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Arthur Koestler: Der Sklavenkrieg

Der erste Satz in Koestlers großem Historischen Roman ist genial, kurz und im wörtlichen wie übertragenen Sinne wunderschön. Cover Elsinor-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Es sind die großen Fragen, die Arthur Koestler in seinem Roman Der Sklavenkrieg stellt. Warum handelt der Mensch gegen seine eigenen Interessen? Zu Beginn der Revolte schließen sich die Sklaven und Entrechteten der Sklavenarmee unter Spartakus an, machen mit ihnen gemeinsame Sache – doch in Capua (ausgerechnet!) stehen die Versklavten bewaffnet auf den Mauern und verteidigen ihre Herren und Besitzer. Warum tun sie das?

Koestlers Roman Der Sklavenkrieg liefert keine mundgerechten Antworten, kein romantisierendes, verschlichtendes Feuerwerk an Plattitüden und Phrasen, wie es in vielen breitenwirksamen historischen Romanen und Hollywood-Filmen gezündet wird. Dabei ist die Handlung, der sich Koestler angenommen hat, unbedingt eine tolle Vorlage für Hollywood, wie die berühmte Verfilmung Spartakus mit Kirk Douglas beweist. Und Der Sklavenkrieg ist vor allem ein Roman, keine philosophische Abhandlung oder Essay.

Mit einer einfachen Erzählung der Ereignisse lässt der Autor den Leser aber nicht davonkommen, ohne der Spannung die Spitze zu nehmen oder gar in historisch-erklärende Langeweile abzugleiten. Natürlich weiß jeder Leser von Beginn an, dass der große Aufstand der Sklaven unter der von Legenden umwobenen Heldenfigur Spartakus am Ende blutig gescheitert ist; wer hat nicht von dem grausamen Schicksal der Überlebenden gehört?

»Es ist kein Vergnügen, von Rom gerettet zu werden.«

Arthur Koestler: Der Sklavenkrieg

Das Römische Reich ist eine Sklavenhaltergesellschaft gewesen, vor allem Kriegsgefangene und Verschleppte aus bekriegten und eroberten Gebieten fanden sich in Ketten wieder. Die Behandlung der Versklavten war – wie zu jeder anderen Zeit – unterschiedlich, von grausamst Misshandelten und Ausgebeuteten bis hin zum intellektuellen Anhängsel und Erzieher reichte die Bandbreite. Gemeinsam war allen die Unfreiheit und die fürchterliche Bestrafung im Falle einer Flucht oder Teilnahme an einem Aufstand.

Neben einer Unzahl an kleineren Widerstandsaktionen gab es innerhalb weniger Jahrzehnte gleich drei große Erhebungen von Versklavten in Italien respektive Sizilien, die allesamt zu verheerenden Auseinandersetzungen, ja regelrechten Feldzügen und Schlachten führten. Der berühmteste Aufstand ist der des Spartakus, auch gegen ihn mussten kriegsstarke Legionen eingesetzt werden, bis die »Ordnung« wiederhergestellt wurde. Diejenigen, die nicht auf dem Schlachtfeld starben, wurden hingerichtet – so auch in Der Sklavenkrieg

Koestler schildert das gruselige Schauspiel gekonnt, er lässt einige der Handelnden die Strafe erleiden und den Leser mitleiden; gleichzeitig aber bettet er es ein in die politisch-strategischen Überlegungen und Absichten des Römers Crassus (Carrhae), auf den dieses fürchterliche Schauspiel zurückgeht. Wenig bis gar nichts zählt das einzelne Leben in der überwältigenden Maschinerie der Macht, die aber von den Händen Einzelner gelenkt wird.

Der Sklavenkrieg ist aus der Sicht vieler Zeitgenossen erzählt, Koestler wechselt munter die Perspektive und lässt vor den Augen des Lesers ein vielfältiges Bild entstehen. Die Handelnden verfolgen ihre eigenen Interessen und Absichten, es gibt eine Vielzahl von einander überlagernden Konflikten, selbstverständlich auch innerhalb der immer weiter wachsenden Sklavenarmee, aber auch unter ihren Gegnern.

»Klar und gerade waren nur die Wege der Gewalt.«

Arthur Koestler: Der Sklavenkrieg

Die aufständische Armee ist alles andere als »gut«, Koestler übergeht nicht das fürchterliche Schicksal, das jene Orte ereilt, die anfangs auf der Route dieses Heerhaufens liegen. Zu den besonderen Szenen gehört jene, in der Bewohner einer dieser Städte trotz der heranwalzenden Gefahr und der sich abzeichnenden inneren Unruhen (die Sklaven der Stadt werden von Aufrührern unterwandert) völlig weltfremd und naiv reagieren und auf grausame Weise mit dem Leben bezahlen.

Die Gegenspieler der Sklavenarmee lernen und passen ihre Strategie an – es kommt zu jener erwähnten gespenstischen Szene, da bewaffnete Sklaven die Mauern einer Stadt gegen ihre heranrückenden Schicksalsgenossen erheben und ihre Herren und Unterdrücker verteidigen! Hier stellt sich die eingangs genannte Frage, weitere drängen sich auf. Warum münden Revolutionen scheinbar zwangsweise in Gewaltorgien? Warum werden sie so einfach usurpiert und zur Etablierung einer Tyrannei genutzt ?

Arthur Koestler hat diesen Roman Mitte der 1930er Jahre begonnen, als Europa von zwei einander abgrundtief hassenden, gleichzeitig aber in gewissen Strukturelementen und vor allem brutalster Menschenverachtung handelnden Regimen unterjocht wurde: dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus. Koestler war Kommunist, später fiel er angesichts der unfassbar brutalen Herrschaft Stalins ab und wendete sich entschieden gegen den real existierenden Kommunismus.

Der Sklavenkrieg kann als ein Echo auf das Zeitgeschehen gelesen werden, er stellt auch eine Auseinandersetzung mit dem dar, was Koestler (deutscher Exilant und entzauberter Kommunist) selbst erlebt. Er ist übrigens nicht der einzige Romancier, der sich in dieser Lage einen historischen Stoff sucht, um sich mit gegenwärtigen Fragen auseinanderzusetzen; Heinrich Mann  hat nicht grundlos in den 1930ern sein monumentales Werk um Henri Quatre vollendet.

Ein zentrales Roman-Motiv ist das »Gesetz des Umweges«. Wenn eine Revolution oder ein Aufstand dieses Gesetz missachtet und den direkten Weg wählt, drohen Blutbad und Untergang. Koestler lässt seine aufständischen Sklaven auf einen – fiktiven – Umweg ziehen und eine utopische »Sonnenstadt« gründen; die aber hat mit dem Paradies auf Erden wenig zu tun, man assoziiert eher Cromwells unerbittliche Puritaner und natürlich das Paradies der Arbeitslager, die stalinistische Sowjetunion.

»Aber die Stadt, der Sonnenstaat, blieb allein.«

Arthur Koestler: Der Sklavenkrieg

Auch der Umweg führt in diesem Fall in den Abgrund. Spartakus verändert sich, wird zum Alleinherrscher, entfremdet sich und regiert mit drakonischer Härte. Wichtiger aber ist, dass jenes Lebensexperiment namens »Sonnenstadt« einerseits ohne Mitstreiter und Nachahmer in der übrigen Welt bleibt, zugleich mit dem Rest dieser Welt verbunden ist; verändert sich die allgemeine Tektonik der Macht, ist auch die »Sonnenstadt« davon betroffen, wie Spartakus und die Seinen schmerzlich erfahren müssen.

Der Sklavenkrieg von Arthur Koestler ist ein überwältigender Roman, der den Leser dank der wendungsreichen Ereignisse und des Tiefgangs der Handlung fesselt, während das Geschehen auf sein tragisches Ende zusteuert. Man schaut in tiefe, dunkle Schluchten und spürt das verlockende Blau, das unerreichbar in der Höhe strahlt, die Verheißung einer besseren Welt. Unten aber steht der Mensch in seiner Widersprüchlichkeit und findet nicht aus seiner Haut heraus.

Der Roman selbst ist in gewisser Hinsicht dem »Gesetz des Umweges« gefolgt, bis er in dieser Form publiziert werden konnte. Das Originalmanuskript galt als verloren, die Veröffentlichung in weitere Sprachen geschah auf der Basis der Übersetzung ins Englische und einer Rückübersetzung ins Deutsche (Die Gladiatoren). Das Originalmanuskript schlummerte derweil in der Sowjetunion unter den misstrauischen Augen des KGB, ehe es nach weiteren Windungen und Wendungen veröffentlicht wurde.

[Rezensionsexemplar]

Arthur Koestler: Der Sklavenkrieg
Elsinor 2021
Hardcover 392 Seiten
SBN 978-3-942788-60-1

Philippe Collin & Sébastien Goethals: Die Reise des Marcel Grob

Eine Graphic Novel mit einem schwerwiegenden und schwierigen Thema, das Fragen aufwirft, die uns heute direkt betreffen. Cover Splitter Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Ist jetzt die richtige Zeit für diese Graphic Novel? Im Osten Europas hat eine brutale Diktatur einen völlig enthemmten Angriffs- und Vernichtungskrieg losgebrochen, der erste, große vollumfängliche Krieg seit 1945 in Europa; Kriegsverbrechen werden verübt, die Invasion trägt die Züge eines Genozids, mit dem Ziel, die Ukraine in jeder Hinsicht auszulöschen.

Damit ist ein möglicher Zugang zu dieser Graphic Novel geöffnet, denn Die Reise des Marcel Grob beginnt in der Endphase des Zweiten Weltkrieges. Die Hauptfigur wird mitten hineingezogen in die Abgründe dieses weltumspannenden Krieges. Unweigerlich werden Fragen aufgeworfen. Kann man, darf man vergleichen? Das Massaker von Marzabotto, das in der Graphic Novel eine zentrale Rolle spielt, mit dem, was die russische Armee etwa in Butscha angerichtet hat?

Wie steht es mit der Schuld des Einzelnen, der vor Ort ist, Kriegsverbrechen ausführt oder ihnen als Teil der Tätergruppe beiwohnt? Gibt es mildernde Umstände, etwa die Drohung des eigenen Todes, durch ein Standgericht wegen Befehlsverweigerung? Heute und damals? Wie geht jemand mit der Schuld um, die ihn persönlich das gesamte Leben lang verfolgt?

Was hätten Sie an meiner Stelle getan? Versuchen Sie mir diese Frage zu beantworten.

Philippe Collin & Sébastien Goethals: Die Reise des Marcel Grob

Vergleichen heißt nicht Gleichsetzen, auch wenn beide Worte im alltäglichen Sprachgebrauch synonym verwendet werden. Wer etwas vergleicht, arbeitet Gemeinsamkeiten und Unterschiede heraus; wer gleichsetzt, verwischt beides. Vergleichen muss also erlaubt sein, allein, um einen Versuch zu unternehmen, sich dem eigenen Standpunkt in der großen Tragödie unserer Tage anzunähern.

Die Graphic Novel von Philippe Collin & Sébastien Goethals bietet reichlich Möglichkeiten, über diese und andere Fragen nachzudenken. Die Geschichte selbst ist sehr spannend, die Zeichnungen sind großartig und auf eine authentisch wirkende Weise atmosphärisch;  Teile der Handlung spielen in Italien, die vertrauten Bilder (Lago di Garda) stehen in einem krassen Kontrast zu dem, was dort geschieht.

Vor allem sind die Personen gelungen. Die Protagonisten sind so genannte Malgré-nous, zwangsverpflichtete Männer aus Elsass-Lothringen, die überwiegend unfreiwillig in den Krieg gezogen sind. Die verschiedenen Schattierungen ihrer Einstellung werden sehr überzeugend dargelegt, ebenfalls die jähe Desillusionierung, die selbst die Motivierten trifft.

Waffen-SS, das heißt, wir werden den Bolschewiken mal so richtig in den Arsch treten.

Philippe Collin & Sébastien Goethals: Die Reise des Marcel Grob

Die Reise des Marcel Grob wirkt ungeheuer authentisch. An den geschilderten Kriegshandlungen ist nichts Heroisches. Es ist den Autoren gelungen, diese aus Kriegsromanen bekannte Blindheit der Soldaten einzufangen, die irgendwohin marschieren, ohne eine Ahnung zu haben, was ihnen blüht. Sie bringen Tod und Verderben über Arglose und werden von Tod und Verderben gleichsam aus dem Nichts heimgesucht.

Die Hauptfiguren werden 1944 eingezogen, als der Krieg aus deutscher Sicht militärisch längst verloren war und das NS-Regime Millionen Soldaten und Zivilisten blindwütig in den Tod geschickt hat, um die unabwendbare Niederlage hinauszuzögern. Was heute so offensichtlich erscheint, war es für viele damals nicht. Rückblickend ist man immer klüger – erinnern Sie sich noch, was Sie im Februar 2022 über die Aussichten der ukrainischen Armee dachten?

Als die jungen Männer um Marcel Grob ihren Ausbildungsstandort erreichen, sehen sie zum ersten Mal in ihrem Leben das Meer; einige wissen nicht einmal, welches. Wie hätten sie die militärische Lage einschätzen können? Auch hier drängen sich dem Leser Fragen auf. Was wissen wir über den Krieg in der Ukraine? Was die russischen Soldaten? Vor allem: Welche Möglichkeiten, welche Handlungsoptionen stehen ihnen offen?

Die lassen uns krepieren, die Schweinehunde.

Philippe Collin & Sébastien Goethals: Die Reise des Marcel Grob

Bei aller Nähe zu den historisch überlieferten Wirklichkeiten handelt es sich um ein fiktionales Werk und als solches sollte es auch gelesen werden. Wenn etwa der Untersuchungsrichter den 83 Jahre alten Marcel Grob fragt, warum er nicht Selbstmord begangen hat, statt sich an dem Massaker zu beteiligen, wirkt das abstrus; bis sich auch die Umstände am Ende klären. Ein kleiner Paukenschlag

Zusätzliche Informationen ergänzen die Fiktion. Eine Karte informiert über den Weg, den Marcel Grob zurückgelegt hat, Informationen über die SS, die Waffen-SS, die militärische Formation, das Massaker und die strafrechtliche Verfolgung werden knapp abgehandelt. Einige Literaturempfehlungen runden das Zusatzmaterial ab.

Im Kern hält Die Reise des Marcel Grob auch eine Mahnung an die Gegenwart bereit: Viele Kriegsverbrecher oder (Mit-)Täter kamen nach dem Zweiten Weltkrieg davon, sie traten in alliierte Dienste (Wernher von Braun) oder wurden nach vergleichsweise kurzer Gefängnisstrafe wieder entlassen. Die Toten blieben tot.

Das führt zur letzten Frage. Russlands Krieg gegen die Ukraine wird nicht ewig währen. Wie wird es nach dem Ende des russländischen Vernichtungskrieges sein? Werden die Täter bestraft oder wird »vernünftig« gehandelt und geschont? Wer ein wenig zuhört, ahnt schon, wohin diese Reise gehen wird.

Die Reise des Marcel Grob
Szenario: Philippe Collin
Zeichnungen Sébastien Goethals
Aus dem Französischen von Harald Sachse
Splitter-Verlag 2019
Hardcover 192 Seiten
ISBN: 978-3-96219-320-1

David Hewson: Garten der Engel

Venedig ist der Ort dramatischer Ereignisse im Herbst 1943, als die Deutschen die Macht im Norden Italiens an sich gerissen haben. Cover Folio Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Seit ich zwölf Jahre alt bin, beschäftigt mich der Krieg. Dabei steht »der Krieg« vor allem für den Zweiten Weltkrieg. Es ist ein – etwas seltsames – Vermächtnis, das mich bis an mein Lebensende beschäftigen wird, aber so etwas kann man sich nicht aussuchen. Garten der Engel von David Hewson dreht sich neben allem anderen auch um ein ungewolltes Vermächtnis, auf ganz verschiedenen Ebenen: persönlich, familiär, aber auch ein wenig historiographisch.

David Hewson ist das Kunststück geglückt, dieses Vermächtnis in eine sehr spannende, ja dramatische Geschichte einzuweben; kein zufällig gewähltes Verb, spielt doch das Weben eine wichtige Rolle in der Handlung. Der Ort ist ebenfalls klug gewählt. Venedig, vom Festland abgeschnitten, eine kleine, in sich geschlossene Welt für sich; zumindest können sich das ihre Bewohner einreden.

Es ist 1943, Italien hat nach drei Jahren – äußerst glücklosen Krieges – mit den Alliierten einen Waffenstillstand geschlossen und das Bündnis mit Deutschland verlassen. Praktisch ist das Land zweigeteilt, denn die amerikanischen und englischen Truppen kommen nur sehr langsam voran, der gesamte Norden ist in deutscher Hand.

Mussolinis Faschisten haben dort unter Nazifuchtel weiterhin das Sagen, es tobt ein blutiger Partisanenkampf im Land. Für jene, die laut Nazi-Ideologie als Juden gelten, brechen schwere Zeiten an, denn jetzt geraten auch sie ins Visier der deutschen Vernichtungskrieger, die Verfolgungen werden wie im übrigen Europa verschärft, Züge voller italienischer Juden rollen Richtung Konzentrationslager.

Wenn die Welt sich verdunkelt, bleibst du dann in deinem Versteck und wartest ab, bis es wieder hell wird? Oder versuchst du selbst, eine kleine Flamme zu entzünden?

David Hewson: Garten der Engel

Das alles schwappt nach Venedig, wo sich die Deutschen eingerichtet haben und auf Mussolinis treue Schwarze Brigaden und Kollaborateure stützen. Man schlägt sich durch, auch der just von alliierten Bomben zum Waisen gemachte Paolo Uccello müht sich, das ins Straucheln geratene Familienunternehmen, eine Seidenweberei, am Leben zu erhalten.

Eine ganze Reihe von Personen gerät durch das Auftauchen zweier jüdischer Partisanenflüchtlinge in eine Lage, Entscheidungen mit weitreichenden Konsequenzen treffen zu müssen. Hewson ist es gelungen, die meisten dieser Personen vielschichtig zu gestalten, sie mit ihren Widersprüchen und Schwächen, hanebüchenen Ideen und Ansichten aufeinander loszulassen. Eine Ausnahme bilden die eher schablonenhaften deutschen Besatzern; daran ist nichts auszusetzen, um die geht es in diesem Roman nämlich nicht in erster Linie.

Im Mittelpunkt steht zum Beispiel der Kollaborateur Luca Alberti, ein ehemaliger Polizist, der sprachkundig für die Deutschen in Venedig Ermittlungsarbeiten durchführt. Er versucht sich in der hohen Kunst des Lavierens, redet sich ein, nur das zu tun, was irgendjemand tun müsse und durch sein Handeln das eine oder andere Leben retten zu können. Alberti ist andererseits völlig illusionslos über sein Schicksal, sollte der Krieg für die Achsenmächte verlorengehen. Eine ganz wunderbar widersprüchliche Person.

Ich erledige eine Aufgabe, die irgendjemand erledigen muss.

David Hewson: Garten der Engel

Das gilt auch für viele andere Figuren, die in Garten der Engel ins Geschehen eingreifen und durch ihre Torheiten und klugen Entscheidungen einen Prozess in Gang setzen, der sich immer mehr beschleunigt und auf eine geradezu klassische Tat zuzusteuern scheint – doch Hewson hält für den Leser einige handfeste Überraschungen und Wendungen bereit; man kann das Buch irgendwann nur schwer aus den Händen legen.

Angesichts der zahlreichen, ansprechenden Personen fallen ausgerechnet die beiden Partisanen ab. Insbesondere die handlungsaktive Mika Artom hat bei mir für Stirnrunzeln gesorgt – ganz bewusst formuliere ich etwas gewunden, denn aus meiner langjährigen Beschäftigung mit diesem Krieg weiß ich, dass in dieser Zeit viele Menschen Dinge getan haben, die im Grunde undenkbar waren.

So verhält es sich vielleicht auch mit Mika, die wie ein menschlicher Katalysator für einen wesentlichen Teil der Handlungsdynamik verantwortlich ist. Wie sie geschildert wird, wäre sie – mit Vorbehalt – längst tot, umgebracht von den Deutschen, italienischen Faschisten oder aber den eigenen Leuten, für die sie aufgrund ihrer Querschlägerei eine immense Gefahr darstellt. Kurz hatte ich sogar die Befürchtung, Mika würde mir das Buch insgesamt verleiden – zum Glück unbegründet.

Hewson hat nämlich en passant mit dem Partisanenmythos ein wenig aufgeräumt. Partisanenkrieg wird oft immer noch verherrlicht, dabei handelt es sich um eine brutale, ja oft menschenverachtende asymmetrische Kriegführung, die ganz bewusst die Zivilbevölkerung in die Feuerlinie bringt. Für jeden getöteten Deutschen wird eine Handvoll Zivilisten erschossen – als abschreckende Terrormaßnahme. Auch einige handelnde Figuren fragen sich, ob das Agieren der Partisanen militärisch gerechtfertigt und moralisch gedeckt ist.

Es wird alles zu einer Geschichte. Einem Märchen. Gut und schlecht. Schwarz und Weiß. Nichts dazwischen. Dabei ist es das Dazwischen, auf das es ankommt.

David Hewson: Garten der Engel

Garten der Engel erzählt die Geschichte im Rahmen eines klassischen Sterbebett-Bekenntnisses. Fünf Teile umfasst das, was der verlöschende nonno Paolo seinem Enkel Nico mitgibt, fünf Manuskripte, die jene Ereignisse aus dem Jahr 1943 erzählen. Es ist – wie sich herausstellt – ein echtes Vermächtnis, über das Leser wie Enkel bis zum Ende nicht recht im Bilde sind. Die langsam sich anbahnende Auflösung vieler Fragen gehört wiederum zu den großen Stärken dieses ganz wunderbaren Romans.

[Rezensionsexemplar, daher Werbung]

David Hewson: Garten der Engel 
Aus dem Englischen von Birgit Salzmann
Folio Verlag 2023
Hardcover 394 Seiten
ISBN: 978-3-85256-876-8

Christopher Clark: Die Schlafwandler

Ein epochemachendes Werk, zentral für alle, die Geschichte und Gegenwart verstehen wollen. Cover DVA. Bild mit Canva erstellt.

Allein die Herangehensweise spricht für eine nachdrückliche Lektüreempfehlung dieses umfangreichen Buches namens Die Schlafwandler. Der Historiker Christopher Clark untersucht den Weg in den Ersten Weltkrieg, die Urkatastrophe, die am Anfang von Europas Selbstvernichtung stand. Sein Ansatzpunkt ist dabei hochinteressant und – wie es sich über ein Werk dieser Art gehört – umstritten. Aus meiner Sicht hat es epochalen Charakter.

Die Kriegsschuld, die im Versailler Vertrag und von vielen Historikern dem Deutschen Kaiserreich zugesprochen worden ist, darf wie ein bequemes Sofa betrachtet werden. Die Siegermächte entband es von der Notwendigkeit, die eigenen Anteile an dem Desaster kritisch zu beleuchten – man hatte ja einen Verursacher. Aber auch für interessierte Kreise auf Seiten der Deutschen war diese Zuschreibung vorteilhaft, eignete sie sich vortrefflich für antidemokratische und nationalistische Propaganda.

Nach 1945 haben viele deutsche Historiker unter dem Eindruck des Zivilisationsbruchs nur zu gern die schlichte Lösung des angeblich geplanten, provozierten Krieges im Rahmen einer Strategie, die als »Griff nach der Weltmacht« bezeichnet wurde, aufgegriffen und mit Klauen und Zähnen verteidigt; im Kern eine absurde, wenn auch verständliche Rückschau durch die Brille des nationalsozialistischen Weltanschauungs- und Angriffskrieges.

Alles fing mit einem Kommando von Selbstmordattentätern und einem Autokorso an.

Christopher Clark: Die Schlafwandler

Christopher Clark geht einen anderen, meines Erachtens seriöseren Weg, und lässt die »Kriegsschuld« außen vor. Stattdessen konzentriert er sich auf die politischen Verhältnisse, Strömungen und Optionen, die den handelnden Personen in der Julikrise zur Verfügung standen und zeigt minutiös auf, wer, wann, wie und vor welchem Hintergrund handelt.

Frappierend, wie sehr die angeblich so sachliche und nüchterne Historiographie Ideologien und Denkmuster widerspiegelt. Clark verweist ganz am Ende seines Buches darauf, wie schnell und umfänglich Serbien als wesentlicher Akteur aus dem Denken der Verantwortlichen verschwunden ist – und auch aus den Werken der Geschichtsschreiber, die sich – wie Franzosen, Russen und Engländer damals – auf Deutschland fokussierten.

Die Schlafwandler nimmt sich eines extrem komplexen Vorganges an, der Jahre vor 1914 seine Wurzeln hat – eben auch dort, wohin bislang kein Scheinwerfer der Historiographie leuchtete. Allein für Clarks ausführliche Darstellung des serbischen Wegs in das Desaster gebührt dem Autor große Anerkennung, die Schilderung des irredentistischen Königsmörder-Flügels unter den Verantwortlichen, rückt einiges ins Licht.

Serbien  wird aus der Bedeutungslosigkeit herausgeholt, zugleich aber der Selbststilisierung als reines Opfer entkleidet und – dankenswerterweise – nüchtern in seiner inneren Entwicklung betrachtet.

Das Opfer war ein zentrales Motiv, fast schon ein Wahn.

Christopher Clark: Die Schlafwandler

Auch der geschulte Leser fühlt sich wie auf einer Entdeckungsreise in eine unbekanntes, nicht kartographiertes Land. Was da aus der Dunkelheit an Licht kommt, lässt im Jahr 2022 schaudern. Die serbischen Stimmen, die vor 1914 von einem Großserbien schwadronierten, lassen die Äußerungen über die Ukraine, die aus Putins Reich kommen, wie ein spätes, gefährliches Echo klingen.

Durch die Beschäftigung mit Serbien wird erst klar, wie sehr die Entente-Mächte dem fünften Großmacht-Rad am europäischen Wagen, Österreich-Ungarn, alle Rechte absprachen, die sie für sich in Anspruch nahmen; ja, auch ohne triftigen Grund für sich beanspruchten. Österreich-Ungarn galt 1914 als verfallender Staat, der zwangsläufig verschwinden würde (wie auch das Osmanische Reich). Auch mit dieser Annahme räumt Clark auf.

Es nimmt sich schon kurios aus, wie sehr Russland wirtschaftlich und militärisch überschätzt und hinsichtlich der internen Schwächen unterschätzt wurde – niemand hätte 1914 eine Wette darauf gewagt, dass der Riese im Osten drei Jahre später kollabieren würde. Umgekehrt ist es eben auch fraglich, ob Österreich-Ungarn nicht hätte eine innere Reform durchführen und sich stabilisieren können.

Das Todesurteil für das Habsburgerreich wurde noch durch eine rosarote Sichtweise Serbiens als Nation der Freiheitskämpfer bekräftigt, denen die Zukunft gehörte.

Christopher Clark: Die Schlafwandler

Geschichte wiederholt sich (nicht). Die ewige Frage würde ich – nicht nur in diesem Fall – mit dem Begriff des historischen Echos versehen – leicht verzerrt, doch in seinem Kern gleich und zusammengenommen ähnlich.  Serbien ist keineswegs nur die Zündflamme des Flächenbrandes namens Erster Weltkrieg gewesen, sondern handelnder und über seine wirkliche Bedeutung hinausreichender Akteur des Desasters gewesen.

Vielleicht musste ein Historiker wie Christopher Clark kommen, den es aus der australischen Ferne nach Europa verschlagen hat, wo er den gewohnten Blick auf den Weg in den verheerenden Ersten Weltkrieg geschärft und viele bequeme Gewohnheiten über den Haufen geworden hat. Clark schaut genauer hin und schildert die Vorgänge und mögliche Alternativen auf sehr vielen Ebenen.

So wird die Bedeutung des Balkans, seiner kleinen, streit- und kriegslustigen Staaten, allen voran Serbiens, aber auch Italiens, das mit seinem ebenso aggressiven wie vergessenen Krieg 1912 verhängnisvollen Entwicklungen den Weg bereitete, der nötige Raum gegeben. Die politischen Entscheidungsfindungsprozesse in den Staaten, ihre Machtgruppen und einander bekämpfenden Gruppen, werden aufgezeigt, die Bedeutung der Monarchen, der Presse und gesellschaftlicher Verbände beleuchtet.

Es ist ein lohnenswerter, verschlungener, vielfach gewundener Weg, den der Leser beschreitet. Im Verlauf wird ihm klar, wie kurios der Begriff der »Schuld« ist, der den Blick auf die wesentlichen Aspekte verstellt. Etwa die ungeheuer aggressive Politik russischer Kreise, die Deutschenfeindlichkeit mächtiger Gruppen in England und Frankreich. Das Buch ist wie eine Impfung, die Neigung, dort eine »Mitschuld« zu verorten, verfliegt und macht der sehr viel wichtigeren Frage Platz: Wie hätte sich das Debakel verhindern lassen?

Mir haben mehrere Aspekte ganz besonders gefallen. Zum einen Clarks Blick auf die Kommunikation zwischen den Machtgruppen und Staaten, insbesondere die Einbettung des Überlieferten in eine Analyse von deren tatsächlicher Wirkung. Zum zweiten die Frage, ob und wann es hätte wie anders kommen können – Die Schlafwandler bricht grundsätzlich mit der Neigung, den Ersten Weltkrieg als zwangsläufigen Endpunkt einer unveränderlichen Entwicklung zu betrachten.

Sehr bemerkenswert ist aber drittens die Feststellung, dass die handelnden Akteure auf allen Seiten wenig über die Intentionen der anderen wussten, mit einer geringen Zuversicht bezüglich der Verlässlichkeit der anderen, selbst innerhalb der Bündnisblöcke ausgestattet waren und die daraus resultierende Instabilität durch die wechselnden Machtverhältnisse innerhalb der jeweiligen Exekutiven verschärft wurde.

Die Österreicher glichen Igeln, die ohne nach rechts oder links zu schauen, über eine Autobahn trippeln.

Christopher Clark: Die Schlafwandler

Die Voraussetzungen für eine mögliche Abwendung des Ersten Weltkrieges waren also nicht besonders gut, aber nicht, weil sich etwa zwei in sich geschlossene Blöcke gegenüberstanden, sondern auch wegen der Unsicherheit innerhalb der Blöcke. Clark hat das beim Blick auf die Julikrise 1914 herausgestrichen, was aus meiner Sicht weit über das historische Ereignis hinausragt und den Blick auf aktuelle politische Entwicklungen schärfen sollte. Aus Die Schlafwandler lässt sich vortrefflich lernen.

Die Vereinfachung komplexer historischer Entwicklungen hat für die Gegenwart verheerende Konsequenzen. Sie erklärt nämlich beispielsweise die nachgerade absurde Ignoranz der deutschen auswärtigen Politik im 21. Jahrhundert gegenüber der Ukraine, den baltischen Staaten, Polen und Belarus und alleinige Fokussierung auf Russland – wohlgemerkt aus Gründen der »historischen Verantwortung«. Als ob die Nazis nur in Russland gewütet hätten.

Die Schlafwandler ist eben auch ein Plädoyer dafür, komplex zu denken, wenn es um komplexe Entwicklungen geht, und Misstrauen gegenüber einfachen Antworten zu entwickeln. Die medial allzu häufig zu Wort kommenden Schlichtgestalten mit ihren einfältigen Schuldzuschreibungen (!) sind nichts weiter als ein erbärmliches Echo bequemer, eindimensionaler Weltsichten, Vertreter einer Art historisch-politischen Autismus’.

Christopher Clark: Die Schlafwandler
Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz
DVA 2013
Hardcover, 896 Seiten
ISBN: 978-3-421-04359-7

Ilja Leonard Pfeijffer: Grand Hotel Europa

Venedig ist in diesem großen, europäischen Roman Sinnbild für die zerstörerische Kraft des Massentourismus und für das erstickende Übermaß an Geschichte, das Europas Weg in die Bedeutungslosigkeit ornamentiert.

Zu den wenigen Dingen, die ich vorbehaltlos verachte, gehört der Drang nach touristischer Authentizität. Wenn in Reiseführern die Rede von authentischen kulinarischen Genüssen, Erfahrungen oder ähnlich abstrusem Krams ist, verspüre ich Brechreiz. Der Grund ist nicht zuletzt Heisenberg: Seine Unschärferelation gilt nicht nur in der Physik, sie gilt überall. Den »neutralen«, erlebenden Beobachter gibt es nicht, die bloße Anwesenheit beeinflusst und verändert bereits. Authentizität ist unmöglich.

Der aus den Niederlanden stammende Autor Ilja Leonard Pfeijffer verschafft in seinem Roman einigen obskuren Authentizitäts-Autisten einen gespenstischen Auftritt, der den Leser in einen Zustand flammender Wut und angeekelter Abscheu versetzt. Es ist eine derart eindrückliche Stelle, dass ich mich beim Wiederhören vor ihr ein wenig gefürchtet habe – völlig zu Recht. Pfeijffer führt vor, erbarmungslos und für den Leser bzw. Hörer in diesem speziellen Fall schwer erträglich.

Aber ich schwieg. Ich hatte die Diskussion bereits in Gedanken gewonnen und es wäre schade, diesen Triumph durch die Konfrontation mit der widerspenstigen Realität zu gefährden.

Ilja Leonard Pfeijffer: Grand Hotel Europa

Zum Glück verfügt der Schriftsteller über ein immenses sprachliches Ausdrucksvermögen, was den Roman ungeheuer unterhaltsam macht. Er bedient sich einer wundervollen Form der Verschleierung, nämlich barocker Höflichkeit, deren manierierter Gestelztheit er mit boshafter Ironie und manchmal deftigen Worten den nötigen Ausgleich verschafft. Besonders gefällt Pfeijffers Hang, sich selbst ohne Scheu zu überheben und wenige Absätze weiter wieder vom Sockel der Selbstgefälligkeit zu stürzen. Er teilt in alle Richtungen aus, auch gegen sich selbst.

Das Reisen der Massen ist nur ein Thema, das in Grand Hotel Europa verhandelt wird, allerdings ein wichtiges. Es geht, wie man am Zitat sieht, um die Selbstzerstörung des Tourismus – und des Menschen an sich. Was gäbe es für einen passenderen Ort als Venedig, um das vorzuexerzieren?

Der Tourismus zerstört, wovon er angezogen wird.

Ilja Leonard Pfeijffer: Grand Hotel Europa

Pfeiffer lässt den Leser leiden, indem er ihm auf schmerzhafte Weise vorführt, was vor Ort schiefläuft. Dazu wählt der Autor ein geschicktes Mittel in Form des Stilwechsels. Individuelle Beobachtungen von – schrecklichen – Touri-Zeitgenossen wechseln mit informativen Passagen, die einen essayistischen Charakter haben und genau ausführen, von was eigentlich die Rede ist. Diese Wechsel verleihen dem Roman einen ganz besonderen Reiz.

Doch ist Tourismus nur eine Facette des gleichen Themas, denn ihm wird die unfreiwillige Migration zur Seite gestellt. Der junge Mann auf dem Titelbild steht für Abdul, den Piccolo des Grand Hotels Europa, in dem der Erzähler sich einquartiert hat. Er ist ein Flüchtling aus der Wüste und hat eine ganz andere Reise hinter sich als die Flip-Flop-Scharen, die aus den Kreuzschiff-Giganten wälzen und den Markusplatz überfluten.

Der Roman bezieht Position. Touristen gelten Pfeijffer gemeinhin als willkommen, sind in Wahrheit jedoch Zerstörer; (fliehende) Migranten werden als unwillkommene Eindringlinge gefürchtet, sind jedoch potenzielle Helfer, die beitragen könnten, Krisen (auch in Venedig) zu bewältigen.

Ich erzählte ihm von meiner Idee, ein Buch über den Tourismus zu schreiben. ›Sie möchten also über die barbarische Invasion schreiben‹, sagte Patelski. ›Man hält den Tourismus im Allgemeinen für ein Geschäftsmodell und stimuliert ihn. Dabei ist er eine Bedrohung. Er bildet eine interessante Parallele zur angeblichen Invasion der Afrikaner, die man für eine Bedrohung hält, obwohl sie eine große Zukunftsperspektive birgt.‹

Ilja Leonard Pfeijffer: Grand Hotel Europa

Die beiden Formen der Mobilität verbindet Pfeijffer äußerst geschickt mit seinem zweiten Anliegen. Europa wäre ein Ort der Geschichte, einzigartig in der Welt. Während anderswo die Zukunft im Fokus stehe, Altes abfällig betrachtet und gern abgerissen würde, lebe Europa von und in der Vergangenheit. Dank Deindustrialisierung und dem Aufstieg anderer Regionen wäre der Tourismus, befeuert von der musealen Historie des Alten Kontinents, für Staaten wie Italien und Griechenland längst unverzichtbare Lebensader.

Die beiden Hauptfiguren, der Autor selbst, der den Ich-Erzähler mimt, und seine italienische Muse Clio, stecken persönlich in diesem Sumpf aus Gestern. Die Geschichte wird ausgehend vom Grand Hotel Europa retrospektiv erzählt, dabei springt der Roman munter zwischen den Zeitebenen und Stilen hin und her. Der Leser folgt der Geschichte der beiden, die sich durch einen Zufall kennenlernen, ein Paar werden, in einer weiteren Erzähllinie einem hübschen Geheimnis um Caravaggio nachgehen und sich zerstreiten.

Die Stadt wird nur noch von den Geistern der Vergangenheit bewohnt.

Ilja Leonard Pfeijffer: Grand Hotel Europa

Das weiß der Leser bereits am Anfang des Romans, denn der Ich-Erzähler ist im Grand Hotel Europa, um Wunden zu lecken und seine Beziehungs-Bauchlandung zu verarbeiten. Clio ist Kunsthistorikerin, sie entstammt einer sehr alten italienische Familie aus Genua. Sie verkörpert somit einen Teil der Geschichte und steckt wörtlich in ihr fest, denn an ein – für Länder nördlich der Alpen selbstverständliches – berufliches Fortkommen ist im historisch-sozial verkrusteten Italien nicht zu denken. Wohlgemerkt: Norditalien, nicht Mezzogiorno.

Mit dieser Beziehung erhält der Roman etwas Spielerisches, denn Pfeijffer weidet sich daran, sie in Szene zu setzen. Sex-Szenen spielen auch eine Rolle und sind sprachlich ganz wunderbar gestaltet. Es kann dabei schon vorkommen, dass der Autor sich mitten im Geschehen entschuldigend an den Leser wendet und die Örtlichkeit dafür verantwortlich macht, dass er die gewohnte sprachliche Eleganz an dieser Stelle vermissen lässt.

›Glauben Sie, dass Reisen den Horizont erweitert?‹

›Ich glaube, dass Nachdenken den Horizont erweitert.‹

Ilja Leonard Pfeijffer: Grand Hotel Europa

Vor allem bekommen die Reisefreudigen einen literarischen Schuss vor den Bug. Die Lügen und der Selbstbetrug der so genannten Sharing Economy, wie Airbnb, werden wunderbar an einen sprachlich fein ornamentierten Pranger gestellt.

Die Romanfigur Pfeijffer lebt in Venedig, wo längst alles zu spät ist, eine Stadt zum Museum und ihre Bewohner zu niederen Dienstleistern herabgewürdigt wurden. Doch dabei lässt er es nicht bewenden, er führt andere Beispiel vor, wie Amsterdam, wo er ausgerechnet Nutella zum Sinnbild des globalen Missstands werden lässt.

Ungeheuer boshaft, zum Schreien komisch – manchmal auch nur zum Schreien -, dann wieder sachlich, nüchtern oder handfest wird der Leser in Atem gehalten. Gut unterhalten folgt er dem Pfad, der schließlich ganz tief in die europäische Geschichte führt, hinab in das mystische Fundament, die ganz alten Sagen. Ganz groß ist nämlich jener Moment, an dem klar wird, wie schön das mit dem Flüchtlingsschicksal Abduls verwoben wurde. Das halbe europäische Mittelalter hat sich zwecks Legitimation auf Vergils Aeneis berufen, deren Helden nämlich was sind? Jetzt dürfen alle mal raten und diesen wunderbaren Roman lesen.

Ilja Leonard Pfeijffer: Grand Hotel Europa
Aus dem Niederländischen von Ira Wilhelm
Piper 2021
Broschur 560 Seiten
EAN 978-3-492-31858-7

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