Alexander Preuße

Schriftsteller - Buchblogger

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Ann-Cathrin Harders: Kleopatra

Die ptolemäische Königin Ägyptens ist hinter Mythen, Legenden, verzerrender Sieger-Überlieferung und grotesken politischen Instrumentalisierungsversuchen verborgen wie die Grabkammern in den Pyramiden. Cover C.H.Beck, Bild mit Canva erstellt.

Filme sind zweifelsfrei wirkmächtiger als Bücher, insbesondere Sachbücher. So verwundert es nicht, dass ein monumentaler Hollywood-Streifen aus dem Jahr 1963 das Bild von Kleopatra bis in die Gegenwart prägt. Elisabeth Taylor in der Rolle der Königin, gewandet in ein Goldflügelkleid, mit schwarzem Bob und türkis-schwarzem Kajal hat jenes Bild geschaffen, das mehr als ein halbes Jahrhundert nachwirkt. In Deutschland ist daran auch das Leitmedium für antike Geschichte verantwortlich, die Comic-Reihe um Asterix und Obelix, die jenes Bild ebenfalls verbreitet.

Mit der historischen Kleopatra hat das ebenso wenig zu tun, wie der pompös inszenierte Einzug Kleopatras in Rom im berühmten Spielfilm mit Richard Burton. Wobei die Selbstinszenierung ein zentrales Merkmal ptolemäischer Herrschaft seit Alexander dem Großen war, der Filme also selbst diese völlig fiktionale (und allem, was man über Rom weiß, diametral widersprechende) Szene ein Körnchen historischer Fakten enthält. Mehr aber auch nicht, wie der Leser nach dem vorzüglichen Buch Ann-Cathrin Harders über Kleopatra. Ägyptens letzte Königin weiß.

Das gilt für alle Kleopatren, die in den vergangenen fünf Jahrhunderten geschaffen wurden. Im Kapitel mit dem schönen Titel »Viva la Diva!« führt Harders ihre Leser durch die Rezeptionsgeschichte der ägyptischen Königin, der immer grellere Blüten treibt, je näher man der Gegenwart kommt. Selbstverständlich gehört dazu auch die Instrumentalisierung. Ein gruseliges Beispiel ist die us-amerikanische Autorin Morgan Jenkins, die sich zur Besetzung eines neuen Kleopatra-Films mit Gal Gadot wie folgt geäußert hat:

Ich persönlich würde eine Kleopatra lieben, die dunkler ist als eine braune Papiertüte, weil das historisch genauer wirken würde.

RND 14.10.2020

Das ist intellektuelle Selbstentleibung. Bezeichnend, dass Jenkins auf die »Wirkung« abzielt und – frei von Sachkenntnis – die Behauptung in die Welt setzt, diese wäre »historisch genauer«. Schön zu erkennen ist, wie zugunsten der eigenen politischen Agenda die überlieferten Fakten auf groteske Weise ignoriert werden. Denn die Frage, welche Hautfarbe Kleoptra hatte, lässt »sich schlichtweg nicht beantworten«, wie Harders darlegt. Die Quellen geben es einfach nicht her. Trotzdem wird erbittert gestritten, was eine Menge über das Diskurs-Niveau der Gegenwart sagt, die dem Reiz des Schlichten, Einfachen, auf einen Aspekt Reduzierten gern erliegt.

Viel wichtiger als die Hautfarbe sind ganz andere Dinge. Aspekte, die sich etwa aus der sehr lückenhaften und einseitigen Überlieferung ergeben. Die Sieger schreiben die Geschichte und das waren die Römer, genauer gesagt: Octavian bzw. Augustus. Die ptolemäischen Herrscher/-innen Ägyptens hatten in der Endphase der Römischen Republik längst ihre Eigenständigkeit eingebüßt und waren auf einen römischen Patron angewiesen. Kleopatra stand auf der Seite von Octavians Gegner Antonius, sie war entsprechend Ziel heftigster Angriffe während der Auseinandersetzungen und in den Jahrhunderten danach.

Das so überlieferte Bild Kleopatras ist also nicht nur durch die neuzeitliche Rezeption verzerrt, sondern auch durch die zeitgenössische und kaiserzeitliche Überlieferung. Harders verweist darauf, dass die Person Kleopatras ein Ziel für Octavians Partei bot, um den Eindruck eines neuerlichen Bürgerkrieges zu übertünchen. In der Propaganda war sie (und nicht der ihr angeblich sexuell hörige Antonius) die eigentliche Gegnerin Roms, sie wurde zur tödlichen, traditionszerstörenden Gefahr stilisiert. Das erotisch aufgeladene Bild der märchenhaft schönen Verführerin ist ähnlich wirkmächtig für die Gegenwart wie der Taylor-Burton-Film.

Octavian wollte den Eindruck vermeiden, einen Bürgerkrieg zu führen, und rückte deshalb Kleopatra als externe Feindin, gegen die man sich rechtmäßig schützen müsse, ins Zentrum der Auseinandersetzung.

Ann-Cathrin Harders: Kleopatra

Die Frage der Hautfarbe schrumpft vor dieser Kulisse zu einer Petitesse. Wichtiger ist anderes. Welche Handlungsspielräume blieben einer ptolemäischen Königin in dieser prekären Lage ? Schon ihre Vorgänger hatten die Eigenständigkeit im Angesicht der militärischen Überlegenheit Roms und dessen gnadenloser Expansion testamentarisch aufgegeben. Das war nicht ungewöhnlich, zudem geschickter als etwa die testamentarische Vererbung Pergamons durch Attalos III. oder dem verzweifelten Auflehnen gegen Roms Hegemonie anderer.

Kleopatra hat tatsächlich eine bemerkenswerte Leistung vollbracht. Sie hat einerseits erstaunlich lange allein regiert, andererseits die realpolitischen Notwendigkeiten akzeptiert und sich an Rom auf persönlicher Ebene angelehnt, ohne sich zu unterwerfen. Harders beschreibt ihre Beziehung zu Caesar und Antonius über das romantisch-verkitschte Sexuelle hinaus als die eines Arbeitspaares. Man teilte das Bett, nicht die Herrschaft und arrangierte sich durch knallhartes Verhandeln entlang der jeweiligen Interessenlinien zu beiderseitigem Vorteil. Das entspricht dem antiken Bild einer idealen Ehe – obwohl Kleopatra weder mit Caesar noch Antonius offiziell liiert war.

»Arbeitspaar« ist weit entfernt vom Topos der hypererotischen Femme Fatale. Kleopatra wusste um die Pfunde Ägyptens mit seiner einzigartigen griechischen Polis Alexandria, dem Reichtum und der strategisch bedeutenden Stellung als Kornkammer und logistischer Basis. Ihr gelang es, die inneren Probleme zu bewältigen, Missernten und die traditionell ptolemäische Neigung zu blutigen Fehden um die Macht. So schuf sie das Fundament, mit den Vorzügen ihres Landes auf dem schwierigen geopolitischen Feld zu wuchern. Letztlich ist sie wie so viele andere historische Persönlichkeiten an einem starken Gegner und Zufällen gescheitert.

Die Quellen zeichnen das Bild einer kompetenten, vielsprachigen Führungspersönlichkeit, die den Aufgaben, eine so komplexes Reich wie Ägypten zu verwalten und zu regieren, durchaus gewachsen war.

Ann-Cathrin Harders: Kleopatra

Identität setzt sich aus vielen Aspekten zusammen, die durchaus widersprüchlich sein können. Die Reduktion auf einen Aspekt ist auch deshalb problematisch, weil das ein probates Mittel der großen totalitären Vernichtungsregime in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts war, Menschen auszugrenzen, einzusperren, auszubeuten und zu töten. Ann-Cathrin Harders gelingt es, Kleopatras persönliche Vielschichtigkeit einzufangen. Sie spricht bewusst von einer ptolemäischen Prinzessin und der Königin Ägyptens, nicht von einer ägyptischen Prinzessin bzw. Königin.

Das ist ein großer Unterschied. Die Ptolemäer haben bis zum Tod Kleopatras in einer Doppelrolle über Ägypten regiert. Sie waren »hellenistische basileis und ägyptische Pharaonen«. Einerseits war eine Anbindung an die Eliten des Reiches, namentlich der Priester, unerlässlich, um überhaupt herrschen zu können. Andererseits wurde das griechische Erbe in ptolemäischer Ausprägung gehegt. Allein Alexandria, das in einem eigenen Kapitel als bis dahin unübertroffener urbaner Stern der vorchristlichen Antike geschildert wird, spricht Bände: Es handelte sich um eine griechische Polis.

Die inzestuöse Heiratspolitik der Ptolemäer gehört ebenfalls dazu, sie ist Teil einer Inszenierung als Götter. Alexandria bildete die Bühne für eine ebenso pompöse wie atemberaubend prächtige und verschwenderisch Selbstdarstellung von Herrschern und Hof. Elementar war ein großes (Herrschafts-)Wissen, symbolisiert durch die einzigartige Bibliothek. Auch wenn die Überlieferung fragmentiert und durch die römische Siegerperspektive verzerrt ist, bleiben die ptolemäisch-griechischen Wurzeln als Faktum bestehen, das zentral für das Verständnis der Person ist: 

Kleopatra ist in mancher Hinsicht eine Ausnahme, ihre Herrschaft kam aber nicht aus dem Nichts, sondern fußte auf einer 300 Jahre alten Tradition und einem besonderen dynastischen Selbstverständnis und Herrschaftswissen.

Ann-Cathrin Harders: Kleopatra

Rezensionsexemplar

Ann-Cathrin Harders: Kleopatra
Ägyptens letzte Königin
C.H.Beck 2025
Taschenbuch 128 Seiten
ISBN: 978-3-406829468

Blogmonat Mai 2025

Im Monat Mai habe ich das mit Abstand dickste Buch in diesem Jahr gelesen, doch ist es das dünnste mit den schmalsten Texten, das mir am besten gefallen hat. Unbequem jenes über die Blutbäder in den USA, ein toller Krimi, eine spannende Sach-Graphic-Novel, Recherche-Lektüre und ein wichtiges Buch über eine Technologie, der keiner entkommt.

Vor einiger Zeit habe ich das Tagebuch eines Mannes beendet, der im 17. Jahrhundert in London lebte. Für gewöhnlich bezeichne ich so etwas als »Recherchelektüre«, was zunächst selbsterklärend erscheint. In diesem Fall wollte ich Impressionen eines Alltags in einer Großstadt erhalten, in der man nicht motorisiert und ebenso wenig mit einem Fahrrad unterwegs war.

Wichtig war mir, einen Eindruck der Fremdheit, des Trennenden zu bekommen. Tagebuchschreiber Samuel Pepys berichtet einiges, was dem Leser des beginnenden 21. Jahrhunderts völlig fremd ist. Manches mag man gar nicht glauben, doch hat Pepys problematische Aspekte seines Lebens, wie Korruption, Fremdgehen, Missbrauch mitso großer Offenheit notiert, dass es keinen Grund gibt, ihm Lügen zu unterstellen.

Aus der großen Masse an Impressionen werde ich nur sehr wenig tatsächlich in meinem Roman Opfergang – Piratenbrüder Band 7 konkret verwenden. Das Gelesene fließt eher indirekt ein, es bildet mit anderer Recherchelektüre ein Fundament, auf dem die fiktionale Geschichte mit ihren erdachten Figuren ruht. Es ist durchaus möglich, dass am Ende der Arbeit an Opfergang nichts wiederzufinden sein wird, was unmittelbar auf die Tagebücher von Pepys verweist.

Das ist gut so. Ein Roman ist ein fiktionales Werk, kein Sachbuch. Ich weiß, dass hierzulande gern die Frage gestellt wird, ob das Geschriebene in einem Historischen Roman denn stimme. Meine Antwort darauf lautet nein. Die Frage ist typisch für den Schulunterricht und hat mit Historiographie und Fiktion im Grunde genommen nichts zu tun. Geschichte »stimmt« nur in Teilen, der überwältigende Teil ist ein Konsens und gleichzeitige Infragestellungen dieser Übereinkunft.

Fiktion geht noch einen Schritt weiter und kreiert eine erzählte Geschichte mit erdachten Personen, deren Wurzeln in die Historiographie hineinreichen. Ich versuche mich von Geschichtsschreibung möglichst zu lösen, um die fiktionale Romanhandlung nicht zu sehr zu versachlichen. Ich mag keine Romane, die zu viel Sachwissen in den Vordergrund schieben, wie etwa See(kriegs)technik in den Hornblower-Büchern oder mannche Jugendbüchern, auf denen der Versuch geschichtlicher »Korrektheit« wie Mehltau liegt.

Ein anderes Problem ist, dass historisch überlieferte Dinge nicht glaubhaft wirken oder die Konventionen einen derart großen Wandel durchlaufen haben, dass Korrektheit schlichtweg Unlesbarkeit bedeuten würde. Das beginnt bei der Sprache, reicht über das Menschenbild und endet in der unangenehmen Erkenntnis, dass sich manche Dinge im Grunde nur wenig geändert haben, sondern die Verschleierung von Missständen geschickter geworden ist.

Im Mai ist mein jüngster Roman, Verräter – Piratenbrüder Band 6, erschienen. Es ist das große, dramatische Luftholen vor dem Schlussteil der Buchserie (Opfergang), der im kommenden Jahr erscheint. Für beide Bücher gilt das gerade Gesagte, wie auch für die anderen Teile der Buchserie um Joshua und Jeremiah.

Das dramatische Atemholen vor dem großen Finale der Buchserie um die Piratenbrüder Joshua und Jeremiah. Verräter – Piratenbrüder Band 6.

Kurzbesprechung der Mai-Bücher

Was preise ich den Tag, an dem ich Tony Hillerman und seine Buchreihe um die Navajo-Police für mich entdeckt habe! Auch der achte Teil, Sprechende Götter, ist rundum gelungen. Ein Toter neben Bahngleisen gibt Rätsel auf. Wer ist dieser Mann? Wie kam er dorthin? Und natürlich: Warum wurde er getötet? Joe Leaphorn bemüht sich um Aufklärung, während Jim Chee in anderer Angelegenheit in den Fall verstrickt wird: Ein Möchtegern-Navajo namens Highhawk mit indianischem Blut und Aktivist versucht mit spektakulären öffentlichen Aktionen die Aufmerksamkeit auf tausende Gebeine lenken, die im Museum (statt bestattet) liegen. Im fernen Washington suchen die Polizisten nach Antworten und geraten an einen professionell tötenden Killer. Toll erzählt, wunderbares Timing, Humor, ein interessantes Thema und (politisch-kultureller) Kontext, keine nervtötenden Show-Effekte oder jähen Twists, ebensowenig Gewalt oder Sex als Deckmäntelchen für fehlende Inhalte. Mit einem Wort: ein großartiger Kriminalroman.

Raumfahrt gehört zu meinen Interessen seit der Kindheit. Unvergessen das bebilderte Buch, in dem das US-Space-Shuttle als das »Arbeitspferd der 80er Jahre« angepriesen wurde – es kam anders, wie so oft bei Prognosen. Die Space-Opera in Gestalt von Romanen und Filmen taten ein Übriges, das Thema war und ist für mich interessant. Da die 2020er Jahre in Bezug auf die Raumfahrt, insbesondere die bemannte, absehbar einen Wendepunkt markieren, kommt die Graphic Novel Aufbruch ins Weltall* von Arnaud Delalande und Eric Lambert gerade recht. Die hochdramatische Phase des Wettlaufs zum Mond zwischen den USA und der Sowjetunion nimmt einen prominenten Platz ein, doch werden auch die kriegerischen Ursprünge der Raumfahrt (V2) und die politischen Rahmenbedingungen erzählt. Auch Fiction bekommt einen – kleinen – Platz im Buch, das sich am Ende der immer vielfältigeren Gegenwart widmet. Zahlreiche Nationen und die EU, finanzkräftige Investoren und Startups befeuern den Fortschritt massiv und machen das Geschehen zugleich unübersichtlich.

Wann immer es um Nino Haratischwili und ihr voluminöses Romanwerk Das achte Leben (für Brilka) ging, wurde es für mich ein wenig schwierig. Zwar konnte ich ihrem Die Katze und der General so viel abgewinnen, dass ich ihn trotz der unübersehbaren Schwächen für lesenswert hielt, doch war ich gegenüber den Lobeshymnen gegenüber dem anderen Roman skeptisch. Zum Glück habe ich mich dennoch an die Lektüre gewagt und bin nicht enttäuscht worden. Episch angelegt eröffnet der Generationenroman gerade für deutsche Leser, die allzu sehr auf Russland fixiert sind, eine neue Perspektive. Ausgesprochen interessant und geschickt inszeniert werden die vielfältigen Lebenswege einer georgischen (na, wer weiß auf Anhieb, wo Georgien liegt?) mit der Geschichte des Russischen Zarenreiches, der Sowjetunion und schließlich des unabhängigen Georgiens erzählt. Auch wenn der Erzählung am Ende ein wenig die Spannkraft ausgeht, ist der Roman einfach großartig und gerade wegen seines Umfangs lesenswert. Der heimliche Star ist die Schokolade, ein Hauch magischer Realismus inmitten dieser brutalen, menschenverachtenden Knochenmühle des bolschewistisch-stalinistischen Alptraums.

Künstliche Intelligenz ist in aller Munde. Auch ich habe davon gehört, ein wenig die Plauderroboter ausprobiert und festgestellt, dass sie bei meinem eigenen Schreiben keine Rolle spielen werden. In Romanen, wie etwa Das große Spiel von Richard Powers spielt die KI / AI eine zentrale Rolle. Doch wie weit und tiefgreifend diese Technologie, die sich rasant fortentwickelt, das Leben verändern wird, ist mir erst durch das Buch Künstliche Intelligenz von Manfred Spitzer vor Augen geführt worden. Niemand kann sich dem entziehen. Die Tragweite mancher Entwicklungen ist mit dem Wort „dramatisch“ nicht annähernd erfasst, es braucht keine Super-KI wie in den Terminator-Filmen, um die Menschheit an den Rand des Abgrunds zu bringen; die negativen Auswirkungen auf den Einzelnen und die Gesellschaft werden jetzt verursacht, befeuert durch grandioses Unwissen und darauf basierende Fehleinschätzungen. Gleichzeitig könnte KI eine Menge Positives bewirken. Könnte.

Die Tagebücher von Samuel Pepys sind von geradezu haarsträubender Offenherzigkeit. Das macht sie so lesenswert, so wertvoll. Die gravierende Unterschiede des Lebens vor fast vierhundert Jahren sind ebenso offenkundig wie bemerkenswerte Parallelen zur Gegenwart. Pepys versucht, seine Gelüste durch Gelübde in den Griff zu kriegen: Theater, Trinken, Frauen. Das gelingt manchmal einige Zeit, dann wiederum wird der Leser darüber informiert, wie er sich gehenlässt, viel Geld ausgibt, seine Frau betrügt und wegen allem ein fürchterlich schlechtes Gewissen hat. Korruption? Selbstverständlich! Pepys lebt und schreibt in den 1660er Jahren, unmittelbar nach der Cromwell-Zeit. Bewegte Jahre, kriegerische Auseinandersetzungen, der große Brand von London. Und doch sind es die Kleinigkeiten des Alltags, die Staunen machen. Man mag das oft gar nicht glauben, so grotesk klingt das Erzählte. Angesichts des Umfangs ist Das geheime Tagebuch ein langes Lese-Unterfangen, das denjenigen, der sich darauf einlässt, auf oft unterhaltende Weise in ein fremde und doch vertraute Welt führt.

Den Begriff Gulag kennt man, doch dürfte »Kolyma« vielen Zeitgenossen unbekannt sein. Es handelt sich um einen Fluss, fern im Osten Russlands, unwirtlich, kalt. Doch erzählt der Schriftsteller Warlam Schalamow in Durch den Schnee nicht von dem Fluss, sondern von einem Straflager, das bisweilen als das »brutalste« im generell menschenverachtenden und menschenvernichtenden Lagersystem unter Stalins Herrschaft bezeichnet wird. Der Untertitel ist neutral gehalten: Erzählungen aus Kolyma. Die kurzen Texte beleuchten schlaglichtartig das Vegetieren der Häftlinge in diesem Lager, das mit dem Leben wenig gemein hat. Die Impressionen und Reflexionen sind bedrückend und literarisch einfach ausgezeichnet. Dem Leser rückt das Grauen in einer klaren, unpathetischen Sprache näher, Schalamow führt auf diese Weise gekonnt vor, wie sich das angebliche (Arbeiter-)Paradies namens Sowjetunion als Hölle auf Erden realisierte. Es versteht sich von selbst, dass man nach einem Happy-End vergeblich sucht, unter Putin haben sich die nie ganz geschlossenen Tore der russländischen Verdammnis wieder weit geöffnet.

Das Buch hat mich bei einem Irrtum ertappt. Ich bin davon ausgegangen, mit einem Waffenverbot würde dem Problem der grotesk großen Opferzahl durch Schusswaffen in den USA ein Ende setzen. Theoretisch wäre das auch so, es ist reine Mathematik, dass mehr Waffen zu mehr Opfern führen. Praktisch wäre ein Waffenverbot keine Lösung, denn Millionen Amerikaner würden sich schlichtweg verweigern und dabei kräftig von Politik, Wirtschaft, Medien, Pressure- und Interessengruppen unterstützt. Exekutivorgane müssten das Verbot durchsetzen. Wie soll das bei 400 Millionen Schusswaffen funktionieren, wenn sich nur ein Teil ihrer Besitzer verweigern oder gar wehren? Paul Auster weist in seinem Buch Bloodbath Nation auf diesen Zusammenhang hin und zieht als Argumentationshilfe die unselige Prohibition heran. Es ist nicht die einzige unbequeme Sache in dieser Schrift, die angereichert ist durch zahlreiche, beklemmende, verstörende Fotos: ohne Waffen, Tote, Verletzte, Opfer, Täter – leere Orte des Verbrechens.

*Rezensionsexemplar

»Verräter« – Piratenbrüder Band 6

Nach dem Erfolg des Aufstands auf Castelduro beginnen die Problem erst und stellen die Piratenbrüder und ihre Freunde vor gefährliche Herausforderungen.

Ausgerechnet Jason Buckler als Hoffnungsträger? Als die Piratenbrüder und Pete Larsen dem Gasthauswirt und selbsternannten »Verwalter« der Insel Castelduro zu Beginn des Romans Chatou Piratenbrüder Band 2 erstmals begegneten, hätte das keiner von ihnen für möglich gehalten. Eine aasige Kreatur, ruchlos, heimtückisch und anpassungsfähig – es ist wenig verwunderlich, dass es Buckler gelungen ist, sich Lord Cornelius Thaddaeus Warrington anzudienen. Er erweist sich als vorzüglich geeignet als Oberaufseher über die versklavten Afrikaner.

Warum sollte ausrechnet jemand wie Buckler den Jägern von John Black helfen?

Henry, Pete und die Piratenbrüder haben ohnehin noch ganz andere Sorgen. Der Aufstand der Sklaven auf Castelduro endete nur mit großer Mühe in einem Sieg, an dessen Ende es beinahe zu einer bewaffneten Auseinandersetzung zwischen den Aufständischen und ihren Helfern gekommen wäre. Diese Gefahr ist keineswegs gebannt.

Mehr noch: Warrington wird mit seinen verbliebenen Linienschiffen irgendwann nach Castelduro zurückkehren und sein Eigen zurückfordern. Kämpfen käme angesichts der Übermacht einem Selbstmord gleich. Folglich sollten Henry und seine Getreuen die Insel schnellstmöglich verlassen. Damit würden sie Akono und die Aufständischen im Stich lassen, ein Dilemma, aus dem es keinen einfachen Ausweg gibt.

Verrat kennt viele Gesichter.

Verräter – Piratenbrüder Band 6

Was wirklich geschieht, übertrifft alle Befürchtungen und Erwartungen in jeder Hinsicht. Der Erfolg auf Castelduro erweist sich politisch für Henrys Ziele als Pyrrhus-Sieg, die Spanier entpuppen sich als unzuverlässige Verbündete. In London ist das zersetzende Gift der Lüge längst am Werk, inmitten einer aufgeheizten Stimmung, in der immer lauter ein Krieg gefordert wird. Vor allem anderen aber sind John Black und seine Piraten nicht müßig, was auch Joshua und Jeremiah zu spüren bekommen.

VerräterPiratenbrüder Band 6 ist das dramatische Luftholen vor dem großen Finale der Buchserie. Joshua muss sich beweisen, mit und ohne Waffe, Stück für Stück enthüllt sich eine bedrohliche Verschwörung, während die Piratenbrüder in einer längst vergessenen Festung nach dem letzten Puzzlestück des Rätsels um den Standort von John Blacks Stützpunkt fahnden.

Eine Leseprobe gibt es hier: Verräter

Das Taschenbuch (424 Seiten) ist bei Autorenwelt, Buch 7, geniallokal, Amazon & anderen Online-Buchhändlern sowie im lokalen Buchhandel erhältlich.
eBook exklusiv bei Amazon (Kindle und Kindle unlimited).

Bisher erschienen (auf das Cover klicken)

Blogmonat April 2025

Zum achtzigsten Mal nähert sich das Ende des Zweiten Weltkrieges, eine Graphic Novel skizziert in dramatischen Bildern den apokalyptischen Untergang. Zwei brillante Roman (und eine Enttäuschung), eine informative Abhandlung zu Hannah Arendt und vorzügliche über Leo Perutz sowie drei interessante Essays rund um das Schweigen. Ein feiner Lesemonat.

Verlage sind Unternehmen und handeln wie jedes andere Unternehmen auch. Sie sind keine Kultur- oder gar Bildungsinstitutionen, sie verfolgen primär Ziele, die aus betriebswirtschaftlichen Überlegungen hervorgehen. Gesellschaftliche Aspekte spielen eine untergeordnete Rolle. Es wird outgesourct, Kosten werden gesenkt (KI), Abläufe optimiert und aggressives Marketing (auf der Basis von Algorithmen) betrieben. Mit einem Wort: Ein Verlag macht im Kern das Gleiche wie etwa Amazon. Wirtschaftlichkeit ist dabei nichts Schlechtes, sondern das Fundament jeder Unternehmensexistenz.

Das sollte man im Auge behalten, wenn man sich mit dem Thema Verlage und Qualität von Literatur befasst. Verlage können mit Blick auf die Wirtschaftlichkeit keine Gralshüter literarischer Qualität sein, nicht nur Quell für Innovation, Progression oder Originalität. Ein Streifzug durch die Verlagsprogramme bestätigt das. Was dort an Ähnlichem und Austauschbarem präsentiert wird, ist bemerkenswert; inhaltliche Schmalspur-Massenproduktionen verpackt in knallige, ewig-gleiche Cover und farbenfrohe Buchschnitte gibt es reichlich. Umtost wird das alles von dramatisch-himmelstürmenden Lobesworten, unter »genial«, »brillant«, »Meisterwerk« oder »wichtig« geht es nicht.

Ist ein outgesourctes Lektorat für einen Verlag per se besser als eines für einen Selbstpublizierenden? Ich habe Zweifel. Doch selbst wenn das so ist, heißt »besser« nicht gut. Ein »besseres« Lektorat macht aus einer literarischen Ente noch lange keinen Schwan. Auch ein (freier) Lektor unterliegt wirtschaftlichem Druck, eine wie auch immer beschaffene literarische Qualität ist zwangsläufig zweitrangig. Das gilt erst recht für Übersetzungen, dicke Kostenbrocken in der Bilanz. Welcher Verlag wird der Verlockung der KI widerstehen, auch wenn das zu Lasten literarischer Qualität geht?

Und welchen Stellenwert kann Qualität in einer Welt haben, in der der fünfhundertste Aufguss der gleichen Geschichte noch immer Leser findet? Viele (international) erfolgreiche Buchreihen, deren Anfangsbände originell sind, erschöpfen sich in wiederholten Erzähl- und Handlungsmustern. Leser wollen nicht unbedingt überrascht, herausgefordert und schon gar nicht gegängelt werden. Sie suchen risikoscheu nach (scheinbarer) »Sicherheit«. Wer bei der Buchproduktion auf die Verkaufszahlen schaut, erliegt schnell der Versuchung, nur noch den vermeintlichen Leserwillen zu bedienen – bald mittels KI, die Bestseller vorhersagt.

Wer nun glaubt, ich sänge hier das Hohelied des Selbstpublizierens, irrt. Das wäre irrlichternder Nonsens, der eine sehr bequeme Weltsicht bedient, in der Gut und Schlecht einander gegenüberstehen müssen. Denkbar wäre ja auch Schlecht und Schlechter. Schon ein kleiner Streifzug durch Buchanfänge macht schnell manche Zumutung selbstpublizierter Bücher sichtbar. Auch Selbstpublizierer unterliegen den Mechaniken des Marktes, auch sie müssen auf die Kosten schauen. Die mantraartig vorgetragene Behauptung, ein Lektorat mache ein Manuskript besser, hilft wenig, wenn es nicht refinanziert werden kann.

Der Blick auf die Cover, Buchschnitte und bevorzugten Genres zeigt gerade auch bei Selbstverlegern einen erstaunlichen Konzentrations– und Konformitätsprozess. Die bisweilen lautstark behauptetet Progressivität und Diversität im Eigenverlagswesen wird gelegentlich auch unter Selbstublizierern als bloße Attitüde bekrittelt. KI wird von der Mehrheit – wie bei Verlagen – zur Kostensenkung und Ausstoß-Erhöhung verwendet, von Skeptikern gegenüber diesem Buch-Erstellen »Offenheit« eingefordert. Kritik begegnen viele KI-Schreiber mit einer Abwehrhaltung, die an Raucher bei Diskussionen um gesundheitliche Folgen des Tabakkonsums gemahnt.

Selbstverständlich gibt es Ausnahmen, Schattierungen sowohl bei Verlagen als auch bei Selbstpublizierern. Und das ist der Punkt: Die Kategorien »Verlag« oder »Selbstverlag« sind im Grunde irrelevant für jene, die nach Qualität, Originalität, Progressivität oder Relevanz suchen. Es ist ein Versuch, eine zunehmend unübersichtlichere Welt zu vereinfachen und diese Vereinfachung zu rechtfertigen. Man kann hier fündig werden und da, man kann hier enttäuscht werden und da.

Die Zukunft in Gestalt von KI, also Programmen, die sich entlang von Wahrscheinlichkeiten (!) hangeln und daher für einen dramatischen Konformitätsschub auf Seiten der Buchschreiber und -publizierer sowie der Leser sorgen werden, sieht auf beiden Seiten – pardon! – so richtig  sch***e aus.

Ich lese selbst aktuell ausschließlich Bücher aus Verlagen, meine Bücher veröffentliche ich jedoch selbst. Ein Widerspruch? Vielleicht. Vor allem ist es aber eine Frage der Zeit und damit der Ökonomie. Mehr als einhundert ungelesene Bücher, hunderte, die noch einmal gelesen (und auf dem Blog) vorgestellt werden wollen. Aus den Vorschauen suche ich mir zweimal im Jahr fünfzig bis sechzig Bücher heraus und versuche, mich auf fünf zu beschränken. Gelegentlich stöbere ich in selbstverlegten Werken, lese den Romanbeginn, irgendwann werde ich auch mal wieder eines vollständig lesen. Interessante Titel und Themen gibt es.

Fast vier Monate früher als geplant erscheint Verräter – Piratenbrüder Band 6. Es ist das dramatische Luftholen vor dem Finale. Das eBook wird exklusiv bei Amazon Kindle erscheinen und auch im Rahmen von Kindle Unlimited verfügbar sein, das Taschenbuch mit 424 Seiten gibt es wie üblich überall zu kaufen, wo man Bücher erwerben kann.

Kurzvorstellung der April-Bücher:

Vor ein paar Jahren las ich in der Sueddeutschen Zeitung einen Beitrag über Historische Romane. Zwei davon kaufte ich mir, neben Alejo Carpentier Die Explosion in der Kathedrale auch Der schwedische Reiter von Leo Perutz. Es ist kein Zeichen von Unbildung, diesen Namen nicht zu kennen. Perutz werde wenig gelesen, erfuhr ich in meiner Stammbuchhandlung. Ein Jammer, denn nach drei weiteren Büchern des Autors darf ich sagen: ein Großer. Ein Vergessener obendrein, wie man dem Buch Über Leo Perutz von Daniel Kehlmann entnehmen kann, das in der Reihe „Bücher meines Lebens“, herausgegeben von Volker Weidermann erschienen ist. Kehlmann ist ein engagierter Verfechter des vergessenen Autors Perutz. Seine paraphrasierende Annäherung an Nachts unter der steinernen Brücke zeigt sehr schön auf, warum das so ist. Perutz’ Hauptwerk ist höchst ungewöhnlich, ein Roman in Erzählungen, der auch etwas über seinen Schöpfer und sein tragisches Schicksal erzählt.

Auf den ersten, flüchtigen Blick scheint es sich bei Nachts unter der steinernen Brücke von Leo Perutz um eine Sammlung unzusammenhängender Erzählungen zu handeln. Einige Figuren tauchen jedoch mehrfach auf, was angesichts der Perspektivwechsel und Zeitsprünge vielleicht nicht sofort auffällt; der Ort des Geschehens bleibt jedoch gleich: Prag, um das Jahr 1600 herum, das Verhängnis des Dreißigjährigen Krieges wirft seinen langen Schatten voraus. Die Menschen selbst, vom Kaiser Rudolf bis hin zum reichen Juden Meisl treiben die Geschichte auf ihren untergründig, vielschichtig miteinander verflochtenen Lebenswegen voran. Durch die zerklüftete Form werden die Verbindungen auch für die Handelnden erst auf den zweiten, dritten Blick sichtbar, wenn es zu spät ist, der Schaden unwiderruflich angerichtet. Die Fiktion verweist auch darin auf die Wirklichkeit.

Mit der Graphic Novel Die letzten 100 Tage Hitlers* begibt sich der Leser auf eine Reise in den Mahlstrom des apokalyptischen Untergangs des so genannten »Dritten Reichs«. Das Buch setzt am 15. Januar 1945 ein, die Ardennen-Offensive ist krachend gescheitert, die Westalliierten stoßen Richtung Rhein vor, während die Rote Armee im Osten den Durchbruch erzwingt und bis an die Oder vorrückt. »Kriegführung bis fünf nach zwölf« nennen das Historiker sehr treffend. Wie das ausgesehen hat, zeigt die Graphic Novel in teilweise dramatischen Bildern. Immer wieder steht Hitlers aberwitziges Gerede im Hauptquartier kontrastierend zu dem, was in der realen Welt geschieht. Es war nicht nur Hitlers Krieg, die Eigeninitiative bei den unsäglichen Gewalt- und Mordtaten ist erschütternd. Ein Manko ist, dass die fürchterlichen Gewalttaten der Roten Armee gegenüber der deutschen Zivilbevölkerung außen vor bleiben. Doch ist der Rest nicht nur anlässlich des 80. Jahrestages ein sehr guter Beitrag, um einen schonungslosen Eindruck von der Realität im untergehenden »Tausendjährigen Reich« zu bekommen. 

Enttäuschend war der Roman Das große Spiel* von Richard Powers. Der vielversprechende Beginn weckte die Erwartung einer komplexen und vielleicht auch dramatischen Auseinandersetzung mit brandaktuellen Themen wie KI, Ökologie, Erderhitzung und (kolonialer) Ausbeutung. Vor allem der Ort, die kleine Insel Makatea im Pazifik, weckt die Vorfreude auf das Buch. Doch fokussiert sich die Erzählung auf die Freundschaft zwischen den Protagonisten Rafi und Todd, zu denen sich noch Ina gesellt. Vieles wird nur angetippt, alles bleibt sehr oberflächlich, sei es Schach, sei es das Startup-Tech-Wesen, verziert mit einer bisweilen überzogen wirkenden Sprache. Völlig losgelöst erscheint die Figur der Evelyne Beaulieu, die bis zum Ende seltsam künstlich, substanz- und gehaltlos wirkt. Die »Wissenschaft«, die sie angeblich betreibt, ist nur vorgeschützt, behauptet; stattdessen ist sie mehr eine fotogene Taucherin, deren langatmige Beschreibungen der Unterwasserwunder staunen lassen soll und doch furchtbar ermüdend ist.

Der Untertitel des Buches von Thomas Meyer über Hannah Arendt* bezeichnet sie als „Denkerin des 20. Jahrhunderts“. Schon nach ein paar Seiten wird der Leser damit konfrontiert, dass die Gedanken Arendts in der Gegenwart noch immer diskutiert werden, auf eine durchaus emotionale Weise umstritten sind. Nicht nur das geflügelte Wort von der „Banalität des Bösen“ ist bekannt. Fünfzig Jahre nach ihrem Tod scheinen die Überlegungen Arendts etwas für unsere Gegenwart zu sagen zu haben, insofern stellt sich die Frage, ob sie vielleicht auch eine Denkerin des 21. Jahrhunderts ist? Meyers Buch öffnet die Tür zur Person Hannah Arendt und ihren Werken. Notgedrungen sehr knapp, kann und soll das nicht die eigene Lektüre ersetzen, der Leser erhält einen Fahrplan, der schließlich auch keine Reise ersetzt.

Von Friedrich-Christian Delius habe ich bereits eine Reihe von Büchern gelesen, die Romane und längeren Erzählungen gefallen mir auch wegen ihrer großen, erzählerischen Dichte. Zwischen dem, was erzählenswert ist, schweigt Delius, wenn man so will. Dem Schweigen widmet der Autor ein ganzes Buch. Die sieben Sprachen des Schweigens enthält drei längere, essayhafte Beiträge, in denen es um das Schweigen geht. Delius berichtet über eine Schriftsteller-Tagung in Israel, auf der er einen Textauszug seines Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde vortrug, mit überraschenden Folgen. Im zweiten Teil geht es um einen Spaziergang mit Imre Kertész in Jena und die Gedankenschleife, die das auslöste. Der Schlussteil schildert Denkfolgen eines Delirs nach einer Operation. Der Leser bekommt in diesem Buch nicht nur Bedenkenswertes vorgesetzt, es schildert auch den Gang des Schreibens. Ganz nebenbei gibt es Glanzlichter, etwa Worte: »die Bequemdenker, die Begriffszufriedenen, die Klischeemaler«. Es ist das dritte Buch meines Lesevorhabens 12für2025.

Fabelhaft fabulierend ist der Roman Grand Tour von Steffen Kopetzky. Er schickt seine Leser auf eine nicht enden wollende Reise durch Europa, die Hauptfigur, Leo Pardell, nimmt nämlich in großer Not einen Job als Schlafwagenschaffner an. Eigentlich sollte er in Buenos Aires weilen, doch nur die willentlich um einige Stunden verstellte Zeit seiner Armbanduhr ist das Einzige, was den Trip über den Atlantik zumindest virtuell schafft. Die erzählte Wirklichkeit spielt sich in Europa, vorzugsweise in Zügen, Bahnhöfen, Hotels, Spielkasinos, der Erinnerung und weiten Gedankenflügen ab. Eine ganz besondere Uhr spielt in diesem verwickelten Geschehen eine zentrale Rolle: Die Handlung spielt 1999, der Jahrtausendwechsel naht und mit ihm die große Stunde einer Uhr, deren »Komplikation«, also mechanische Funktion, das Ereignis nachvollziehen kann. Auf ihrer Spur ist ein Sammler, dessen Weg Pardell kreuzt – wie so mancher anderer wundervoll gezeichneten Figur. Ganz am Ende bricht der Virus tatsächlich aus, in einem Lokal, auf dem Brenner, zur Jahrtausendwende. Neben Propaganda und Damenopfer ein weiterer, spektakulärer Roman von Steffen Kopetzky.

Blog Gestöber

Zu den Orten, die ich in den vergangenen Jahren oft aufgesucht habe, gehören Bücherschränke. In Göttingen gibt es zwar auch welche, doch dort komme ich selten vorbei; dafür in einem kleinen Ort bei Göttingen, den ich regelmäßig beim Wandern durchquere. Dort steht eine alte Telefonzelle mit Büchern, die für mich zumeist uninteressant sind und leider oft in einem schauerlichen Zustand.

Ein Hinweis, dass dies keine »Blaue Tonne« (für Altpapier) wäre, zeigt, wie manche Zeitgenossen ihre persönlichen (oder ererbten) Schätzchen mit wertvollen Büchern verwechseln. Ich habe also darauf geachtet, dass kein Buch aus meinen Regalen dort landet, das älter als die Nullerjahre ist. Von den mittlerweile mehr als 250 Büchern, die ich aussortiert habe, sind nur einige Dutzend in der Bücherzelle gelandet und zumeist innerhalb weniger Tage verschwunden. Sie haben also Leser gefunden – angesichts der Konkurrenz, ist das kein Wunder.

Daher bin ich sehr froh, diesen Bücherschrank entdeckt zu haben; ein weiterer ist zuletzt bei einer Wanderung jüngst hinzugekommen, der etwas besser sortiert ist. Dort werde ich sicher einmal ein Buch hintragen, wenn es wieder eines gibt, das sich aus meinen Regalen verabschiedet. Das ist eine zufriedenstellende Weise, sich von Büchern zu verabschieden. Die Mehrzahl wandert jedoch in den Müll bzw. in die echte Blaue Tonne.

Bei www.lesestunden.de gibt es eine Karte mit Bücherschränken, die einen raschen Überblick erlaubt, wo in der Nähe welche zu finden sind. Eine schöne und hilfreiche Sache, denn so habe ich zwei weitere Orte entdeckt, die ich bei meinen Wanderungen regelmäßig ansteuere und wo ich einen Bücherschrank finden kann. Sehr fein!

Arnaud Delalande, Eric Lambert: Aufbruch ins Weltall

Die Reise mehrerer Menschen zum Mond und zurück war ein dramatischer Prozess voller Rückschläge, immenser Kosten und einem Happy-End. Die Graphic Novel zeichnet diesen Weg nach, spart die militärischen Ursprünge der Raumfahrt (V2) nicht aus, schildert die Opfer und beschreibt, wie aus dem Zweikampf zwischen den USA und der Sowjetunion in der Gegenwart ein globaler Mehrkampf wurde.

Die ersten Lebewesen, die von der Erde ins Weltall gelangten, waren Tiere. Insekten, Affen, Katzen und eine Hündin namens Laika. Warum eine Hündin und kein Rüde? Weil die Hündin beim Pinkeln nicht ihr Bein heben muss und die Raumkapsel für das Tier kleiner sein konnte. Es sind solche Details, die Aufbruch ins Weltall besonders anschaulich machen. Laika war das erste Lebewesen, das die Erde umrundete und dafür einen hohen Preis bezahlte: Das Kühlsystem ihrer Raumkapsel versagte, die Hündin starb.

Das kleine Beispiel zeigt schon, wie Arnaud Delalande sein Werk über die Raumfahrt angelegt hat. Die dunklen Seiten werden nicht verschwiegen. Der Tod flog immer schon mit, ganz am Anfang stand er sogar im Zentrum der beginnenden Raumfahrt. Während des Zweiten Weltkrieges entwickelten die Deutschen um Wernher von Braun eine Rakete, die tausendfach gen London und Antwerpen abgeschossen wurde. Die Produktion forderte unter den dafür eingesetzten Häftlingen mehr Opfer als der Beschuss, glücklicherweise hatte die V2 keinen Einfluss auf den Kriegsverlauf.

Wernher von Braun spielte auch in der amerikanischen Raumfahrt-Geschichte eine zentrale Rolle, allerdings sollte man diese nicht überbetonen, denn bemannte Raumfahrt war und ist ein hochkomplexes, sehr teures, umstrittenes und entsprechend vielschichtiges Phänomen. Ein Einzelner hat in diesem Geflecht nur einen sehr begrenzten Einfluss. Politische Entwicklungen waren wesentlich wichtiger, im Falle der Raumfahrt der so genannte Kalte Krieg, zwischen den beiden Machtblöcken USA und Sowjetunion.

Am 16. Juni 1963 fliegt Walentina Tereschkowa für die Sowjetunion als erste Frau in den Weltraum.

Arnaud Delalande, Eric Lambert: Aufbruch ins Weltall

Überspitzt formuliert hätte es ohne die Sowjets möglicherweise bis jetzt keine Mondlandung gegeben. Über Jahre hinweg entwickelte sich ein Wettlauf zwischen beiden Systemen, der die jeweils andere Seite motiviert, Ressourcen in großem Umfang in die Entwicklung der bemannten Raumfahrt zu stecken und erhebliche Risiken einzugehen. Mehrfach bezahlten Menschen mit ihrem Leben für den Traum, die Erde zu verlassen, was neben den immensen Kosten für öffentliche Diskussionen über Sinn und Nutzen der bemannten Raumfahrt führte.

Die Graphic Novel Aufbruch ins Weltall zeichnet den Wettlauf zwischen der Sowjetunion und den USA nach, schildert die dramatischen Jahre, in denen die Amerikaner lange Zeit im Hintertreffen waren, ehe ihnen schließlich doch als Erste der Sprung zum Mond glückte. Mehrere Apollo-Missionen brachten Astronauten zum Erdtrabanten, die Beinahe-Katastrophe von Apollo 13 (ausgerechnet!) war Teil davon. Bislang schaffte es noch keine andere Nation, Menschen zum Mond zu senden, was sich in naher Zukunft ändern könnte.

Eng verflochten ist die Geschichte der bemannten Raumfahrt mit den politischen Ereignissen, die eine wichtige Triebfeder der stürmischen Entwicklung waren. Da wäre etwa das Drama um Kuba, Revolution, konterrevolutionäre Landung in der Schweinebucht und die haarsträubende Episode um die Stationierung sowjetischer Atomwaffen auf der Insel, was durchaus in einem Dritten Weltkrieg hätte münden können. Die rivalisierende Jagd nach dem ersten Menschen auf dem Mond war auch eine Art Ersatz für einen bewaffneten Konflikt.

Die 7 Astronauten der Mission STS-51-L verbrennen sofort.

Arnaud Delalande, Eric Lambert: Aufbruch ins Weltall

In den letzten Kapiteln beleuchtet das Buch die Gegenwart und die jüngste Vergangenheit der Raumfahrt, die wesentlich unübersichtlicher geworden ist. Mit China, Indien, Europa, Japan und anderen sind weitere Player hinzugekommen, die auf unterschiedlichem Niveau eigene Projekte verfolgen. Die blauäugige Phase der Kooperation, die sich in der International Space Station (ISS) niederschlug, ist längst einem mehr oder minder offen vorgetragenen Wettkampf gewichen, der immer stärker auch militärische Züge trägt.

Noch komplizierter wird die Raumfahrt durch private Investoren. Jüngst hat ein privat finanzierter, prominent besetzter Ausflug mehrerer Frauen ins All für Aufsehen und viel Kritik gesorgt. Im Schatten derartiger Ereignisse forschen und arbeiten zahlreiche Startups rund um den Globus eifrig an der Raumfahrt mit, während die Nationen oder internationale Unternehmungen Großprojekte wie Raumstationen, Basen auf dem Mond oder anderen Planeten bzw. Monden vorantreiben.

Sehr gut gefallen hat mir, dass die Verbindung Science und Fiction Eingang in Aufbruch ins Weltall gefunden hat. Delalande hat Phantastik-Autoren aus der weiter zurückliegenden wie auch der jüngeren Vergangenheit eingeflochten, auch den Brückenschlag zwischen Katastrophenfilmen (etwa um den verheerende Einschlag eines Meteoriten auf der Erde) und realen Bedrohungen sowie vorbeugenden bzw. akuten Abwehrmaßnahmen geschafft. Die Graphic Novel ist ganz wunderbar, vom Ende einmal abgesehen, das wie eine Discount-Version eines Pro-Raumfahrt-Werbefilmchen wirkt und man sich hätte sparen sollen.

Rezensionsexemplar

Arnaud Delalande, Eric Lambert: Aufbruch ins Weltall
Eine kurze Geschichte der Raumfahrt
Übersetzt von Anja Kootz
Knesebeck 2025
Gebunden, 192 Seiten
ISBN 978-3-95728-879-0

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