Am besten hat mir der Umgang mit den Figuren im Roman gefallen, die ausnahmslos nicht für identifikatorisches Lesen taugen. Cover Hanser Verlag, Bild mit Canva erstellt.
Zu den großen Stärken des Romans Blue Skies von T.C. Boyle gehört sein kommentarloser Stil, mit dem der Autor die Figuren in einer Welt agieren lässt, die von der Erderhitzung heimgesucht wird. Nur wenige Personen handeln an wenigen Orten, beim Lesen habe ich mir die Frage gestellt, ob die Handlung nicht recht einfach als Theaterstück umzusetzen wäre.
Wer identifikatorisch liest, gerät bei Blue Skies an eine fast undurchlässige Grenze, denn alle Personen sind makelbehaftet. Boyle lotet einen Teil der menschlichen Abgründe aus, nicht zuletzt den verheerenden Missbrauch von Alkohol. Das hat mir außerordentlich gut gefallen, es schafft eine begrüßenswerte Distanz zu den Figuren. In Blue Skies gibt es keine klassische Retter-Figur wie in Hollywood-Katastrophenfilmen.
Als europäischer Leser muss man mit direkten Übertragungen vorsichtig sein, zumal ich den Verdacht hege, amerikanische Literatur sei gezielt auf die Lesebedürfnisse amerikanische Leser getrimmt. Gesellschaftliche Konventionen, gegenseitiger Umgang und der Life-Style der US-Gesellschaft stehen im Fokus, die Klima-Katastrophe ist eher eine aktive Kulisse. Diese wirkt auf das Leben der Romanpersonen ein, von einer konsequenten Dystopie im Stile von Cormac McCarthysDie Straße ist Blue Skies weit entfernt.
Kurios, dass alle einfach weitermachen, sich in kleinstmöglichen Teilen anpassen, ohne eine grundsätzliche Änderung der Lebensweise vorzunehmen. Man fährt mit seinem Auto durch kniehohes Meerwasser, überflutete Straßen gehören zur Normalität, ein Boot wird zum alltäglichen Mobilitätsvehikel. Und doch werden Schlangen verkauft, wird Barcadi promotet, gestritten, betrogen, gelogen als gäbe es noch abertausend Morgen. Der Topos, dass sich alle zusammenreißen und – noch märchenhafter – ein gesamtgesellschaftlicher Umschwung erfolgt, wird hier konsequent negiert. Die Menschen stecken in ihren Mustern fest.
Manche Dinge in diesem Roman wirken unausgegoren: Inmitten harscher Trockenheit und Wasserknappheit ist der Pool noch gefüllt, als gäbe es keine Verdunstung. Die Spülmaschine läuft ununterbrochen, merkwürdig bei knappem Wasser und langen Stromausfällen. Ungereimtheiten, die übertroffen werden vom Romanende, mit dem ich hadere. Ein Natur-Elysium (als Hoffnungsschimmer?), wie es kitschiger kaum sein könnte. Ausgerechnet ein Milliardär unternimmt etwas gegen die Erderhitzung, was in der garstigen Gegenwart unserer Tage wenigstens für Naserümpfen sorgt.
Trotz einiger Kritikpunkte überwiegt bei mir der positive Eindruck. Ich habe das Buch teilweise gehört und auf Deutsch sowie im Original gelesen. Der Hörbuch-Vortrag war mir zu schnodderig, die Ironie und Komik, die Boyle in sein Erzählen eingeflochten hat, wurden so übergebügelt. Ob ich die im Original ausreichend wahrgenommen hätte, sei einmal dahingestellt.
T.C. Boyle: Blue Skies Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren Hanser Verlag 2023 Gebunden 400 Seiten ISBN 978-3-446-27689-5
Vor allem die erste Erzählung hat mir sehr gut gefallen, auch die zweite regt mit ihrem utopischen Charakter zum Nachdenken an. Cover Luchterhand, Bild mit Canva erstellt.
Wie so oft bei Erzählungen wird der Leser in die Handlung hineingestupst und muss sich erst einmal orientieren. Das erscheint einfach: ein Überfall! Okay. Aber warum erkennt »sie« nicht den »Gegenstand aus schwarzem Metall« in der Hand des Mannes, der mit seinem Ausruf in der Bank für Aufregung sorgt?
Eine Pistole, für Zeitgenossen unserer Tage keine Frage, aber wohl doch für die orientierungslose Frau, die auch noch nachfragen muss, was ein Überfall ist. Sie wendet sich dabei an »Eiser«, flüsternd in ein Mikrofon. Wohl eine KI, denn die muss erst einmal »prüfen«, was auch in weniger dramatischen Momenten ungelegen kommt.
Der sich daraus entwickelnde kurze Dialog ist komisch, zumindest für den Leser, der nicht nur den Informationsvorsprung besitzt, sondern auch unbedroht von einer Waffe ist. Außerdem muss er nicht dabei zusehen, wie die Anzeige des Betrages einer »Basisleistung«, wohl ausgezahlt in dieser »Bank«, rapide sinkt. Auf Null. Unverkennbar ein folgenschwerer Moment.
Die Einsamkeit hatte ein neues Gleichgewicht geschaffen und es bestand wieder die Möglichkeit noch der Wunsch mit anderen zusammen zu sein.
Assaf Gavron: Everybody be cool
Doch sind die Folgen anderer Art, als erwartet. Die weibliche Hauptperson befindet sich in Isolation, allerdings in einer wesentlich verschärften Version dessen, was die Welt während der Corona-Pandemie erlebte. Überraschend gut scheint sich die Protagonistin mit ihrer Lage arrangiert, ja, sogar angefreundet zu haben.
Die Isolation nimmt sie als neue, begrüßenswerte Wirklichkeit war, der Kontakt zur Außenwelt läuft über »Eiser«, jene KI, die zum Lebensbuddy geworden ist und alles regelt. Betreutes Leben, zumal der »Banküberfall« bei einer erfolgreichen Unternehmerin kein Problem darstellt, denn sie ist nicht auf die Basisleistung angewiesen.
Merkwürdig erscheint zunächst, dass die Person in der Bank anwesend sein kann, trotz verschärfter Isolation. Die Lösung liegt auf der Hand: ein Avatar in einer Simulation. Ab diesem Punkt verschwimmen die klaren Linien, die Äußerungen über die Folgen der leistungslosen Geldverteilung an die Bevölkerung werfen Fragen auf, insbesondere bei jenen, die heute, in der Lebenswirklichkeit des Lesers einem bedingungslosen Grundeinkommen positiv gegenüberstehen.
Das Recht, selbst zu entscheiden, verunsicherte und frustrierte.
Assaf Gavron: Everybody be cool
Was als munterer, kurioser Moment beginnt, berührt ganz grundlegende Fragen. Wäre die finanzielle Unabhängigkeit ein Schritt in die Freiheit oder eben doch nicht? Wer alles machen kann, muss sich immer noch entscheiden – das ist keineswegs einfach. Solche Gedanken kann man auch bei Timothy Snyder, Über Freiheit oder Ilko-Sascha Kolwalczuk, Freiheitsschock nachlesen.
Warum überhaupt ein Banküberfall, wenn alle abgesichert sind? Autor Assaf Gavron geht noch einen Schritt weiter und lässt seine kurze Geschichte in einem kafkaesk-dystopischen Finale enden, nach einer sehr scharfen Wende scheint sich die Heldin dort wiederzufinden, wo sich Millionen in der Vergangenheit anlässlich der Verwirklichung einer Utopie, eines Paradieses auf Erden wiedergefunden haben.
Auch in der zweiten, längeren Erzählung spielen die Themen Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit eine zentrale Rolle. Assaf Gavron spielt mit den Möglichkeiten, die ihm die in der Zukunft liegende Handlung bietet, und lässt seine Protagonisten grundverschiedene Einstellungen gegenüber dem neu etablierten System einnehmen.
Doch eigentlich ging es um eine Frage der menschlichen Natur.
Assaf Gavron: Everybody be cool
Regulierung und Basiseinkommen definieren die gesellschaftliche Kulisse, vor der die Personen ihre ewigen Spiele spielen. Macht, Einfluss, Gier, Missgunst, Niedertracht – am Wesenskern des Menschen ändert sich nichts, trotz der großen Fortschritte bei der Verringerung des Wohlstandsgefälles in der Gesellschaft.
Das gilt auch für die politischen Rahmenbedingungen. Im Jahr 2066, in dem die Erzählung Zement spielt, ist von den gegenwärtigen Konflikten keine Rede mehr. Es gibt ein Gebilde namens Middle Eastern Union, in dem offensichtlich eine ganze Reihe von Staaten aufgegangen sind. Und doch bleibt auch in diesem Frieden der Mensch seinem Wesen treu, dem unbedingten Streben nach Macht.
Erzählerisch wirkt Everybody be cool! reifer, Zement ist ausschweifender und durch die Anleihen beim Krimi-Genre schroffer und zerklüfteter. Die Handlungsweise der Hauptfigur ist sprunghaft, manche Passagen neigen zu Redundanzen und insgesamt erliegt der Autor der Versuchung, das Geschilderte zu kommentieren. Das trübt den positiven Eindruck einer Erzählung, die einige wunde Punkte utopischer Vorstellungen berührt.
*Rezensionsexemplar, besten Dank an Luchterhand / Bloggerportal
Assaf Gavron: Everybody be cool Zwei Erzählungen Aus dem Hebräischen von Stefan Siebers Luchterhand 2025 Gebunden 192 Seiten
Die Umsetzung des genialen Romans von Cormac McCarthy in einer Graphic Novel ist sehr gelungen. Cover Reprodukt-Verlag, Bild mit Canva erstellt.
Es lohnt sich, das Titelbild der Graphic Novel Die Strasse von Manu Larcenet eine Weile zu betrachten. Vor dem Weiß des stürzenden Wassers heben sich zwei graue Gestalten ab. Eine kleiner, jünger, die andere größer, älter, hinter einem Gefährt, das mit allerlei Undefinierbarem beladen ist. Die beiden sind in Lumpen dick vermummt, vor dem Gesicht des Jüngeren ist ein Mundschutz gezogen. Markant ragen die beiden Spiegel von dem Gefährt ab.
Die beiden wirken durch die rechts und links aufragenden, weit über ihren Köpfen sich wieder fast schließenden massiven Felsen regelrecht verloren. Es ist, als durchschritten sie gemächlich eine Art Pforte. Ein völlig zertrümmerter PKW auf der linken Seite und eine zerfetzte Leitplanke auf der rechten zeigen an, was dem Betrachter durch die Perspektive verborgen bliebe: Sie befinden sich auf einer Straße.
Im Hintergrund donnert das Wasser von den Felsen herunter, die Überreste von kahlem, toten Geäst ist zu erkennen, auf der anderen Seite eine Art halbzerstörter Leiter, die irgendwohin nach oben führt. Eine überwältigende Leere und Trostlosigkeit gehen von der Umgebung aus, die Mühsal des Gehens auf dieser Straße ist fühlbar. In dieser Welt ist nichts in Ordnung, in dieser Welt ist das, was wir als Gegenwart kennen, nur noch eine ferne, fahle Vergangenheit.
Die Rückseite der Graphic Novel ist drastischer: zwei Kräne, einer zerbrochen, der andere noch intakt, doch von dessen Ausleger hängen drei Tote herab, die dort aufgeknüpft sind. Die Welt ist nicht nur materiell zerstört, sondern auch moralisch und gesellschaftlich. Gewalt prägt den Alltag, über allem liegt die stete Drohung für Leib und Leben. Es ist eine totale Welt, in die der Leser eintritt.
Grau, krisselig wie das grobkörnige Bild eines alten Schwarz-Weiß-Fernsehers sind die Zeichnungen, quellende, unförmige Wolken, wie über schweren Bränden, Dunkelheit, alles ein schreckliches Nichts. Ein Mann liegt unter einem behelfsmäßigen Wetterschutz, dick vermummt, bärtig, abgerissen und zerlumpt. Das Gesicht eines Fliehenden, in das sich die Entbehrungen und Erschöpfung eingefressen haben. Neben dem Mann ein Junge, schwarze Ränder unter den Augen.
Schweigen über Seiten hinweg. Der Mann erhebt sich und beobachtet durch einen Feldstecher die Gegend. Was er sieht, ist eine Trümmerlandschaft nach einer vernichtenden Katastrophe, verkrüppelte Bäume, Ruinen, Reste der Zivilisation im Verfall begriffen. Leblose Stille überall, nichts rührt sich, was kein schlechtes Zeichen ist, wie man später erfährt. In dieser reglosen, toten Landschaft verschwinden die beiden Menschen regelrecht, die Umgebung ist überwältigend.
Die ersten Worte sind die einer kurzen Begrüßung, der Aufbruch geschieht wortlos, eine Routine, entstanden durch eine lange Zeit der Wanderung. Das Duo muss den Ort verlassen, man werde keinen weiteren Winter überstehen. Wenn gesprochen wird, dann nur kurz und knapp. Die Themen sind situationsbezogen oder drehen sich um Tod, Töten, Gut und Böse, manchmal in Form einer Selbstvergewisserung.
Wir würden nie jemanden essen, oder? Aber nein, natürlich nicht. Auch wenn wir verhungern? Das tun wir doch schon! Aber wir werden nie jemanden essen? Nein, niemanden. Egal, was passiert? Niemals. Egal, was passiert. Weil wir die Guten sind … Genau.
Manu Larcenet: Die Strasse
Mit der Zivilisation ist alles zerbrochen. Kannibalismus, wie diese Textstelle andeutet, ist verbreitet. Spuren davon begegnen den beiden immer wieder, manchmal auch mehr. Wie hält ein Junge das aus? Gewöhnlich versuchen Erwachsene ihre Kinder davor zu behüten, derart grausame Dinge zu sehen, doch in der Welt, die Vater und Sohn durchziehen, geht das nicht. Tote liegen überall, grausam zugerichtet von katastrophalen Ereignissen oder anderen Menschen, den »Bösen«, von denen es »ganz schön viele« gibt.
Schutz für die Seele gibt es nur, in dem man sich gegenüber den Unholden abhebt. Lügen funktionieren nicht, denn die Wirklichkeit entlarvt diese allzu rasch und schmerzlich konsequent. Wenn der Junge fragt, ob sie sterben würden, wenn die Bösen sie fingen, kann der Vater nicht mit »Nein« antworten. Er kann ihm nur mit der Wahrheit Mut machen, dass sie Glück haben und irgendwann Nahrung finden und bis dahin lange am Leben bleiben würden, wenn ihnen Wasser zur Verfügung stehe.
Auf der Suche nach Nahrung und brauchbaren Gegenständen sind sie gezwungen, Gebäude zu betreten. Dort treffen sie auf entsetzliche Überreste menschlicher Wahnsinnstaten, manchmal entkommen sie selbst nur äußerst knapp dem sicheren, grausamen Tod. Auch auf der Straße, auf der kleine und größere Gruppen umherziehen, bewaffnet, fürchterlich ausstaffiert, wie man es aus Endzeitfilmen kennt, aber ohne jede Spur Coolness. Larcenet hat die neuen Herren der Straße als Höllenkreaturen gestaltet und derartige Szenen in einem passend rötlichen Ton gehalten, von dem Schmerz auszugehen scheint.
Manu Larcenet hat sich gegenüber dem Roman eine Reihe von Freiheiten herausgenommen. So verlegt er die Handlung, die in der Vorlage in einem hochherrschaftlichen Haus spielt, in ein Farmgebäude; etwa später finden die beiden Wanderer ein sehr ähnlich aussehendes Gebäude – die Erlebnisse in beiden Behausungen könnten unterschiedlicher nicht sein. Nichts ist kalkulierbar oder vorhersagbar, alles ist ein Vabanque-Spiel mit ungewissem, manchmal lebensbedrohlichem Ausgang. Es gibt kein Ausweichen vor dieser totalen Welt.
Zu meinen Lieblingsstellen in Roman und Graphic Novel gehört jene in einer verlassenen Tankstelle. Der Vater nimmt den Hörer eines öffentlichen Münztelefons ab und hält diesen sich ans Ohr. Der Junge fragt, was er da mache. Die Antwort ist erschüttertes und erschütterndes Schweigen. In der neuen Welt ist Kommunikations-Technik sinnlos, die Reste in den daneben liegenden Öl-Kanistern sind dagegen kostbar, denn die wenigen Tropfen ergeben zusammen ein wenig Brennstoff für eine Lampe. Alles ist auf den Kopf gestellt, an die alte Welt erinnernden Gesten sind noch nicht ganz vergessen, aber sinnentleert.
An einer Stelle gibt es eine kleine Hommage an den 2022 verstorbenen französischen Zeichner und Karikaturisten Sempé, bekannt vor allem durch die Figur des Petit Nicolas. Der Junge findet in einer Zuflucht, die Vater und Sohn für kurze Zeit eine Atempause schenkt, das Buch Enfances (auf Deutsch Kindheiten) von Sempé und schmökert darin. Das Titelbild in Die Strasse und der Realität zeigt einen Schwarm Vögel, einen Anblick, den es nach der Katastrophe nicht mehr gibt.
Der krasse Gegensatz zwischen dem relativen Frieden und der Welt, die geprägt ist von dem Krieg aller gegen alle, macht die Rückkehr auf die Straße umso düsterer und deprimierender. Das Meer, ihr Zielort, eine weitere Enttäuschung, die Gefahren nehmen nicht ab, immer wieder färben sich die Bilder rot – tiefrot, sogar. Der Tod ist nah und das Ende dieser überwältigenden Graphic Novel wie das des RomansDie Straße von Cormac McCarthy nur ein Funken im Abgrund.
[Rezensionsexemplar]
Manu Larcenet: Die Strasse Nach dem Roman von Cormac McCarthy Aus dem Französischen von Maria Berthold und Heike Drescher Lettering: Tim Gaedke Reprodukt 2024 ISBN: 978-3-95640-423-8
Die zweite Lektüre dieses großen Romans war genauso intensiv wie die erste, aus der mir unauslöschliche Bilder in Erinnerung geblieben sind. Cover Rowohlt, Bild mit Canva erstellt.
So viele Jahre trage ich nun schon Szenen, Eindrücke und Stimmungen aus diesem Roman mit mir herum, die sich bei der ersten, überwältigenden Lektüre eingebrannt haben. Einige davon werde ich nicht wieder vergessen, bis alles in Vergessenheit gerät. Vor allem wird die erstaunliche Erfahrung bleiben, wie sehr mich als Leser die Atmosphäre eines Romans einhüllen und im Wortsinne wie auch übertragen mitnehmen kann.
Die Straße von Cormac McCarthy ist eine Dystopie. Aus diesem Genre habe ich wenige Romane gelesen und auch einige Filme geschaut. Das Buch ragt heraus, es ist ein literarischer Leuchtturm, der mit seinem schwarzen Licht weit in die Bücherlandschaft leuchtet, auch über das Genre hinaus. Die konsequente Reduktion des Erzählens auf das karge Notwendige sorgt dafür, dass beim Leser ein Strom an Bildern, Empfindungen und ein nicht endender Schauder erzeugt werden. Das Grauen ist stets präsent, die Gefahr wie ein nicht abreißender, ferner Donner am Horizont, bis sie plötzlich ganz nahe ist.
Auf der Straße, auf der ein schwerkranker Vater und sein Sohn ziehen, ist nichts albern, nichts unglaubhaft, nichts vorgeschützt, nichts heldenhaft, aber alles in einer kaum erträglichen Weise unerbittlich. Die kleinen Wortwechsel zwischen beiden verstärken die überwältigende Dunkelheit, die sie umgibt, die bittere Kälte, das erstickend Aschige am Boden und in der Luft, eine lebensfeindliche Umwelt, als wären sie auf einem fremden, unwirtlichen Planeten gestrandet.
Doch sind sie auf der Erde, die sich in ein Totenreich verwandelt hat, durch das Menschen wie lebende Tote schlurfen, um einander zu töten und aufzufressen. Der Hunger ist ein steter Begleiter der beiden Wanderer und aller anderen, die übriggeblieben sind. Hunger, nicht Hungrig-Sein, der schmerzt, ermüdet und irgendwann tötet, der die Menschen in einer Weise ausmergelt, wie man es von Horror-Bildern aus »Todeslagern« kennt.
Das Vater-Sohn-Duo ist auf dem Weg nach Süden. Ein weiterer Winter sei an Ort und Stelle nicht zu überleben. Das Meer ist ihr Ziel, ein recht unbestimmtes, wie auch unklar bleibt, was sie dort suchen. Eine bessere Welt? Irgendwann im Verlauf der Handlung ist einmal von »Communities« die Rede, ein ziviles Wort aus einer zertrümmerten, vergangenen Welt. Vielleicht ist es so eine Community, eine schützende Zivilgesellschaft, nach der sie suchen?
Eine Armee in Turnschuhen, mit schwerem Schritt. […] Keine hundert Meter zogen sie vorbei, sodass der Boden bebte.
Cormac McCarthy: Die Straße
Auf ihrem Weg begegnen sie Gruppen, die eine lebensbedrohliche Gefahr darstellen. Vom Marodeur-Duo, das zum Glück schlechter bewaffnet ist und sich einschüchtern lässt, bis hin zu einer kleinen Armee: Viererreihen, jeder Mann mit rotem Halstuch und bewaffnet, mit Kriegsbeute beladene Karren, von Sklaven gezogen, Frauen, einige schwanger, Lustknaben, miteinander an Hundehalsbändern verbunden. Einer der vielen Alpträume in diesem Roman.
Wie Dantes Inferno hat die Hölle Bereiche mit unterschiedlichen Schrecken. Der für mich fürchterlichste Ort liegt in einem »ehemals hochherrschaftlichem Haus«, in dem »einmal Sklaven gegangen [waren], in den Händen silberne Tabletts mit Speisen und Getränken.« Vom Aschewind verweht. Die beiden Wanderer müssen solche Orte durchsuchen, das unbestreitbar damit verbundene Risiko eingehen, stets in der Hoffnung, etwas Brauchbares zu finden.
Mal wird der Wunsch erfüllt, mal nicht; mal ist es ganz und gar ungefährlich, mal lauert ein Abgrund. Es gibt keine Regel, kein Kalkül, bestenfalls Instinkt oder die Hoffnung, Glück zu haben. Der Junge will nicht in das Haus, er fleht seinen Vater an, weiterzugehen. Der sagte, sie würden verhungern. Fünf Tage ohne Essen, der Hungertod ist nicht mehr allzu fern. Sie haben nur die Wahl, Sterben oder Nachsehen.
Es gibt Warnsignale. Eine Schnur ist über die Terrasse gespannt. Beide sind in höchster Alarmbereitschaft; vorsichtig dringen sie in das Haus ein. Es findet sich eine Glocke, die mit der Schnur verbunden ist. Und eine Luke im Boden. Mit einem Schloss gesichert. Dafür gebe es einen Grund, sagt der Mann. Er hofft auf etwas Wertvolles und macht sich auf die Suche nach einem Brecheisen; weitere Zeit in dieser hochgefährlichen Situation verstreicht. Schließlich öffnet er mit einiger Mühe die Luke.
Alles, was er sah, war Entsetzen.
Cormac McCarthy: Die Straße
Eine hochdramatische Situation, die das weitere Lesen stark beeinflusst. Grauen und Gefährdung folgen dem Duo (und dem Leser) wie zwei tiefschwarze Schatten. Die Notwendigkeit, trotz dieses beinahe tödlichen Erlebnisses Häuser zu durchsuchen und Ansiedlungen zu durchstreifen, bleibt. Ebenso müssen die beiden auf der Straße weiterziehen, Bewegung ist zwar gefährlich, das Verbleiben an einem Ort aber noch gefährlicher. Sie haben keine Wahl, sie müssen.
McCarthys Welt ist total, vergleichbar mit dem Erleben im totalen Krieg. Der Handlungsspielraum ist massiv eingeschränkt, auch in anderer Hinsicht. Der Junge kann nicht davor behütet werden, Dinge zu sehen, die ein Kind besser nicht sehen sollte. Die Toten am Straßenrand, in den Autos, den Häusern; das »Entsetzen« hinter der Luke; die Überreste des Kannibalismus; die umherziehenden Banden und die Bedrohung, die von ihnen ausgeht.
Der Vater muss töten, damit sie nicht getötet werden. Er muss töten, weil er nicht helfen kann, ohne selbst zu sterben. Der Junge sieht zwangsweise zu, es hilft nicht, die Augen zu verschließen, es gibt kein Entkommen vor dem Schrecken. Unweigerlich verstört das Erlebte, sein Vater versucht, mit seinem Sohn im Gespräch zu bleiben, so knapp und karg die Sätze auch sind. Immer wieder sagt er, dass der Junge mit ihm reden müsse, nur durch Reden blieben sie zusammen, nur so überlebten sie. Und nur so kann der Erwachsene versuchen, dem Kind den Leidensdruck zu mildern.
›Waren das die Bösen?‹ ›Ja, das waren die Bösen.‹ ›Gibt ganz schön viele von den Bösen.‹ ›Ja. Aber jetzt sind sie weg.‹
Cormac McCarthy: Die Straße
Immer wieder vergewissert sich der Junge bei seinem Vater, dass sie die »die Guten« seien, die anderen »die Bösen«. Das funktioniert bei den eindeutig bedrohlichen Begegnungen, doch was ist mit jenen, die Hilfe brauchen, harmlos sind und von ihnen im Stich gelassen werden müssen, weil sie selbst sonst sterben würden? Der einfache Dualismus von Gut und Böse hilft dann nicht weiter, McCarthy treibt das in Die Straße auf die Spitze. Niemand kann irgendjemandem helfen.
Letztlich mündet das Inferno in eine abgründige Hoffnungslosigkeit. Der Mann beneidet die Toten. Warum also weitergehen? Was erwarten sie sich vom Meer? Der namenlose Vater überhöht ihre Mission gegenüber seinem Sohn, um ihrer Existenz, ihrer Wanderung einen Sinn zu geben. Sie müssten das »Feuer bewahren«, heißt es mehrfach, am Leben bleiben als Ziel an sich. Sie haben also eine Aufgabe zu erfüllen, eine ideelle Krücke, um sich weiterzuschleppen.
Das Meer ist eine namenlose Enttäuschung. Es ist nicht blau, sondern grau-schwarz wie die ganze restliche Welt. Statt in einem der verlassenen Häuser am Wegrand versuchen sie ihr Glück auf einem Boot, um etwas zu finden, das ihnen weiterhilft. Doch wohin soll die Beute weiterhelfen? Ihr Ziel ist erreicht, es entpuppt sich als eine Sackgasse. Der Mann spürt, dass ihn seine Krankheit töten wird, sein Sohn muss allein zurückbleiben. Das Ende naht.
Die Uhren blieben um 1 Uhr 17 stehen. Eine lange Lichtklinge, gefolgt von einer Reihe leiser Erschütterungen.
Cormac McCarthy: Die Straße
Über den Anfang des Unheils, die Katastrophe, verliert McCarthy in seinem Roman bemerkenswert wenige Worte. Doch die sind wie schwere Hammerschläge. Noch eine Stelle, die mir im Gedächtnis verhaftet bleibt. Der Mann geht ins Bad und lässt die Wanne voll Wasser laufen. Seine Frau fragt ihn, warum er ein Bad nehme. Die Antwort: »Ich nehme kein Bad.« Mehr braucht es nicht.
Die Katastrophe braucht Zeit, bis die vollständie Verheerung angerichtet ist. Der Junge kommt nach dieser Nacht zur Welt, als die Städte bereits brennen. Er gehört in die Neue Zeit und wächst in ihr heran. Irgendwann stehen Entscheidungen an. Die Frau wählt den Freitod, sie ist sehr rational, realistisch und formuliert bar jeder Illusion, was ihnen blüht. Der Mann macht sich mit seinem Sohn auf den Weg, der am Meer endet.
Das Ende dieses brillanten Romans wird in der vorangegangenen Handlung in jeder Hinsicht vorweggenommen. Aus das ist große Emotion, die in Die Straße oft unausgesprochen bleibt, aber zwischen den Wörtern, Zeilen und in den Räumen zwischen den Absätzen zu finden ist.
2024 ist eine großartige Umsetzung des Roman in einer Graphic Novel erschienen: Manu Larcene, Die Strasse.
Cormac McCarthy: Die Straße Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl Rowohlt 2008 Taschenbuch 256 Seiten ISBN: 978-3-499-24600-5
Eine Enttäuschung war dieser Roman; immerhin gut vorgelesen von Johann von Bülow. Cover Fischerverlag, Bild mit Canva erstellt.
Ganz am Ende habe ich mich doch geärgert, die Lektüre nicht abgebrochen zu haben. Wenn der Inhalt längst in christlich-kirchlichem Heilsschwulst versunken ist, greift der Autor noch zu einem Twist, der den Leser noch einmal so richtig überraschen soll – wie ein Drache sonntägliche Waldspaziergänger im Oberharz. Effekthascherei, zwar im Verlauf des Romans angedeutet, aber grässlich.
Vielleicht wäre es besser gewesen, Joe, die Hauptfigur des Romans Der Wal und das Ende der Welt von John Ironmonger wäre zu Beginn doch ertrunken oder von dem Wal verschluckt worden, der ihn aber leider gerettet hat. Die Geschichte wird recht langweilig erzählt, ausgewalzt in einer ich-drehenden Selbstgefälligkeit und einem von vielen Redundanzen geprägten Stil.
Was den Leser bzw. Hörer (neben dem sehr guten Vortrag durch Johann Bülow) am Leben hält, ist die Bedrohung der Welt durch eine heraufziehende Gefahr und die Idee, jemand könnte mittels eines Computerprogramms Vorhersagen treffen, wie die Menschen darauf reagieren würden, wenn die Zivilisation zusammenbricht.
Es ist durchaus begrüßenswert, wenn sich jemand gewöhnlich düster-dystopisch abgehandelten Themen mit Optimismus widmet, aber spätestens beim Eintritt der Katastrophe wird es wild. Ein biblisches Märchen, bedauerlicherweise gefährlich verharmlosend, denn was Ironmonger schreibt, ist ähnlich realistisch wie das Wandeln über Wasser.
Wir wissen aus Erfahrung längst, wie sich Menschen verhalten, regionale Katastrophen gibt es genug. Die Anständigen krepieren und das wäre auch das Schicksal von Joe und seinen Dörflern gewesen. Mord, Vergewaltigung, Versklavung, Kannibalismus, Tribalismus – man kann an zusammenbrechenden Ordnungen ausreichend studieren, was geschehen würde. Und ja – davon sind wohl Großstädte nur drei Mahlzeiten entfernt.
John Ironmonger: Der Wal und das Ende der Welt aus dem Englischen von Maria Poets und Tobias Schnettler Fischer Taschenbuch 2020 TB 512 Seiten ISBN: 978-3-596-70419-4
In diesem autofiktionalen Werk verarbeitet der Autor die Erlebnisse seines Großvaters während des Ersten Weltkrieges. Der Aufgang von Stefan Hertmans hat mir ganz ausgezeichnet gefallen, von Krieg und Terpentin erwarte ich ein interessantes Leseerelebnis. Das Buch ist Teil meines Lesevorhabens 12 für 2025.
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Alexander Preuße: Opfergang – Piratenbrüder Band 7 Taschenbuch ca. 520 Seiten Mai 2026; jetzt vorbestellen eBook: Kindle 5,99 Euro oder KindleUnlimited
Bücher begleiten mich schon mein ganzes Leben, auf dem Leseweg habe ich sehr viele großartige Romane und Sachbücher lesen dürfen, von denen ich gern erzählen möchte. Das ist ein Grund, warum ich blogge.