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Schlagwort: Spanien (Seite 2 von 3)

Andrew Miller: Die Korrektur der Vergangenheit

Ein historischer Roman der ganz besonderen Art, frei von jeglichem Action- und Romance-Gedöns, aber spannend vom ersten bis zum letzten Augenblick, einschließlich der Passagen, in denen sich eine Romanze entfaltet. Cover Paul Zsolnay Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Das Cover, nein das Cover ist nicht so eines. Es kündigt nicht eines jener Bücher an, die mit einer Frau im Vordergrund, halb oder ganz abgewandt und damit zumeist einer helleren Zukunft entgegenblickend die Regale unter dem Label »Historische Romane« füllen. Wild (wie die bewegte See), ja, romantisch auch, aber nicht in abgeschmacktem  Sinne; dramatisch, auf jeden Fall, wenn auch ohne die genreübliche Action. Spannend: von ersten bis zum letzten Augenblick.

Die Hauptfigur von Die Korrektur der Vergangenheit  ist ohnehin keine Frau, sondern ein gewisser John Lacroix, der sich in den Spanienfeldzug des Jahres 1808/09 gestürzt hat und von diesem an Körper und Geist zerschunden wieder ausgespien wurde. Sein Weg zurück aus der Dunkelheit im Vorraum des Todes zurück ans Licht, das von Erinnerungen und Scham verdüsterten Licht des Lebens.

Unter den Händen von Nell, der Haushälterin, kann Lacroix genesen, doch die inneren Verwüstungen trägt er mit sich herum; sie lassen ihn gar an Selbstmord denken. Um welche es sich handelt, erfahren wir nicht von ihm, jedenfalls nicht am Anfang. Der britische Feldzug in Spanien endete mit einem katastrophalen Rückzug, mehr als die kargen Äußerungen, über die man auch flüchtig hinweglesen könnte, gibt es nicht.

Man ahnt jedoch eine Menge. Der Offizier einer Kavallerieeinheit kommt in einem völlig abgerissenen Zustand zurück. Seine Ausrüstung, seine Waffen, die meiste Kleidung und seine Stiefel sind verschwunden, statt seiner Truhe und Taschen führt er nur einen billigen Tornister mit sich. Immerhin lebt er, sein Gehör hat gelitten, was während der gesamten Handlung immer wieder geschickt eingeflochten wird, um das Motiv des Verstehens durchzuspielen.

Der Krieg ist jedoch nicht vorbei, England schickt wieder Streitkräfte nach Spanien, plötzlich sieht sich Lacroix mit der Aussicht konfrontiert, noch einmal in die Hölle zurückkehren zu müssen. Er beschließt, seinen aktiven Dienst zu beenden und nach Norden zu fahren – mit einem Wort: Er desertiert (mehr oder weniger).

Dass auch Soldaten dagewesen wären, Rückkehrer aus Spanien, die einfach auf der Straße lagen ohne Augen und Beine.

Andrew Miller: Die Korrektur der Vergangenheit

Es hätte für Lacroix also auch schlimmer kommen können – die Versuchung, das zu sagen, liegt nahe; was dieser Krieg zwischen englischen und französischen Truppen sowie spanischen Einheiten und Freischärlern, ausgefochten auf spanischem Boden für Lacroix mit sich brachte, erfährt der Leser aus einer anderen Perspektive. Die Wechsel der Erzählsicht, von Ort und Zeit und Personen, gehören zu den herausragenden Stärken von Autor Andrew Miller.

Die so entstehenden Auslassungen, offenen Fragen, Vermutungen und leeren Stellen lassen das drängende Bedürfnis nach Antworten, Erhellung, Aufklärung entstehen – bis zum Ende des Romans und darüber hinaus. So erfährt der Leser, dass Lacroix mit einem Geschehnis in Verbindung gebracht wird, das man getrost als Kriegsverbrechen bezeichnen kann.

Ob und inwieweit das in seiner Verantwortung lag bzw. die Aussagen, die darüber in einer großartigen Passage vorgetragen und zusammengestellt werden, überhaupt eine Anschuldigung, gar nicht zu reden von einem Prozess oder Verurteilung ausreichen würden, bleibt anfangs völlig offen. Es ist aber Krieg und dessen totaler Charakter lässt in der Regel alles Recht verbleichen, wenn nicht gar verschwinden.

Im Parallelogramm der Kräfte steht England gegen Frankreich und damit gegen einen übermächtigen Feind, der gerade Preußen und Österreich militärisch zermalmt hat. England braucht Spanien und die »Spanier wollen einen Schuldigen« für ein Vorkommnis während des Feldzuges, woraus sich eine hübsche, wenn auch etwas konstruierte geopolitische Notwendigkeit für eine abseits des Rechts durchzuführende Bestrafungsaktion ergibt.

›Ich bin der Krieg. Ja? Und heute ist der Krieg zu Ihnen gekommen. Er ist direkt in Ihr Haus gekommen und hat sie niedergeschlagen.‹

Andrew Miller: Die Korrektur der Vergangenheit

Der Krieg macht nicht jeden so fertig wie Lacroix, manche werden mit ihm und seinen Zudringlichkeiten fertig, werden ein Teil von ihm und machen diesen zu einem Teil von sich. Den Krieg tragen sie im Tornister ihrer Persönlichkeit, wenn sie in die Heimat zurückkehren. In diesem Fall mit einem heiklen Auftrag, bei dessen Ausführung der Beauftragte namens Calley bedenkenlos zu Gewalt greift. Das Zitat trifft das ganz wunderbar und liefert die kalte Rechtfertigung durch Selbstdistanzierung – es wäre »Der Krieg« – gleich mit.

Der politisch motivierte Auftrag erfordert wegen der nötigen Abwesenheit von Recht und Öffentlichkeit die Anwesenheit eines Zeugen, so bildet sich ein Buddy-Paar, der Engländer Calley und der Spanier Medina, die sich auf den Weg nach Großbritannien machen und ihrer Zielperson nachspüren, die bestraft werden soll. Auf dem Weg quer durch das Land werden sie – wie auch der Leser – Zeuge der unaufhörlich voranschreitenden Industrialisierung der Insel.

In beklemmenden Szenen wird geschildert, wie es innerhalb der Mauern dieser Gebäude, »groß wie eine Kaserne, in dem Arbeit vonstattenging, die die Lohnsklaverei der Massen war«. Diese Welt des »Fortschritts« entpuppt sich als menschenverachtende Stätte der Ausbeutung mit brutalsten Mitteln; Calley, »der Krieg«, hat als Kind dort seine Prägung erhalten; die Armee hat diese Anlagen verschärft, ihn zu einem erbarmungslosen und dank der in Aussicht gestellten Belohnung zielstrebigen Jäger gemacht.

Empfand Calley wie er selbst? Dass sie Narren auf einem Narrengang waren?

Andrew Miller: Die Korrektur der Vergangenheit

Sein Partner ist anders, Medina ist das Unbehagen oft anzumerken. Er denkt viel über seinen englischen Partner und ihren Auftrag nach, stellt ihn in Frage und malt sich immer wieder aus, wie er dieser Jagd, die er als »Narrengang« empfindet, entkommen könnte.

Die Verfolgung ist trotz mangelnder Action hochspannend gestaltet, die beiden Parteien wählen ganz unterschiedliche Routen. Miller gestattet seinem Helden und seinen beiden Häschern eine vorzeitige Begegnung, denn die drei Personen befinden sich einmal zufällig am gleichen Ort – sie erkennen sich dank sorgsam gestalteter Umstände nicht.

Das ist einmal hochspannend, außerdem nutzt der Autor es für eine kleine Erzählfinte: Lacroix findet auf dem Tisch in seinem Gastzimmer, das er immer mal wieder mit einem anderen Gast teilen muss, das Wort »NADA«, auf Spanisch heißt das »Nichts«. Er kann sich darauf keinen Reim machen, der Leser schon, einen ziemlich umfassenden sogar, angesichts dessen, was er bis dahin schon weiß.

Für Lacroix hingegen hat das Wort »NADA« in diesem Moment eine ganz andere Bedeutung im Sinne einer bedeutungsschwangeren Zeichens: Er hat im Norden neue Menschen kennengelernt, darunter Emily, die ein Augenleiden hat, das sie erblinden lässt. Eine durchaus gefährliche Operation könnte Abhilfe schaffen oder schwerwiegende Folgen haben.

Natürlich kommt er, der Augenblick, das sich das »NADA« in »ALGO« verwandelt, die Stunde der Wahrheit. Mehr aber werde ich hier nicht verraten, denn Die Korrektur der Vergangenheit ist bei allem anderen auch wegen der lange offengehaltenen Leerstellen ein ungeheurer Lesespaß und Genuss. Ein Fest mit einem hochdramatischen Showdown und einem Schlusskapitel, dessen Sinn sich erst mit Blick auf den Originaltitel (Now We Shall Be Entirely Free) erschließt.

Hilary Mantel kann in ihrem Lob, »Millers Schreiben sei eine Quelle des Staunens und der Freude«, nur nachdrücklich zugestimmt werden.

[Rezensionsexemplar]

Andrew Miller: Die Korrektur der Vergangenheit
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
Paul Zsolnay Verlag 2023
Gebunden 480 Seiten
ISBN: 978-3-552-07338-8

Florent Silloray: Capa

Eine gelungene Graphic-Novel über den weltberühmten Kriegsfotografen, man erkennt seine Bilder wieder, aus einer anderen Perspektive. Cover Kenesbeck-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Seit dem herausragenden Roman Der Schlachtenmaler von Arturo Peréz-Reverte bin ich für das Thema Kriegsfotographie sensibilisiert. Robert Capa, bürgerlich Endre Friedmann, geboren 1913 in Budapest, war wohl einer der bekanntesten Könner seines Fachs. Die Graphic-Biography von Florent Silloray zeichnet das Leben des Kriegsfotographen überwiegend linear nach, einzelne Rückblenden sind eingestreut.

Was für ein Lebensweg! Die Bilderzählung setzt 1936 ein, als Robert Capa von seiner Freundin Gerda erfunden wird, um das Leben in bitterer Armut durch einen Trick zu beenden: Endres soll vorgeben, er wäre ein amerikanischer Fotograf, Gerda mimt dessen Agentin. Damit soll es gelingen, die Tarife anzuheben, die Fotograph Endres bislang fordern kann.

Das Unternehmen klappt – zeitweise – und bringt wichtige Kontakte, Aufträge und Perspektiven. Im gleichen Jahr geht es nach Barcelona, hinein in den Spanischen Bürgerkrieg, den ersten der folgenden 18 Jahre, die Endres / Capa noch bleiben. Denn 1954 wird er bereits sterben, in Indochina, dicht an der Front, im Kampfeinsatz mit einer französischen Einheit, bei dem er auf eine Mine tritt.

Die Zeit dazwischen mit ihren globalen Kriegshandlungen erlebt der Leser dieser Graphic-Biography recht atemlos, dank der verknappten, unpathetischen, ereignisorientierten Darstellung. Es gibt Auszeiten, vor allem in Hollywood, als Capa heimlich mit dem Weltstar Ingrid Bergmann liiert ist, aber auch später in Frankreich, als es ihm gelungen ist, eine Fotoagentur zu gründen, um die individuelle Abhängigkeit des Kreativen von den Zeitungen zu brechen.

Die Schattenseiten dieses Mannes bleiben nicht verschwiegen. Alkohol, Kartenspiel mit hohen Spielschulden; sein Dämon in Gestalt des tragischen Schicksals Gerdas, das ihm eine Bindungshemmung hinterlässt. Silloray breitet das vor den Augen des Lesers ebenso aus, wie die grauenhaften Erfahrungen, die Capa 1944 in der Normandie macht.

Natürlich ist sein berühmtes Bild vom sterbenden Milizionär auf dem Schlachtfeld des Spanischen Bürgerkrieges zu sehen – aber aus einer ganz anderen Perspektive, die den Fotographen bei seinem Schnappschuss zeigt. Nicht nur das ist großartig, denn auf eine ganz besonders gelungene Weise fängt Silloray das Leben dieses Mannes ein, der eben auch ein Migrant war, wurzel- und staatenlos.

Florent Silloray: Capa
Knesebeck 2017
Hardcover 90 Seiten
ISBN: 978-3-95728-067-1

Javier Marías: Dein Gesicht morgen

Was für ein genialer Roman! Ich habe mir bewusst Zeit gelassen für die Lektüre dieses 1.600 Seiten starken Opus Magnum und es hat sich gelohnt. Cover Fischer-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Ich stelle mir den Leser als Baumstamm vor, der in einem gewaltigen Fluss treibt, den Dutzende von großen, hunderte von mittleren und kleinen und ungezählte unsichtbare Zuflüsse speisen. Gemächlich treibt der Leser mit der Strömung dem Meer entgegen, während er voller Staunen beobachtet. Nicht nur, was an den Ufern vorüberzieht, sondern was eingespeist wird, Dinge, die im wahrsten Sinne des Wortes weithergeholt sind.

So ließe sich meine Lektüre des Opus Magnum von Javier Marías am besten beschreiben. Der 2022 verstorbene Autor hat mit Dein Gesicht morgen ein gewaltiges Werk geschaffen, für das der Begriff »ungewöhnlich« nicht annähernd ausreicht. Eine Handlung gibt es auf den rund 1.600 Seiten auch, sie wäre in wenigen Sätzen erzählt.

Marías lässt aber den Gedanken und Assoziationen seiner Hauptfigur freien Lauf und diese nutzen den Freiraum für ausgedehnte Exkursionen, von denen sie bisweilen erst nach einigen Kapiteln zu dem zurückkehren, was man Handlung nennen könnte. Die Verknüpfungen sind bisweilen verblüffend.

Auf der Suche nach einer Person dringt der Erzähler in eine Damentoilette ein, ein schönes Gesicht lässt ihn über ausgedehnte Umwege auf den Gedanken kommen, die Frau hätte ihrem Aussehen etwas nachgeholfen; eine Gedankenkette windet sich weit hinein in Zeit und Raum, um bis zu der SS-Größe Reinhold Heydrich vorzudringen. Das Bindeglied: Botox. Botulinum Toxin. Für den einen tödliches Gift, für die andere ein Faltenglätter.

Was wäre ein Opus Magnum ohne Thema? Mit Heydrich ist bereits ein wichtiger Fingerzeig gegeben, um was es geht. Gewalt. Irgendwann stellt eine Person aus dem Umfeld die banal klingende Frage, warum man nicht einen anderen Menschen schlagen, ihn töten könne. Ja, warum eigentlich nicht? Warum sollte man nicht brutale, menschenverachtende Gewalt ausüben?

Es geht um die Schatten des menschlichen Lebens, der Kriege, die geführt werden und wie das geschieht. Natürlich liegt der Gedanke an den 11. September 2001 nahe, in dessen Folge die USA zwei Angriffskriege führten und selbst tief in den Schatten hineinglitten – etwa durch Abu Ghraib. Dein Gesicht morgen weiß dazu eine Menge zu erzählen, gerade auch einem Baumstammleser, der vorübertreibt und staunt.

Ganz so leicht lässt der Autor den Leser nicht entkommen. Er treibt nicht einfach, gemächlich ins Meer. Der letzte des dreiteiligen Werkes ist handlungsstärker, um im Bild zu bleiben: Die Ufer rücken nahe, der Flußlauf beschleunigt sich, Steine liegen im Flussbett und verwirbeln das Wasser, man läuft Gefahr, sich zu verletzen – ehe ganz am Ende die Dinge vom Anfang erneut aufgegriffen werden, ein riesiger Bogen, der sich über die ganze Handlung hinwegschwingt, wieder den Boden berührt.

Javier Marías: Dein Gesicht morgen
aus dem Spanischen von Elke Wehr und Luis Rub
FISCHER  2022
Taschenbuch 1632 Seiten
ISBN: 978-3-596-70344-9

Leonardo Padura: Wie Staub im Wind

Ein großer Roman des kubanischen Schriftstellers, der eines der zentralen Themen unserer Zeit berührt: Migration. Cover: Unionsverlag. Bild: Canva.

Dieser Roman ist wie ein Paket, kunstvoll verschnürt, verklebt und darunter viele Schichten, Kartons und Kästchen. Das alles öffnet sich Seite für Seite vor den Augen des Lesers. Ein Enthüllungsroman, der manchmal wirkt, wie ein Krimi ohne Detektiv oder Kommissar, und dabei viele Themen unserer Zeit berührt. Im Mittelpunkt steht eines der ganz großen: Migration.

Der Klappentext von Wie Staub im Wind gibt die Marschrichtung für die Leser vor, indem er auf »Geheimnisse« verweist, die nach langen Jahren ans Licht kämen. Trotz eines Toten, verschiedener Fluchten und einer zerbrechenden Freundesgruppe handelt es sich jedoch nicht um einen Krimi, statt Kommissar und Polizeiarbeit folgt man einem vielfach gewundenen Weg einer Handvoll von Kubanern.

Durch die wirklich bemerkenswerte Struktur des Romans, seine ineinander verschlungene Multiperspektivität und zeitliche Vielschichtigkeit, kann Padura Ursache und Wirkung, Schuld und Folgen wunderbar gegeneinander stellen und den Leser direkt erleben lassen, was die Figuren viele Jahre mit sich herumtragen. Insofern weckt das Wort »Geheimnis« vielleicht Erwartungen, die enttäuscht werden, denn Handlungsspannung ist rar.

Die wichtigsten Personen sind Teil eines »Clans«, eines Freundeskreises, der zersprengt wird. Die Gruppe gehört anfangs eindeutig zur »sozialistischen«, kubanischen Gesellschaft, die jedoch trotz ihres geographisch und politisch insularen Charakters fest verwoben ist mit der globalen Entwicklung. Der Mauerfall von Berlin wirkte dort wie der Einschlag eines Kometen, der Schockwellen ausgelöst und keineswegs überall Begeisterung ausgelöst hat.

»Schau doch, was in Berlin passiert ist. Wir haben geglaubt, den Deutschen dort ginge es gar nicht so schlecht. Weißt du, dass sie nicht bloß die Mauer eingerissen haben? Sie haben auch die Stasiarchive gestürmt, und jetzt kann jeder nachlesen, von wem er bespitzelt und verpfiffen wurde.«

Leonardo Padura: Wie Staub im Wind

Auf Kuba wurde Fidel Castros Herrschaft nicht gebrochen. Da die Insel aber nach dem Fall der Sowjetunion allein im Weltgeschehen bestehen musste, gelang das nur auf Kosten gewaltiger Entbehrungen für die Bevölkerung und unter Einsatz repressiver Mittel. Die Kubaner gehören in gewisser Hinsicht zu den Verlierern, ja: Opfern des Mauerfalls.

Selbstverständlich ist Wie Staub im Wind eine scharfe Kritik an den politischen Verhältnissen auf der Insel, die – ideologisch betoniert – für die Bevölkerung Jahre an Elend und Leid mit sich brachten. Hunger, schlechte medizinische Versorgung, grassierende Korruption, wirtschaftliche Stagnation, Verfall, Auswanderungs- und Fluchtwellen – alles wird anhand der Lebensläufe der Protagonisten hautnah erfahrbar.

Warum verließ jemand sein Heimatland, ohne es zu verlassen?

Leonardo Padura: Wie Staub im Wind

Und doch geht Padura gleich mehrere Schritte weiter, manchmal mit haarsträubend direkten Äußerungen seiner Figuren, die aufgrund ihrer Schroffheit zum Nachdenken veranlassen. Es sei zu einfach, alles auf den Kommunismus zu schieben, meint eine von ihnen, denn die Menschen blieben unabhängig vom System immer die gleichen. Die Kubaner seien der größte Fluch des verfluchten Kuba.

Jene, die es schaffen, das Land zu verlassen, werden keineswegs automatisch zu glücklichen Menschen; Flüchtlinge stehen unter Druck und sind ungleich. Wenn sich etwa ein Kubaner in Florida bewusst wird, dass er im Gegensatz zu einem Flüchtling aus Haiti Glück gehabt hat, weil er aus Kuba kommt, wird deutlich, dass auch das Elend Hierarchie kennt.

Anderes kommt bekannt vor, ähnelt jenem, das etwa Deniz Ohnde oder Nina Haratischwili in ihren Büchern schildern. Der Flüchtling, der in seinem neuen Heimatland wirtschaftlich Fuß fasst, die Sprache sehr gut bis perfekt beherrscht, heiratet und so augenscheinlich ein Musterbeispiel von Integration sein sollte, ist und bleibt fremd (und wird so wahrgenommen), trotz seiner geradezu absurden Mühen.

»Katalanischer als die Katalanen sein und die eigene schäbige Herkunft vor sich selbst verstecken. Sich bei alledem niemals eingestehen, dass er nie ein echter Katalane sein würde, weder für sich selbst noch für die radikalen Rebellen, mit denen Montse verkehrte.«

Leonardo Padura: Wie Staub im Wind

Diese Dinge sind nicht nur in Deutschland so, sie betreffen nicht nur die Einwanderer mit türkischen oder russischen Wurzeln hierzulande, sondern beschreiben ein globales Phänomen der Migration. Vielleicht ein guter Anlass, die Debatten um diese Frage aus der deutschtümelnden Sonderwegs-Befangenheit zu lösen.

Padura stellt gleich am Anfang Fragen, die möglicherweise Beifall von der falschen Seite auslösen könnten, wenn diese denn solche Romane läsen. Warum jemand sein Heimatland überhaupt verlasse, ohne es zu verlassen? An seinem neuen Lebensort, Florida, ausschließlich die Gesellschaft von Kubanern, kubanische Kultur, Sprache usw. suche, in einer Art Parallelgesellschaft lebe, wie das Phänomen in Deutschland genannt wird.

So kamen sie letztlich nie endgültig im Exil an, blieben für immer auf der Flucht. Sie nährten sich von gehätschelten Erinnerungen und träumten das süße Trugbild einer Rückkehr, sei es tot oder lebendig. […] Wer hierher floh, wollte Flüchtling bleiben.

Leonardo Padura: Wie Staub im Wind

Ganz ähnliches kann man bei Haratischwili nachlesen. Faszinierend, dass etwas, das als typisch deutsch (und Versagen) wahrgenommen wird, im angeblichen Melting Pot USA ebenfalls anzutreffen ist. Und die Frage, früh im Roman gestellt, bekommt eine ganze Reihe von sehr unterschiedlichen Antworten, die allesamt menschlich sind und damit zwingend unbefriedigend.

Apropos unbefriedigend: Zu den wenigen Kritikpunkten an Wie Staub im Wind gehört ausgerechnet der »Clan«. Die Gruppe, die an mehreren Stellen als verschworener Haufen bezeichnet wird, habe ich dem Autor nicht wirklich abgenommen. Eigentlich sind die Fliehkräfte von Anbeginn an klar, ebenso die Bruchlinien, während das Verbindende seltsam unscharf bleibt. Das ist angesichts der großen Stärken des Romans aber zu verschmerzen.

[Rezensionsexemplar, daher Werbung]

Leonardo Padura: Wie Staub im Wind
aus dem kubanischen Spanisch von Peter Kultzen
Unionsverlag 2022
Hardcover 528 Seiten
ISBN 978-3-293-00579-2

Leonardo Padura: Adiós Hemingway

Leonadro Padura hat den amerikanischen Schriftsteller in den Mittelpunkt dieses Romans gestellt, die Ermittungen durch Mario Conde sind Beiwerk – sie geben aber die Möglichkeit, den Literatur-Giganten und sein Werk zu kommentieren. Wunderbar! Cover Unionsverlag, Bild mit Canva erstellt.

Der amerikanische Schriftsteller Ernest Hemingway ist mir fremd. Ein einziges, kümmerliches Buch habe ich von ihm gelesen. Ich kann nicht einmal behaupten, »A Farewell to Arms« hätte mir nicht gefallen, im Gegenteil: Soweit ich es nach mehreren Jahrzehnten noch in Erinnerung habe, mochte ich das Buch.

Ich glaube mich sogar an eine spezifische Textstelle zu erinnern, in der Hemingway seiner Hauptfigur Gedanken über die Kampfkraft von Österreichern (Operettenarmee) und Deutschen (gefährlich) andichtet. Ein Erinnerungsfetzen über eine so lange Zeit ist gewöhnlich ein untrügliches Zeichen dafür, dass ein Buch bei mir etwas hinterlassen hat.

Je mehr man beim Schreiben eigene Wege geht, umso einsamer wird man.

Leonardo Padura: Adiós Hemingway

Und trotzdem Funkstille. Auch in anderen Romanen, die ich bislang gelesen habe, tauchte der Name Hemingway sehr selten auf. Das hat sich jüngst geändert.  Steffen Kopetzky lässt in „Propaganda“ seinen Protagonisten John Glueck mit dem Großmeister der US-Literatur im Jahr 1944 nahe Paris zusammentreffen.

Das geschieht zu einem Zeitpunkt, da dieser bereits »fett« geworden ist und zu straucheln beginnt, auf der Suche nach dem großen Roman über den Zweiten Weltkrieg, dem amerikanischen »Krieg und Frieden«. Trotz der Zwischentöne ist dieser Hemingway noch lichtumflort, seine Tragik beginnt sich nur abzuzeichnen, ganz im Gegensatz zu »Cheminguey« im Roman »Adiós Hemingway« von Leonardo Padura.

Die lange Auffahrt zu dieser Buchvorstellung sei mir verziehen, aber im Kern geht es Padura um den Schriftsteller, auch wenn er das ganze hinter einem sehr durchsichtigen Wandschirm namens Kriminalfall verbirgt. Der Autor reaktiviert seinen in Frührente gegangenen Ermittler Mario Conde und schickt ihn auf die Suche nach dem Mörder eines Toten auf der Finca Virgía, Hemingways Residenz auf Cuba.

Nun war er ein beschissener Privatdetektiv in einem Land, in dem es weder Detektive noch Privatleben gab, mit anderen Worten: Er war eine schiefe Metapher in einer schiefen Wirklichkeit.

Leonardo Padura: Adiós Hemingway

Padura geht es in seinen Romanen immer um diese wundervoll formulierte »schiefe Wirklichkeit« unter der Zuchtrute des diktatorischen Regimes mit rostroter Farbe. Hemingway hat davon nichts mehr mitbekommen, zu seinen Zeiten auf der Insel waren Castro und Guevara ein fernes, sich näherndes Unwetter revolutionärer Umtriebe. Wenn also auf der zweiten Zeitebene des Buches von dem Titanen der amerikanischen Literatur die Rede ist, dann geht es um die Zeit vor der Revolution.

Wer sich politisch nicht auskennt, möge vielleicht einen kurzen Blick auf den entsprechenden Artikel bei Wikipedia werfen, um zu verstehen, wie mehrschichtig die Ambivalenz ist, mit der ein cubanischer Schriftsteller fast vier Jahrzehnte nach dessen Tod  dem amerikanischen »Gast« auf der Insel begegnet. Besonders dieser Umstand macht »Adiós Hemingway« für mich so lesenswert.

…wie sehr Hemingway in seiner naiven Eitelkeit zu einem Instrument in den Händen der stalinistisches Propaganda geworden war.

Leonardo Padura: Adiós Hemingway

Mario Conde ist zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Romans bereits in vier anderen Büchern auf Verbrecherjagd gegangen, ehe er den Job eines Polizisten geschmissen hat, schriftstellert (bis dahin unerfüllte Sehnsucht) und als Antiquar seine Brötchen verdient. Hemingway ist für ihn eine gewaltige Inspiration gewesen, bis er sich anlässlich der immer deutlicher werdenden Schattenseiten von ihm distanzierte; ihn zu verachten, ja fast zu hassen begann.

Ihm bietet sich nun die Gelegenheit, Hemingways langer (und explizit aufgeführter) Liste an Charakterschwächen eine weitere, schwerwiegende hinzuzufügen: Mord. Die Jagd nach den Hintergründen, die zum Tod der Person geführt hat, die auf dem Grundstück der Villa gefunden wurde, wird zum Kampf um das Erbe des Schriftstellers. Aber auch um  die Frage, ob man eine Gelegenheit nutzen oder Gerechtigkeit walten lassen will, und um den Platz, den der Testosteron-Schreiber erhalten soll.

Vor allem jedoch beschwerte ihn die Schuld, stets das Leben der Literatur, das Abenteuer der schöpferischen Kunst vorgezogen zu haben.

Leonardo Padura: Adiós Hemingway

Padura lässt Hemingway selbst zu Wort kommen, denn sein Roman hat zwei Zeitebenen. Für mich immer eine willkommene Erzähltstruktur. Die beiden Erzähllinien sind gut miteinander verknüpft, wer sich für den Mordfall interessiert, wird einen Hauch Spannung empfinden. Vor allem aber bietet es für Padura die unschätzbare Möglichkeit, seine Haltung zu Hemingway darzulegen.

Es soll nicht allzu viel vorweggenommen werden, aber sie ist natürlich indifferent. Padura hat sich dafür entschieden, die allerletzte Lebensphase Hemingways zum Leben zu erwecken, als der Lebenswandel massiv auf die Gesundheit und die Fähigkeit, etwas zu Papier zu bringen, durchschlug. Eine tragische Gestalt im Schatten seiner selbst.

Er hatte einen vom Leben besiegten Mann gesehen. Einen Monat später hat er sich erschossen.

Leonardo Padura: Adiós Hemingway

Was mich besonders angesprochen hat, ist der Aspekt des Schreibens. Von (fast) allen klischeehaften, naiven Vorstellungen ist »Adiós Hemingway« weit entfernt, Schreiben ist immer eine Art gewalttätiger Auseinandersetzung, wenn man nicht nur Worte aneinanderreiht, um dem Leser Handlungsspannung zu bieten.

Am Ende dieses kurzen und kurzweiligen Buches ist man als Leser reicher. Hemingway tritt in einer ganz besonderen Gestalt hervor, ein Schriftsteller, der den Nobelpreis nicht persönlich angenommen, aber auch nicht verweigert hat, ein Amerikaner, der in den USA nicht mehr leben konnte und auch nicht zum Cubaner wurde, zwar auf der Insel, aber nicht mit ihren Bewohnern lebte und sich nie in eine Cubanerin verliebte. Aber eben auch jenen, der den einfachen Menschen zuhörte, wenn er mit ihnen Zeit verbrachte.

Leonardo Padura: Adíos Hemingway
Aus dem Spanischen von Hans-Joachim Hartstein
Unionsverlag 2013
Broschiert 192 Seiten
ISBN: 978-3-293-20614-4

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