines gelungenen Bestechungsmanövers. Gern würde der Erzähler den neben ihm sitzenden Papst, den Fachmann in dieser Sache befragen, doch dazu kommt es nicht.

Auf diese Weise wird die Bahn bereitet für das unerhörte Ereignis, ein Schelmenstreich des Autors, der dem Papst eine spektakuläre, ungeheuerliche Rede andichtet, die wahrhaftig für Furore gesorgt hätte. Doch hatte die Wirklichkeit auch für den Autor eine handfeste Ungeheuerlichkeit parat. Drei Tage nach dem Versenden des Manuskriptes gab ebenjener Papst seinen Rücktritt bekannt, dem Delius’ Erzähler bei seinem Treffen in der Kirche Anzeichen einer gewissen  Schwäche attestierte. 

Der Roman ist das zweite Buch aus meinem Lesevorhaben Wiedergelesen – 4für2025

Friedrich Christian Delius:  Die linke Hand des Papstes
Rowohlt Verlag 2015
Taschenbuch 128 Seiten
ISBN: 978-3-499-26831-1

Giuliano Da Empoli: Die Stunde der Raubtiere

Nach der Lektüre fühlte ich mich, als wäre über mich eine Staffel Eurofighter im Tiefflug hinweggedonnert. Cover C.H.Beck, Bild mit Canva erstellt.

Zu Beginn seines Buches wählt Giuliano da Empoli das anschauliche Bild eines Epochenbruchs, der mehrere Jahrhunderte in Vergangenheit zurückliegt. Er schildert, wie die politische Elite des Aztekenreichs, Herrscher Moctezuma II. und seine Berater, auf die Kunde von der Ankunft der Spanier um Hernán Cortés reagierten. Zunächst betont da Empoli die Fremdheit der Ankömmlinge in der Wahrnehmungswelt der Azteken, ein zentrales Motiv. Es erschwert die Einschätzung, mit wem man es zu tun hat und welche Absichten die Fremden verfolgen.

Undurchdringliche Rüstungen, Feuerwaffen, Kampftaktik und Pferde ließen kaum einen Zweifel an deren technologischer Überlegenheit, dennoch wäre es laut da Empolis möglich gewesen, die wenigen Spanier in Meer zu werfen. Das Problem lag in der Einordnung der Fremden, die nur innehalb der eigenen Vorstellung, des Referenzrahmens geschehen konnte: Waren es Barbaren, Götter oder gar eine Verkörperung des eins vertriebenen Quetzalcóatl? Die Reaktion auf die Ankunft hing von der Beantwortung der Fragen ab. Angesichts der fehlenden Eindeutigkeit geschah – nichts.

In der Zwickmühle einander widersprechender Meinungen tat der Herrscher, was Politiker aller Zeiten in solchen Situationen tun: Er entschied, sich nicht zu entscheiden.

Giuliano Da Empoli: Die Stunde der Raubtiere

Das meint, Moctezuma entschied sich gegen den Krieg, um in das eigene Herrschaftsgebiet eindringenden Fremden zu vernichten, also gegen einen schmerzhaften und riskanten Schritt mit unwägbarem Ende. Stattdessen habe er Botschafter und Geschenke geschickt, ihnen jedoch den Zutritt zu seiner Hauptstatt verweigert. Am Ende dieser Zögerlichkeit habe er Krieg und Schande geerntet, »was in allen Zeiten aus dergleichen Zögerlichkeit hervorgeht.«

Diese Interpretation von Moctezumas Verhalten wird dem Aztekenherrscher möglicherweise nicht gerecht, folgt man neueren Forschungen, wie etwa Camilla Townsends Fünfte Sonne. Sie bestreitet die Vorherrschaft religiös motivierter gegenüber rationalen Einschätzungen, unterstreicht die technologische Unterlegenheit (»die Welt der Sumerer trifft auf die Renaissance«) bei gleichzeitiger Entschlossenheit der Eroberer und verweist auf die begrenzten Ressourcen des aztekischen Herrschaftsbereiches. Alles zusammengenommen machte einen militärischen Erfolg gegen die Spanier unwahrscheinlich. Trotzdem widerlegt das da Empolis Vergleich keineswegs, im Gegenteil.

Moderne Herrscher können sie nicht wie der von Da Empoli skizzierte Moctezuma auf Unwissen berufen. Sie wissen zum Beispiel in Bezug auf Wladimir Putin sehr genau, was auf sie zukommt; gleiches gilt für China. Auch die erodierende Wirkung der Sozialen Medien auf die Fundamente der Macht ist ihnen mittlerweile bekannt, sie ahnen, dass KI es nicht besser machen lässt. Trotzdem verweigern sie entschlossenes Handeln, obwohl sie – anders als der tragische Aztekenherrscher – eben nicht unterlegen sind bzw. im Falle der KI waren. Im Grunde genommen ist das Versagen also noch viel dramatischer als von Da Empoli für Moctezuma skizziert.

So oder so folgte der Ankunft der Spanier die Auslöschung der Azteken und anderer indigener Völker, die Versklavung von Millionen Menschen, die Ausbeutung südamerikanischer Silbervorkommen, womit endlose Kriege in Europa einschließlich der Abholzung ganzer Landstriche finanziert wurden. Darin liegt eine Botschaft von Die Stunde der Raubtiere, dass nämlich derartige Verheerungen auch durch die modernen Technologie-Konquistadoren verursacht werden. Wenn blöd läuft, eine globale Unterwerfung, vielleicht auch die Auslöschung der Menschheit.

Konfrontiert mit Blitz und Donner des Internets, der sozialen Netzwerke und der KI, unterwarfen sie [die Politiker A.P.]  sich in der Hoffnung, ein wenig Feenstaub werde auch auf sie niedergehen.

Giuliano Da Empoli: Die Stunde der Raubtiere

Da Empoli spricht in seiner sehr persönlichen Analyse von »Degradierungsritualen«, denen er in den vergangenen Jahrzehnten beigewohnt habe. Was er dann in wenigen Sätzen skizziert, ist niederschmetternd, denn es zitiert Bilder, dem jeder Leser von TV-Bildschirmen, aus dem Internet oder der Tagezeitung kennt. Nur unterfüttert er sie mit einer Auslegung, die sich diametral von den Medien unterscheidet; er beruft sich auf seine Erfahrung als politisch Aktiver, Berater und Beobachter. Da alles steht auf den ersten zweieinhalb Seiten. Dem Leser kann dabei schon apokalyptisch zumute werden.

Das Gefühl verstärkt sich während der Lektüre von Die Stunde der Raubtiere. Immer wieder greift der Autor auf historische Motive zurück, vor allem den Untergang der Republik von Florenz, aber auch auf die von Niccoló Macchiavelli beschriebenen Borgia. An deren Handlungsweisen spiegelt er moderne Machtergreifungs- und sicherungsstrategien, etwa die des Mohamed Ben Salman, einer »Figur, die ummittelbar Macchiavellis Werk entstiegen ist.«

Eine besondere Rolle bei den historischen und modernen »Borgianern« spielt die Aktion, die rasche, zielgerichtete und vor allem überraschende Handlung. Das Ziel, so Da Empoli, liegt in der »Schockstarre«, die auf eine Aktion folge. Damit bekommt der Beginn des Buches, die Betonung der Handlungsunfähigkeit und –unwilligkeit moderner Politiker ein noch viel stärkeres Gewicht. Hier wird ein wichtiger Grund für die mit den Händen zu greifende Wehrlosigkeit des gewohnten Politikbetriebes genannt.

Das Zeitfenster, in dem ein Regulierungssystem noch hätte eingerichtet werden können, hat sich heute wieder geschlossen.

Giuliano Da Empoli: Die Stunde der Raubtiere

Die Einschätzung ist dramatisch. Das Kind liegt im Brunnen und ertrinkt. Damit geht Da Empoli noch über Anne Applebaum oder Timothy Snyder hinaus, die solche Regulierungen als Gegenmaßnahmen empfohlen haben. Dafür ist es zu spät, die Macht der global agierenden Konzerne und die Ruchlosigkeit ihrer Schöpfer und Lenker zu groß; sie brauchen sich längst nicht mehr hinter vorgeschützter Harmlosigkeit zu verstecken.

Die Kapitel, in denen sich das Buch mit den US-Demokraten befasst, werden vielen links-progressiven Lesern übel aufstoßen. Wer aus diesen Kreisen hört schon gern, dass für die Borgianer der »Wokismus ein gefundenes Fressen [ist], der ideale Brennstoff, um ihre Chaosmaschinerie am Laufen zu halten.«? Anhand eines dramatischen Treffens anlässlich von Obamas Abschied aus dem Weißen Haus im November 2017 zeigt Da Empoli, welche Steilvorlagen aus diesem Bereich für die Trumpisten gegeben wurden und bis in die Gegenwart gegeben werden.

Dummerweise hülfe auch ein wenig mehr Klugheit möglicherweise nicht (mehr) weiter. Der für mich haarsträubendste Abschnitt befasst sich mit dem Putsch der Bolschewisten unter der Führung von Leo Trotzki im Herbst 1917. Alexander Kerenski, der die Macht in den Händen hielt, war laut Da Empoli weder schwach noch unfähig, obendrein entschlossen. Trotzdem fegten ihn eine Handvoll Bolschewisten hinweg, weil diese die überkommene Aufstands-Schlachtordnung umstürzten.

Der wahre Antizipationsroman über die KI ist Der Prozess von Kafka, in dem niemand versteht, was vor sich geht, weder der Angeklagte noch die Richter, die ihn anklagen, und doch nehmen die Ereignisse unaufhaltsam ihren Lauf.

Giuliano Da Empoli: Die Stunde der Raubtiere

Das Zitat müsste vielleicht noch durch Kafkas Das Schloss erweitert werden, auf das sich Da Empoli auch bezieht. Am Ende führt der Autor noch vor, wie die Neue Welt unter der digitalen Fuchtel aussieht. Nicht aussehen könnte, denn »für einige ist das Schloss bereits da«, beispielsweise die Zusteller. Oder das Örtchen Lieusaint in Frankreich, das bereits spürt, wie es ist, unter der Optimierungs-Zuchtrute einer KI zu leben. Der Brückenschlag macht aus der bis dahin bildgewaltigen, aber eher abstrakten, literarisch unterfütterten Darstellung schlagartig Alltagsrealität. Der Leser fühlt sich, als wäre eine Staffel Eurofighter im Tiefflug über ihn hinweggedonnert.

Ich bedanke mich für das Rezensionsexemplar, das mir freundlicherweise vom Verlag C.H. Beck zur Verfügung gestellt wurde.

Giuliano Da Empoli: Die Stunde der Raubtiere
Macht und Gewalt der neuen Fürsten
Aus dem Französischen von Michaela Meßner
C.H. Beck 2025
Klappenbroschur 128 Seiten
ISBN: 978-3-406-83821-7

Richard Powers: Das grosse Spiel

Den vielversprechenden Ansatz kann der Roman nicht erfüllen. Cover Penguin, Bild mit Canva erstellt.

Durchaus vielversprechend beginnt der Roman Das große Spiel von Richard Powers. Der Leser reist nach Makatea im Pazifik, einem der zahllosen kleinen Eilande im größten Ozean der Erde. Makatea gehört zu den von Frankreich kolonisierten Gebieten, auf der Insel wurde über Jahre hinweg Salpeter abgebaut, die Mine hinterließ Narben, wenig Wohlstand und eine große Stille.

Für die wenigen verbliebenen Menschen auf Makatea hat der Rohstoff-Abbau nichts gebracht, eine globale Konstante auf der Welt, in der Konzerne den Rahm abschöpfen, verschwinden und die Folgen den Bewohnern überlassen. Die Insel wirkt wie ein zerschundenes Idyll, das wieder in den Fokus finanzkräftiger Unternehmen gerät. Statt Rohstoff-Raubbau geht es um etwas anderes, sehr Modernes. Für die Einwohner stellt sich die Frage, ob sie den Versprechungen Glauben schenken wollen oder nicht.

Was wie ein politisch angehauchter Roman beginnt und ökologische sowie hochtechnologische Aspekte zu berühren scheint, entfernt sich über lange Zeit von der Insel und erzählt erinnernd die Geschichte einer Freundschaft. Rafi und Todd tragen schwer an den Verletzungen, die ihnen in ihrer Kindheit zugefügt wurden. Auf dem langen Weg durch die sozialen Klüfte und Bildungslabyrinthe der USA freunden sie sich an. Die Leidenschaft für Spiele, Schach, Go und andere führt sie zusammen.

Schon recht früh im Roman ist klar, dass beide unterschiedliche Wege im Leben gegangen sind. Todd ist steinreicher Tech-Unternehmer, er erzählt einem (zunächst unbekannten) Zuhörer von seinem dahinwelkendem Leben; Rafi findet der Leser auf Makatea wieder, dort ist er mit Ina liiert, jener Frau, die aus der Zweier-Freundschaft eine kompliziertere mit drei Ecken macht.

Durch alle Gänge schienen die Maschinen mich anzubrüllen: Tu etwas! Mach etwas Großartiges mit mir!

Richard Powers: Das große Spiel

Powers hat durch diese Erzählstruktur in seinem Roman formal und inhaltlich das Spielfeld gewechselt, von Dame zu Mühle etwa. Für Schach oder Go reicht das Erzählte nicht, es bleibt viel zu oberflächlich. Das spürt der Leser besonders bei den Kapiteln, die von Evelyne Beaulieu handeln. Bis zum Ende ist unklar, was sie eigentlich darstellen soll, Figur und Leben bleiben unscharf.

Der Erzähler behauptet zwar, sie sei Forscherin, geschildert werden aber Tauchgänge, die sich (und den Leser) in glanzvollen  Schilderungen erschöpfen. Man soll staunen, nicht lernen. In einem Abschnitt wird Evelyne von zwei Tauchern begleitet, die sie (!) für ein Magazin ablichten sollen, während ein Schiffsfriedhof mit den Hinterlassenschaften einer Seeschlacht im Zweiten Weltkrieg besichtigt wird. Sie ist eine Art Tauch-Barbie im Unterwasserparadies.

In pathetischen Worten wird die Wunderwelt auf den zerstörten Schiffen und ihren Maschinen geschildert, Gehaltvolles erfährt man hier nicht und sonst nur enttäuschend wenig. Das gilt nicht nur für die „Forschungen“, auch die Unternehmungen, an denen sie teilnimmt, werden in derart überschwänglichen Worten weichgezeichnet, dass die Glaubwürdigkeit leidet. Die groteske Ehe, mit Kindern, die dem Zerrbild von Fernsehwerbung näher als dem Leben sind, verstärken das Bild: Evelyne ist eine in Unwirklichkeiten versponnene Kunstfigur, die seltsam leer und leblos bleibt.

Es gab Fakten zum selber Verdrehen.

Richard Powers: Das große Spiel

Das wirkt auf die bildstarke Sprache von Powers zurück, die angesichts fehlender Substanz in allen Erzählsträngen oft überzogen wirkt. Anfangs ist die sprachliche Gestaltungskraft des Autors beeindruckend, doch verhält es sich damit wie mit den Luftnummern einer Flugshow: Auch die schönsten Loopings, die atemberaubendsten Kunststücke ermatten auf die Dauer. Das gilt insbesondere für die Unterwasserszenen und jene wiederkehrenden Aufzählungen, die ermüden.

Das Finale fügt sich in das skizzierte Bild ein. Es verbietet sich, hier etwas über die sich abrupt wendende Handlung zu verraten. Alles in allem ist Das große Spiel ein enttäuschender Roman, der den vielversprechenden Ansätzen nicht gerecht wird. Obendrein wirkt der Schluss, insbesondere der Twist, konstruiert und aufgesetzt. Die »Gute-Nacht-Geschichte« ventiliert eine fragwürdige Weltsicht, bei der zu hoffen bleibt, dass sie als Märchen gelesen wird, denn weder Gott noch Super-KI werden die Menschheit retten. Das müssen wir schon selbst tun.

Richard Powers: Das große Spiel
Aus dem Englischen von Eva Bonné
Penguin 2024
Hardcover 512 Seiten
ISBN: 978-3-32860371-9

Robert Habeck: Den Bach rauf

Das Zitat habe ich bewusst ausgewählt, denn verweist auf den zentralen Aspekt für den wirtschaftlichen Erfolg Deutschlands in den kommenden Jahren. Viele kluge und nachdenklich machende Beobachtungen gibt es in dem Buch von Robert Habeck zu lesen. Cover Kiepenheuer & Witsch, Bild mit Canva erstellt.

Ich nenne Heimat das Land, dessen Problem mich direkt angehen.

Robert Habeck: Den Bach rauf

Oft musste ich während der Lektüre von Den Bach rauf an Ilko-Sascha Kolwalczuks Freiheitsschock denken. Demokratie und Freiheit sind anstrengend. Bequem kann man es auch in einer Diktatur wie der DDR haben, denn dort wird einem vorgegaukelt, alles werde für einen geregelt. Das funktioniert, bis die Realität die Propaganda überholt, bis alles „den Bach runter“ gegangen ist.

Robert Habecks Schrift Den Bach rauf zielt auf diesen Punkt: Teilhabe. Das meint nicht, auf dem Sofa sitzend und binge-scrollend durch die Dopamin-Paradiese des Internets zu treiben, sondern an der Lösung von Problemen aktiv mitzuwirken. Ohne Aussicht auf Erfolg, wohlgemerkt, denn Probleme lassen sich oft nur teilweise oder auch gar nicht „lösen“, im Sinne von beseitigen.

Frustration ist Teil der Teilhabe. Wer sich also darauf einlässt, wird zwangsläufig mit Misserfolgen konfrontiert. Zu den großen Vorzügen des Buches Den Bach rauf gehört die Ehrlichkeit, mit der Robert Habeck die drohende Überwältigung durch eine Springflut existenziell bedrohlicher Probleme nicht nur nennt, sondern auch zugesteht, dass Gedanken an einen Rückzug dazugehören.

Wenn die Bürgerinnen und Bürger nicht mehr den Eindruck haben, dass sie auch selbst handeln können – und müssen, droht Resignation. Oder die Erwartung, dass der Staat alle Probleme löst.

Robert Habeck: Den Bach rauf

Die Erwartung, der Staat könne alle Probleme lösen, wird von anderen durchaus befeuert, Hand in Hand mit schlichten Schein-Lösungen und hausfrei gelieferten Sündenböcken, wenn es – wie zu erwarten – doch nicht klappt. In der DDR waren das „der Westen“ oder die USA, im Dritten Reich „die Juden“ oder „anglo-amerikanische Plutokratien“, heute sind es „die Ausländer“ oder „der Kapitallismus“ oder Bürgergeld-Empfänger.

Dieses Sündenbock-Muster funktioniert auch noch, wenn ganze Städte in Schutt und Asche fallen. Dolchstoß-Legenden, Lügenkaskaden und Schmutzkampagnen funktionieren ebenso, wie Anne Applebaum sagt. Ein Grund ist sicher, weil sie komplizierte, widersprüchliche Probleme verschlichten und bequeme, einfache Schein-Lösungen präsentieren.

Robert Habeck will einen anderen Weg gehen. Er möchte eigene Fehler nicht anderen aufhalsen, aus dem eigenen und fremden Scheitern lernen und unter Einschluss der Bürger herandrängende Probleme lösen. In diesem Sinne stellt er sich zur Wahl, in diesem Sinne ist auch dieses Buch verfasst, das darauf verzichten, vollendete „Lösungen“ zu präsentieren.

Aber in der (Ampel)-Regierung wurde viel Richtiges, ja Überfälliges auf den Weg gebracht.

Robert Habeck: Den Bach rauf

Fehler der Ampel-Regierung verschweigt Habeck nicht, Nachtreten findet nicht statt, auch bleibt es bei einem – sachlich völlig berechtigten – Hinweis auf die schwerwiegenden, strukturellen Mängel, die aus den sechzehn Merkel-Jahren resultieren. Draufhauen brächte – vielleicht – Stimmen, doch darum geht es in Den Bach rauf nicht.

Ein schönes Beispiel für das Zusammenwirken von Staat und Bürgern ist die Abwehr einer verheerenden Gasmangellage nach dem russländischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Zu den strukturellen Hinterlassenschaften der Merkel-Jahre gehörte die frappierende Abhängigkeit von billigem russländischem Gas, dem bis heute populistische Politiker auch aus Union und SPD öffentlich nachweinen, trotz des offenkundigem Erpressungspotenzials.

Eine Beteiligung der Bürger durch das Einsparen von Gas beim Heizen war zentral, um die drohende Malaise abzuwenden. Es hat funktioniert. Ein Erfolg, der heute, kaum zwei Jahre später, bei vielen in Vergessenheit geraten ist. Ein Zusammenbruch ist leicht zu erkennen, ganz anders ein abgewendetes Desaster – dazu gehört eine gewisse Anstrengung, womit wir wieder am Anfang sind.

Aber die erste digitale Revolution ist fast vollständig an Deutschland und Europa vorbeigegangen, und wenn wir nicht aufpassen, dann wird es mit der zweiten, die der künstlichen Intelligenz, ebenso laufen. Die großen Tech-Konzerne kommen alle aus den USA, China holt nun auf.

Robert Habeck: Den Bach rauf

Es wird gehandelt. Das ist die gute Nachricht. Es sind nicht alle und das ist auch nicht nötig. Nie macht sich eine Mehrheit auf den Weg, es ist immer nur eine Minderheit, die anderen warten ab und schließen sich dann dem Weg an, der sich durchsetzt. Ermutigung ist wesentlich, insbesondere, wenn sich die Auswirkungen des eigenen Handelns nicht (sofort) zeigen oder die berühmt-berüchtigten Friktionen (Clausewitz) auftreten.

An welchen Stellen Robert Habeck ansetzen will, um die Rahmenbedingungen so zu setzen, dass Deutschland eine Zukunft hat, wird aus Den Bach rauf deutlich. Es mangelt an Investitionen, die Schuldenbremse muss renoviert und Rahmenbedingungen müssen dafür geschaffen werden, dass nicht auch die nächste digitale Erneuerungswelle an Deutschland und Europa vorübergehen.

Wird das funktionieren? Es braucht Investitionen und das Bewusstsein, dass Kredite dafür nötig sind. Dem steht der populistische Unfug der „schwäbischen Hausfrau“ und ihrer angeblichen Sparsamkeit gegenüber, was bedauerlicherweise eingängig ist.  Hoffnung gibt, dass es ist nie eine Mehrheit für eine Revolution braucht, sondern eine Minderheit. Das gilt auch für alle anderen Entwicklungen.

Demokratien können sich nicht in schläfriger Sicherheit wiegen. Auch Deutschland ist nicht die uneinnehmbare demokratische, liberale, weltoffene, unerschütterliche Bastion. Wir müssen um und für unseren Rechtsstaat kämpfen und unsere Demokratie verteidigen.

Robert Habeck: Den Bach rauf

Besonders gut haben mir die klaren Worte zum Thema Autokratie, Desinformation und die davon für die Demokratie ausgehenden Gefahren gefallen. Habeck weiß um die Achse der Autokraten, er kennt die Problematik der zersetzenden Strategie „Flood the zone with shit“ (Steve Bannon), der sich auch Teile der Union bedienen und beruft sich unter anderem auf Hannah Ahrendt, wenn es um die Frage geht, wie man sich verteidigt.

Von überwältigender Bedeutung ist das, was Habeck zu Europa sagt. In den vergangenen Jahren ist Deutschland allzu oft einen Sonderweg gegangen, Nordstream (Schröder, Merkel), zögerliche Ukraine-Unterstützung (Scholz); das aufgeregte Gewese um Stromimporte aus Europa (Gas aus Russland war demnach okay) zeigt, wie selbstvergessen mit dem größten Pfund umgegangen wird, das Deutschland hat: die EU.

Der Leser kann dem Buch Den Bach rauf trotz seines handlichen Formats eine Menge bedenkenswerter Idee und Gedanken entnehmen. Wichtig ist: Entschieden ist noch nicht, ob Deutschland den Bach rauf oder runter geht.

Robert Habeck: Den Bach rauf
Kiepenheuer&Witsch 2025
Gebunden 144 Seiten
ISBN: 978-3-462-00896-8

Anne Applebaum: Die Achse der Autokraten

Auf die beiden Herren geht die Autorin in ihrem Buch auch ein, sie verbindet mehr als nur ein Handschlag. Cover Siedler Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Schon auf den ersten Seiten dieses Buches ist der Leser ein Stück klüger und orientierter. Anne Applebaum betont gleich zu Anfang von Achse der Autokraten, dass sich hartnäckig eine karikaturhafte Vorstellung vom Alleinherrscher an der Spitze eines autokratischen Staates hält. Putin, Ji, Lukaschenko, Erdogan, Trump – die Liste der gegenwärtigen Autokraten ist lang. Doch ein Autokrat allein macht keine Autokratie.

Autokratien sind Netzwerke mit kleptokratischem Geschäftsmodell, die sich auf einen vielschichtigen Apparat stützen: Armee, paramilitärische Verbände, Polizei und andere Sicherheitsorgane wie Geheimdienste, unterstützt von High-Tech- und IT-Experten, die sich um Propaganda und Desinformation kümmern. Die Netzwerke sind nicht auf ein Land beschränkt, sondern mit Netzwerken anderer Länder verbunden. Das können auch Netzwerke in Demokratien sein, es müssen nicht einmal antidemokratische Parteien wie AfD oder BSW, Teile von Union und SPD gehören eben auch dazu.

Man unterstützt sich mit Ausrüstung, Ausbildung, Informationen; man nennt Ziele und hilft bei der Durchführung von Kampagnen; Medien und Trollfarmen werden dafür eingesetzt. Oder man sorgt für einen positiven Leumund, leistet Hilfestellung bei der Umgehung oder Aufweichung von Sanktionen. Auch aus persönlichen Gründen, denn Autokraten und ihre demokratischen Satrapen sind oft superreiche Unternehmer. Es dürfte kein Zufall sein, dass superreich gewordene Entrepreneure nicht selten autokratische Affinitäten hegen.

Die modernen Autokraten bezeichnen sich als Kommunisten, Monarchisten, Nationalisten und Theokraten.

Anne Applebaum: Die Achse der Autokraten

Ideologie spielt anders als im 20. Jahrhundert für die Kooperation keine Rolle. Geld stinkt nicht, weder in der Geschäftswelt noch in der Welt der Autokraten. Machterhalt ist das primäre politische Ziel, die Untergrabung einer freiheitlichen und demokratischen Ordnung wäre andernfalls vielleicht auch gar nicht nötig. So aber gilt der freie Westen den Autokraten als Quelle für unerwünschte Inspiration für Widerstand gegen die alleinige, unkontrollierte Herrschaft.

Applebaum schildert auf schnörkellose und direkte Weite unsere Gegenwart, es geschieht seit Jahren und es geschieht jetzt. Einige Beispiele, Belarus und Venezuela, deren jüngste Geschichte skizziert werden, sind aus den Medien vertraut, die Akteure sind es ebenfalls. Doch geht die Autorin noch einen Schritt weiter und sagt mit einer Klarheit, die in oft verdruckst formulierenden Medien fehlt: Ohne die gegenseitige Unterstützung der Autokratien würde der Widerstand der eigenen Bevölkerung wohl ausreichen, um die alleinigen Herrscher zu stürzen.

Das ist ein Muster, was auch für den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine greift. Allein wäre Russland vielleicht schon in die Knie gegangen. So löchrig die Sanktionen auch sein mögen, so zögerlich und unzureichend die militärische und wirtschaftliche Unterstützung für die Ukraine auch ist, ohne die Hilfe anderer Autokratien, wäre Russlands Position sehr viel schwächer. Der Westen hilft der Ukraine also nicht nur gegen Russland, sondern gegen eine Achse der Autokraten.

Wie die Oppositionellen in Venezuela oder Belarus mussten sie allmählich erkennen, dass sie in der Ukraine nicht nur gegen Russland kämpften. Sie kämpften gegen die Achse der Autokraten.

Anne Applebaum: Die Achse der Autokraten

Bedeutend ist die Erkenntnis, dass Autokratien nur mit Hilfe des Westens an die Macht gelangen und diese konsolidieren können. Es sind westliche Technologien und vor allem das lückenhafte Regelwerk, die den Antidemokraten helfen. Ohne die Finanzierungsmöglichkeiten, etwa durch Geldwäsche, wäre die Macht von Autokraten wesentlich beschränkter, als sie es heute ist. Viele lassen sich einspannen, viele – nicht alle! – bezahlen, um Autokraten zu helfen.

Es sind nicht nur die autoritären Parteien, deren ideologische Zuschreibung als rechts oder links in diesem Punkt mehr verschleiert als erhellt; es sind nicht nur die Zuträger in anderen Parteien, die Einflussnehmer oder -agenten; es sind nicht nur die Interessenvertreter in Verbänden und Lobbyisten, die im Dienste der Putins, Mullahs und Xis stehen, sondern auch Anwälte, Banker, Gewerkschafter und Technologie-Oligarchen, die (fast) legal ihrer Tätigkeit nachgehen.

Hier sieht Applebaum auch einen Ansatzpunkt für die Wende im Kampf gegen die heraufziehende autokratische Dunkelheit: Regulierung. Die Autorin macht sich und ihren Lesern keine Illusionen. Das ist eine brutale Bergaufschlacht, deren Ausgang völlig ungewiss ist. In den USA weht der Wind in die entgegengesetzte Richtung. Doch nicht nur dort ist der Widerstand gegen gesetzliche Regulierungen groß. Ein Beispiel wäre die Verwendung von Bargeld in Deutschland beim Immobilienkauf, eine offene Tür für Geldwäsche, deren Einschränkung von mächtigen und ruchlosen Zeitgenossen bekämpft wird.

Die moderne Auseinandersetzung zwischen autokratischen und demokratischen Gedanken und Praktiken ist keine direkte Fortsetzung dessen, was wir im 20. Jahrhundert erlebt haben.

Anne Applebaum: Die Achse der Autokraten

Zu den ganz besonders spannenden und ernüchternden Abschnitten gehört jener, der sich mit den Veränderungen autokratischer Herrschaft und Herrschaftssicherung befasst. Applebaum erklärt anhand mehrerer Beispiele, wie und was die Autokraten gelernt haben. Zumindest die Vorgänge in Hong-Kong dürften politisch Interessierte verfolgt haben. Die Aktivisten dort haben laut Applebaum sehr vieles richtig gemacht, vergangene Kampagnen studiert und an die lokale Lage angepasst. Sie haben auch gelernt – und sind krachend gescheitert.

Wenn man liest, wie es den Chinesen gelungen ist, die studentische Bewegung in Hong-Kong niederzuwerfen, wird es ungemütlich. Da ist zum einen der Anfang der 1990er Jahre vorherrschende Glaube, die demokratische Regierungsform werden sich quasi von allein durchsetzen. Das »Ende der Geschichte« (Fukuyama) hat sich als verhängnisvolle Illusion entpuppt, an der sich bis in die Gegenwart politische Parteien wie Teile der SPD klammern. Das Konzept »Handel durch Annäherung« oder später »Handel durch Wandel« ist mausetot, geistert aber als Wiedergänger durch die Berliner Korridore der Macht.

Das Beispiel Hong-Kong zeigt auch, wie sehr die Anhänger demokratischer Prinzipien die Lernfähigkeit der Autokraten und die Verlockung des Autoritären an sich unterschätzt haben. Die Autokraten sind überlegen. Sie nutzen die Möglichkeiten geschickter und ruchloser als westliche Demokraten. Ihre mediale Durchdringung Afrikas, des Mittleren Ostens, Südamerikas  zum Zwecke von Propaganda, Desinformation und Destabilisierung ist mächtiger als der naive Glaube, mit seriösen Nachrichten allein werde man bestehen.

In unseren alten Modellen ist kein Platz für die Einsicht, dass mansche Menschen Desinformationen wollen. Sie finden Gefallen an Verschwörungstheorien und haben wenig Interesse an zuverlässigen Nachrichten.

Anne Applebaum: Die Achse der Autokraten

Faktenchecks bringen nicht mehr viel, wenn eine Lüge in der Welt ist – was auch große, überregionale Medien, Tagezeitung und Öffentliche-Rechtliche-Medien nicht wahrhaben wollen. Sie lassen sich sogar ausnutzen, werden Plattformen, über die Propaganda in die Breite getragen und mit einem seriösen Anstrich versehen wird. Präventive Gegenkampagnen wären nötig, eine strategisch gezielte Medien-Öffentlichkeit (nicht gespiegelte Propaganda), die von den Menschen auch bezahlt und zur Kenntnis genommen werden kann, wären nötig.

Dem wirkungsvollsten Mittel, der Schmutzkampagne, wird man selbst damit nicht so einfach Herr. Es ist in Deutschland zu beobachten, wie selbst formal demokratische Politiker die Schmutzkampagne zur Bekämpfung des politischen Gegners benutzen, von den offen autoritären und antidemokratischen Parteien und Gruppierungen gar nicht zu reden. Eine Regulierung des wuchernden Lügen- und Desinformationsgeschwürs wird man allein deswegen nur sehr schwer durchsetzen können.

Applebaum weiß das auch. Daher klingt ihre Schrift auch sehr kämpferisch. Ähnliches kann man bei Über Freiheit von Timothy Snyder lesen. Beide beziehen sich übrigens auf Vláclav Havel und seinen Essay Versuch, in der Wahrheit zu leben. Da die Gegner seit Havels Zeit gelernt haben, müssen die Freunde von Freiheit, Wahrheit und Demokratie auch lernen und neue Strategien entwickeln. Eine Bergaufschlacht, die nicht endet und deren Ausgang völlig ungewiss ist.

[Rezensionsexemplar]

Anne Applebaum: Die Achse der Autokraten
Korruption, Kontrolle, Propaganda: Wie Diktatoren sich gegenseitig an der Macht halten
Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer
Siedler Verlag 2024
Hardcover 208 Seiten
ISBN: 978-3-8275-0176-9

« Ältere Beiträge

© 2025 Alexander Preuße

Theme von Anders NorénHoch ↑

DSGVO Cookie Consent mit Real Cookie Banner