Schriftsteller - Buchblogger

Schlagwort: Politik (Seite 2 von 12)

Assaf Gavron: Everybody be cool 

Vor allem die erste Erzählung hat mir sehr gut gefallen, auch die zweite regt mit ihrem utopischen Charakter zum Nachdenken an. Cover Luchterhand, Bild mit Canva erstellt.

Wie so oft bei Erzählungen wird der Leser in die Handlung hineingestupst und muss sich erst einmal orientieren. Das erscheint einfach: ein Überfall! Okay. Aber warum erkennt »sie« nicht den »Gegenstand aus schwarzem Metall« in der Hand des Mannes, der mit seinem Ausruf in der Bank für Aufregung sorgt?  

Eine Pistole, für Zeitgenossen unserer Tage keine Frage, aber wohl doch für die orientierungslose Frau, die auch noch nachfragen muss, was ein Überfall ist. Sie wendet sich dabei an »Eiser«, flüsternd in ein Mikrofon. Wohl eine KI, denn die muss erst einmal »prüfen«, was auch in weniger dramatischen Momenten ungelegen kommt.  

Der sich daraus entwickelnde kurze Dialog ist komisch, zumindest für den Leser, der nicht nur den Informationsvorsprung besitzt, sondern auch unbedroht von einer Waffe ist. Außerdem muss er nicht dabei zusehen, wie die Anzeige des Betrages einer »Basisleistung«, wohl ausgezahlt in dieser »Bank«, rapide sinkt. Auf Null. Unverkennbar ein folgenschwerer Moment.  

Die Einsamkeit hatte ein neues Gleichgewicht geschaffen und es bestand wieder die Möglichkeit noch der Wunsch mit anderen zusammen zu sein.  

Assaf Gavron: Everybody be cool 

Doch sind die Folgen anderer Art, als erwartet. Die weibliche Hauptperson befindet sich in Isolation, allerdings in einer wesentlich verschärften Version dessen, was die Welt während der Corona-Pandemie erlebte. Überraschend gut scheint sich die Protagonistin mit ihrer Lage arrangiert, ja, sogar angefreundet zu haben.  

Die Isolation nimmt sie als neue, begrüßenswerte Wirklichkeit war, der Kontakt zur Außenwelt läuft über »Eiser«, jene KI, die zum Lebensbuddy geworden ist und alles regelt. Betreutes Leben, zumal der »Banküberfall« bei einer erfolgreichen Unternehmerin kein Problem darstellt, denn sie ist nicht auf die Basisleistung angewiesen.  

Merkwürdig erscheint zunächst, dass die Person in der Bank anwesend sein kann, trotz verschärfter Isolation. Die Lösung liegt auf der Hand: ein Avatar in einer Simulation. Ab diesem Punkt verschwimmen die klaren Linien, die Äußerungen über die Folgen der leistungslosen Geldverteilung an die Bevölkerung werfen Fragen auf, insbesondere bei jenen, die heute, in der Lebenswirklichkeit des Lesers einem bedingungslosen Grundeinkommen positiv gegenüberstehen.  

Das Recht, selbst zu entscheiden, verunsicherte und frustrierte.  

Assaf Gavron: Everybody be cool 

Was als munterer, kurioser Moment beginnt, berührt ganz grundlegende Fragen. Wäre die finanzielle Unabhängigkeit ein Schritt in die Freiheit oder eben doch nicht? Wer alles machen kann, muss sich immer noch entscheiden – das ist keineswegs einfach. Solche Gedanken kann man auch bei Timothy Snyder, Über Freiheit oder Ilko-Sascha Kolwalczuk, Freiheitsschock nachlesen.  

Warum überhaupt ein Banküberfall, wenn alle abgesichert sind? Autor Assaf Gavron geht noch einen Schritt weiter und lässt seine kurze Geschichte in einem kafkaesk-dystopischen Finale enden, nach einer sehr scharfen Wende scheint sich die Heldin dort wiederzufinden, wo sich Millionen in der Vergangenheit anlässlich der Verwirklichung einer Utopie, eines Paradieses auf Erden wiedergefunden haben.  

Auch in der zweiten, längeren Erzählung spielen die Themen Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit eine zentrale Rolle. Assaf Gavron spielt mit den Möglichkeiten, die ihm die in der Zukunft liegende Handlung bietet, und lässt seine Protagonisten grundverschiedene Einstellungen gegenüber dem neu etablierten System einnehmen.  

Doch eigentlich ging es um eine Frage der menschlichen Natur.  

Assaf Gavron: Everybody be cool 

Regulierung und Basiseinkommen definieren die gesellschaftliche Kulisse, vor der die Personen ihre ewigen Spiele spielen. Macht, Einfluss, Gier, Missgunst, Niedertracht – am Wesenskern des Menschen ändert sich nichts, trotz der großen Fortschritte bei der Verringerung des Wohlstandsgefälles in der Gesellschaft.  

Das gilt auch für die politischen Rahmenbedingungen. Im Jahr 2066, in dem die Erzählung Zement spielt, ist von den gegenwärtigen Konflikten keine Rede mehr. Es gibt ein Gebilde namens Middle Eastern Union, in dem offensichtlich eine ganze Reihe von Staaten aufgegangen sind. Und doch bleibt auch in diesem Frieden der Mensch seinem Wesen treu, dem unbedingten Streben nach Macht.  

Erzählerisch wirkt Everybody be cool! reifer, Zement ist ausschweifender und durch die Anleihen beim Krimi-Genre schroffer und zerklüfteter. Die Handlungsweise der Hauptfigur ist sprunghaft, manche Passagen neigen zu Redundanzen und insgesamt erliegt der Autor der Versuchung, das Geschilderte zu kommentieren. Das trübt den positiven Eindruck einer Erzählung, die einige wunde Punkte utopischer Vorstellungen berührt.  

*Rezensionsexemplar, besten Dank an Luchterhand / Bloggerportal

Assaf Gavron: Everybody be cool 
Zwei Erzählungen  
Aus dem Hebräischen von Stefan Siebers 
Luchterhand 2025 
Gebunden 192 Seiten 

Arnaud Delalande, Eric Lambert: Aufbruch ins Weltall

Die Reise mehrerer Menschen zum Mond und zurück war ein dramatischer Prozess voller Rückschläge, immenser Kosten und einem Happy-End. Die Graphic Novel zeichnet diesen Weg nach, spart die militärischen Ursprünge der Raumfahrt (V2) nicht aus, schildert die Opfer und beschreibt, wie aus dem Zweikampf zwischen den USA und der Sowjetunion in der Gegenwart ein globaler Mehrkampf wurde.

Die ersten Lebewesen, die von der Erde ins Weltall gelangten, waren Tiere. Insekten, Affen, Katzen und eine Hündin namens Laika. Warum eine Hündin und kein Rüde? Weil die Hündin beim Pinkeln nicht ihr Bein heben muss und die Raumkapsel für das Tier kleiner sein konnte. Es sind solche Details, die Aufbruch ins Weltall besonders anschaulich machen. Laika war das erste Lebewesen, das die Erde umrundete und dafür einen hohen Preis bezahlte: Das Kühlsystem ihrer Raumkapsel versagte, die Hündin starb.

Das kleine Beispiel zeigt schon, wie Arnaud Delalande sein Werk über die Raumfahrt angelegt hat. Die dunklen Seiten werden nicht verschwiegen. Der Tod flog immer schon mit, ganz am Anfang stand er sogar im Zentrum der beginnenden Raumfahrt. Während des Zweiten Weltkrieges entwickelten die Deutschen um Wernher von Braun eine Rakete, die tausendfach gen London und Antwerpen abgeschossen wurde. Die Produktion forderte unter den dafür eingesetzten Häftlingen mehr Opfer als der Beschuss, glücklicherweise hatte die V2 keinen Einfluss auf den Kriegsverlauf.

Wernher von Braun spielte auch in der amerikanischen Raumfahrt-Geschichte eine zentrale Rolle, allerdings sollte man diese nicht überbetonen, denn bemannte Raumfahrt war und ist ein hochkomplexes, sehr teures, umstrittenes und entsprechend vielschichtiges Phänomen. Ein Einzelner hat in diesem Geflecht nur einen sehr begrenzten Einfluss. Politische Entwicklungen waren wesentlich wichtiger, im Falle der Raumfahrt der so genannte Kalte Krieg, zwischen den beiden Machtblöcken USA und Sowjetunion.

Am 16. Juni 1963 fliegt Walentina Tereschkowa für die Sowjetunion als erste Frau in den Weltraum.

Arnaud Delalande, Eric Lambert: Aufbruch ins Weltall

Überspitzt formuliert hätte es ohne die Sowjets möglicherweise bis jetzt keine Mondlandung gegeben. Über Jahre hinweg entwickelte sich ein Wettlauf zwischen beiden Systemen, der die jeweils andere Seite motiviert, Ressourcen in großem Umfang in die Entwicklung der bemannten Raumfahrt zu stecken und erhebliche Risiken einzugehen. Mehrfach bezahlten Menschen mit ihrem Leben für den Traum, die Erde zu verlassen, was neben den immensen Kosten für öffentliche Diskussionen über Sinn und Nutzen der bemannten Raumfahrt führte.

Die Graphic Novel Aufbruch ins Weltall zeichnet den Wettlauf zwischen der Sowjetunion und den USA nach, schildert die dramatischen Jahre, in denen die Amerikaner lange Zeit im Hintertreffen waren, ehe ihnen schließlich doch als Erste der Sprung zum Mond glückte. Mehrere Apollo-Missionen brachten Astronauten zum Erdtrabanten, die Beinahe-Katastrophe von Apollo 13 (ausgerechnet!) war Teil davon. Bislang schaffte es noch keine andere Nation, Menschen zum Mond zu senden, was sich in naher Zukunft ändern könnte.

Eng verflochten ist die Geschichte der bemannten Raumfahrt mit den politischen Ereignissen, die eine wichtige Triebfeder der stürmischen Entwicklung waren. Da wäre etwa das Drama um Kuba, Revolution, konterrevolutionäre Landung in der Schweinebucht und die haarsträubende Episode um die Stationierung sowjetischer Atomwaffen auf der Insel, was durchaus in einem Dritten Weltkrieg hätte münden können. Die rivalisierende Jagd nach dem ersten Menschen auf dem Mond war auch eine Art Ersatz für einen bewaffneten Konflikt.

Die 7 Astronauten der Mission STS-51-L verbrennen sofort.

Arnaud Delalande, Eric Lambert: Aufbruch ins Weltall

In den letzten Kapiteln beleuchtet das Buch die Gegenwart und die jüngste Vergangenheit der Raumfahrt, die wesentlich unübersichtlicher geworden ist. Mit China, Indien, Europa, Japan und anderen sind weitere Player hinzugekommen, die auf unterschiedlichem Niveau eigene Projekte verfolgen. Die blauäugige Phase der Kooperation, die sich in der International Space Station (ISS) niederschlug, ist längst einem mehr oder minder offen vorgetragenen Wettkampf gewichen, der immer stärker auch militärische Züge trägt.

Noch komplizierter wird die Raumfahrt durch private Investoren. Jüngst hat ein privat finanzierter, prominent besetzter Ausflug mehrerer Frauen ins All für Aufsehen und viel Kritik gesorgt. Im Schatten derartiger Ereignisse forschen und arbeiten zahlreiche Startups rund um den Globus eifrig an der Raumfahrt mit, während die Nationen oder internationale Unternehmungen Großprojekte wie Raumstationen, Basen auf dem Mond oder anderen Planeten bzw. Monden vorantreiben.

Sehr gut gefallen hat mir, dass die Verbindung Science und Fiction Eingang in Aufbruch ins Weltall gefunden hat. Delalande hat Phantastik-Autoren aus der weiter zurückliegenden wie auch der jüngeren Vergangenheit eingeflochten, auch den Brückenschlag zwischen Katastrophenfilmen (etwa um den verheerende Einschlag eines Meteoriten auf der Erde) und realen Bedrohungen sowie vorbeugenden bzw. akuten Abwehrmaßnahmen geschafft. Die Graphic Novel ist ganz wunderbar, vom Ende einmal abgesehen, das wie eine Discount-Version eines Pro-Raumfahrt-Werbefilmchen wirkt und man sich hätte sparen sollen.

Rezensionsexemplar

Arnaud Delalande, Eric Lambert: Aufbruch ins Weltall
Eine kurze Geschichte der Raumfahrt
Übersetzt von Anja Kootz
Knesebeck 2025
Gebunden, 192 Seiten
ISBN 978-3-95728-879-0

Jakob Hein: Wie Grischa mit einer verwegenen Idee beinahe den Weltfrieden auslöste

Leipziger Messe, 1987, Franz-Josef Strauß schüttelt Erich Honecker die Hand. Die Nachricht vom Milliarden-Kredit an den wirtschaftlich in schwerer See befindlichen Staat schlug damals ein wie eine Bombe. Wie es dazu kam? Jakob Heins Roman bietet eine höchst unterhaltsame, heitere Erklärung. Cover Galiani Berlin, Bild mit Canva erstellt.

Frieden gibt es am Ende des Romans von Jakob Hein nicht, Freude und Eierkuchen hingegen schon. Grischa Tannbergs verwegene Idee löst trotz der weißen Friedenstaube auf dem Cover eben nicht einmal beinahe das von vielen ersehnte weltweite, dauerhafte Schweigen der Waffen aus. »Kunstvolles Warten« ist angesagt, ebenjene Disziplin, die der Leser bereits früh im Roman kennenlernt.

Die Handlung setzt mit dem Dienstantritt Grischas in der Staatlichen Planungskommission der DDR ein. Das ist jener Verwaltungsapparat, der für den Fünfjahresplan und damit die Ausrichtung der Planwirtschaft im real scheiternden Sozialismus zuständig war. Angeblich soll schon Georg Lichtenberg gewusst haben, dass Voraussagen schwierig seien, insbesondere wenn sie die Zukunft beträfen. Eine ganze Volkswirtschaft fünf Jahre im Voraus zu planen scheint schlichtweg größenwahnsinnig.

Auf Grischa wartet ein Arbeitsplatz, bei dem die große Herausforderung in jenem »kunstvollen Warten« besteht. Er ist für die »kleineren Bruderländer« der DDR zuständig, genauer gesagt für die DR Afghanistan. Drei Jahre zuvor waren sowjetische Truppen in das zentralasiatische Land einmarschiert, um das dortige kommunistische Regime unter Babrak Karmal vor dem Zusammenbruch zu bewahren.

Diese Abgründe werden im Buch nicht weiter erörtert. Für die Abteilung in der PlaKo, die sich um die freundschaftliche Zusammenarbeit mit diesem Bruderland kümmern soll, ist wichtiger, dass die wirtschaftlichen Beziehungen zu Afghanistan eine Einbahnstraße sind: Dort wird alles gebraucht, Fahrzeuge, Maschinen, Konsumgüter, Dünger, im Gegenzug hat das Land »nichts« zu bieten. Wie die DDR-Mark ist der Afghani nicht das Papier wert, auf dem er gedruckt ist.

Das Zeug ist das reinste Devisengold, pro Gramm, das davon verloren geht, rollt hier ein Kopf.

Jakob Hein: Wie Grischa mit einer verwegenen Idee beinahe den Weltfrieden auslöste

Aus dem »nichts« wird bei näherem Hinsehen ein »fast nichts«, denn Afghanistan hat immerhin »Schlafmohn und Cannabis« für den unersättlichen und zahlungskräftigen Weltmarkt zu bieten. Problematische Substanzen, ungeeignet für jede offizielle wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Afghanistan und DDR. Das sozialistische Werktätigenparadies hat laut eigenem Bekunden keinerlei Probleme mit Drogentoten (wie auch nicht mit Nazis), der Handel mit verfemten Mittelchen verbietet sich also.

Oder vielleicht doch nicht? Der Boden ist bestellt für eine groteske, aberwitzige und furchtbar komische Unternehmung, in deren Mittelpunkt ebenjenes Cannabis steht. Die Friedenstaube auf dem Cover trägt die Pflanze nicht umsonst sehr dekorativ im Schnabel. Wie immer überlebt der Plan nicht die erste Gefechts- respektive Realitätsberührung, am Ende steht kein Frieden, aber ein veritabler, rauschhafter Milliardenkredit aus dem Westen für die dem Bankrott entgegentaumelnde DDR.

Zeitgenossen hätten den Einschlag eines Kometen oder von Thors mythischem Hammer Mjöllnir kaum mit weniger Erstaunen aufgenommen, wie die Nachricht von der Offerte eines derart hohen Kredites für den ideologischen Feind jenseits des Eisernen Vorhangs – ausgerechnet durch den erklärten Kommunistenfresser Franz Joseph Strauß, für den die so genannte Entspannungspolitik der Sozialdemokraten ein blutrotes Tuch war.

»Was? Der Strauß?«, fragte Grischa.

Jakob Hein: Wie Grischa mit einer verwegenen Idee beinahe den Weltfrieden auslöste

Die Frage nach dem Motiv für diese merkwürdige Tat ist eine Leerstelle, ein gefundenes Fressen für Autor Jakob Hein und seine Leser. Er lässt Grischa ans Werk gehen. Zum Entsetzen seines Vorgesetzten ist der eifrige Jung-Aktivist nicht mit »kunstvollem Warten« zufrieden, sondern recherchiert, überdenkt und entwickelt eine tatsächlich verwegene Idee, um den Handel mit Afghanistan in Schwung zu bringen.

Medizinalhanf heißt das Mittel, das kaum weniger als ein Wunder vollbringen soll: den Bauern im Bruderland Afghanistan ein geregeltes Einkommen  bieten und der DDR dringend benötigte Devisen  beschaffen. Im Gegensatz zu Heroin oder Kokain rangiert Cannabis in den Amtsstuben des Sozialismus  auf dem Niveau von Alltagsdrogen á la Alkohol und Tabak. Man kann es also an der Grenze an Westler verticken. Das Drama nimmt seinen Verlauf, ein Wind des Wandels weht durch einen Grenzübergang und droht zu einem veritablen Sturm zu werden, der in Bayern auf einem verschwiegenen Bauernhof glücklich abgewendet wird.

Ist Jakob Heins Roman ein Märchen, geschichtsklitternd obendrein? Nein. Wie Grischa mit einer verwegenen Idee beinahe den Weltfrieden auslöste erzählt unter dem Deckmäntelchen grotesker Heiterkeit eine Geschichte von Subversion, er lässt seine Helden auf ihre Weise aus überkommenen, verkrusteten und gerontokratischen Zuständen ausbrechen. Vielleicht ist der Roman in diesem Sinne auch ein Handzettel für die nähere Zukunft?

Ganz großartig ist der Ansatz, den subversiven Impuls aus gutem Willen und staatskonformen Handeln mitten aus dem Herzstück des Staates DDR heraus entstehen zu lassen. Der aufgeplusterte Sozialismus entpuppt sich als völlig ruchlos nach dem Rettungsanker westlicher Devisen grabschender Moloch, der alle Werte längst verraten hat. Enttarnt wird er ausgerechnet durch einen, der an die Ideale geglaubt hat – oder hätte glauben können – und mit naivem Gutwillen die lächelnde Maske vom monströsen Antlitz reißt.

[Rezensionsexemplar]

Jakob Hein: Wie Grischa mit einer verwegenen Idee beinahe den Weltfrieden auslöste
Galiani, Berlin 2025
Gebunden, 256 Seiten
ISBN: 978-3-86971-316-8

Thomas Medicus: Klaus Mann

Das Zitat ist Programm: Die Todessehnsucht war (neben Drogensucht) jahrelanger Begleiter des ruhelosen Schriftstellers Klaus Mann. Sein natürliches Habitat war die Großstadt, er lebte ohne festen Wohnsitz in Hotels, Pensionen und bei Freunden. Cover Rowohlt Berlin, Bild mit Canva erstellt.

Zwei überväterliche Großschriftsteller an einem Tag, das war wohl zu viel für den ewigen Sohn.

Thomas Medicus: Klaus Mann

Todessehnsucht und Drogenmissbrauch gehörten zu den Wegbegleitern von Klaus Mann. Die Biographie von Thomas Medicus beginnt folgerichtig mit dem Ende, dem Suizid am 21. Mai 1949. Es war nicht der erste Anlauf, dem Leben mit einem Freitod ein Ende zu setzen, gar nicht zu reden von den zahllosen Gedanken an den Tod, der ewigen Sehnsucht nach dem Tod.

In seinen 42 Lebensjahren zwischen 1906 und 1949 erlebte Klaus Mann die dramatischen Brüche der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 1914, 1918 und insbesondere 1923 prägten ihn, der damit zur so genannten Kriegsjugendgeneration zählt. Die ihnen attestierten Attribute, Härte, Kühle, Verschlossenheit, Durchsetzungsfähigkeit waren Klaus Mann aber völlig fremd.

Gerade in den zwanziger Jahren lebte der Sohn des berühmten Thomas Mann und Neffe von Heinrich Mann auf schnellem, großem Fuß, sein natürlicher Lebensraum war die Großstadt, Theater, Amüsement, Clubs, Partys, Ausschweifungen, Sex, Alkohol, später immer mehr Drogen. Auftritte vor Publikum, auf der Bühne als Schauspieler oder Autor, der Hang zur Selbstinszenierung. Ein Dandy in perfekt sitzenden Anzügen, der sich bald als Dauerbewohner von Pensionen und Hotels durchs Leben schlug, immer in Geldnöten, oft alimentiert von seiner Mutter.

Die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts war eine Epoche auf Messers Schneide. Es gibt Menschen, die ein Zeitalter deshalb verkörpern, weil sie dessen Höhen und Tiefen, Irrrungen und Wirrungen, vor allem Gefährdungen bis in die letzte Faser durchleben wie durchleiden. Klaus Mann ist so eine Symbolfigur.

Thomas Medicus: Klaus Mann

Klaus Mann war hochsensibel, sehr verletzlich, fiel als Homosexueller aus dem gesellschaftlich als Norm akzeptierten Rahmen, insbesondere, weil er – anders als sein Vater – aus seinen homoerotischen Neigungen keinen Hehl machte. Zudem stand er als ewiger Sohn unter immensem Druck, ein Wettlauf als Schriftsteller mit dem übermächtigen Vater, den er nicht gewinnen konnte.

Dabei schrieb Klaus Mann mit großer Leichtigkeit und immenser Geschwindigkeit seine Werke. Biograph Medicus verweist darauf, dass die Detailarbeit, das prüfende Feilen und Durchforsten der Bücher, nicht zu den Stärken des Autors gehörten. Ihnen haftet oft etwas Flüchtiges an. Stoffe wie Alexander oder Sinfonie Pathetique sind weder bis ins Detail durchrecherchiert noch loten sie musikalische Tiefen aus. Sie haben eine stark autobiographische Note. 

Neben den Romanen und autobiographischen Texten schrieb Klaus Mann Bühnenstücke, Kurzprosa, Lyrik, aber auch Beiträge für Zeitungen, Journale, Anthologien, gemeinsam mit seiner Schwester Erika auch Reise- und Kriegsberichte. Er versuchte sich auch als Herausgeber. Obendrein gibt es unveröffentlichte Texte, etwa eine Biographie zu Horst Wessel – ein erstaunliches Projekt von Klaus Mann.

Seine anwachsende Liebe zu Frankreich bildete den Kern seiner Entwicklung zum kosmopolitischen Intellektuellen. Dass Klaus Mann 1933 nicht eine Sekunde zögerte, dem nationalsozialistischen Deutschland den Rücken zu kehren, hatte auch damit zu tun.

Thomas Medicus: Klaus Mann

Der schwerwiegendste Bruch folgte 1933 mit dem Machtantritt Adolf Hitlers. Aus dem freiwilligen Vagabunden wurde ein Exilant. Es war ein dramatischer Unterschied, auch wenn sich äußerlich das Umherziehen kaum änderte und Klaus Mann in Frankreich einen Ort hatte, an dem er sich – soweit möglich – wohlfühlte. Doch die Entwurzelung traf ihn schwer, er konnte nicht nach Deutschland zurück, das Gefühl des Ausgestoßenseins traf ihn wie alle anderen Exilanten.

Zu den Gefährdungen und Wirrungen der 1930er Jahre gehört das Drama, dass mit der stalinistischen Sowjetunion eine zweite, auf einer Vernichtungsideologie basierende Diktatur in Europa ihr blutiges Haupt erhob. Die Todfeindschaft zum Nationalsozialismus war das einzige Pfund, mit dem Stalins Reich wuchern konnte – bis zum Hitler-Stalin-Pakt 1939, der unter den ohnehin zerstrittenen Emigranten die bestehenden Gräben zu offner Feindschaft und Hass vertiefte.

Klaus Mann war kein Kommunist, eher ein idealistischer Schwärmer. Als Homosexueller gehörte er zu einer von den Linken wie den Rechten angefeindeten Gruppe; Bertholt Brecht hat sich in dieser Hinsicht mit bemerkenswert schäbigen Äußerungen hervorgetan.

Eine Reise in die Sowjetunion brachte Ernüchterung, die Klaus Mann im Tagebuch klar äußerte; öffentlich blieb er indifferent, obwohl Andre Gide, sein großer Leuchtstern unter den Denkern, mit bemerkenswerter Klarheit die Abgründe von Stalins Reich beschrieb. Familie ging vor Politik. Wegen Heinrich Manns (zutiefst naiver, von Stalins Schergen ausgenutzter) kritikloser Haltung gegenüber der stalinistischen Sowjetunion unterließ Klaus Mann ein klares Statement.

Was erste Jahrzehnte später zu den Grundelementen der Kritik am real existierenden Sozialismus gehörte, formulierte Gide bereits 1936/37 mit großer Klarheit.

Thomas Medicus: Klaus Mann

Einige Jahre später ergab sich für Klaus Mann daraus eine erhebliche Gefährdung. Als die USA nach langer Neutralität durch die Kriegserklärung Deutschlands und Italiens endlich gegen Hitlerdeutschland militärisch vorgingen, wollte er seinen Beitrag leisten. Aus körperlichen und vor allem politischen Gründen wurde er zweimal ausgemustert, vom FBI mehrfach durchleuchtet, verhört und nachtragenden Antikommunisten denunziert.

Klaus Mann befand sich in einer dramatischen Krise, hinter ihm lag ein demütigendes Scheitern mit seiner Zeitschrift Decision, hinzu kamen persönliche Rückschläge, Erkrankunge, die übermächtige Drogensucht und die immer stärker werdenden Todessehnsucht. Seine Schwester Erika ging zunehmend eigene Wege, die gefühlte Isolation wurde stärker, der Hemmschuh zum Suizid fiel weg. Die Teilnahme am Kampf gegen Deutschland sollte für einige Zeit zum Rettungsanker werden.

Klaus Mann erhielt in Uniform Aufschub. Er wurde amerikanischer Staatsbürger und Teil der US-Streitkräfte. Seine Kriegszeit verbrachte er in Nordafrika und Italien, direkt nach der Kapitulation der Wehrmacht fuhr er nach München, in die zertrümmerte Heimat, zu dem ebenfalls halb zerstörten Wohnhaus der Eltern. Es gebe keine Rückkehr, konstatierte Klaus Mann – man kann sich ausmalen, was diese Erkenntnis beim Strauchelnden auslöste.

Die Biographie ist das erste Buch aus meinem Lesevorhaben 12für2025

Thomas Medicus: Klaus Mann
Ein Leben
Rowohlt Berlin 2024
Gebunden 544 Seiten
ISBN: 978-3-7371-0154-7

Robert Habeck: Den Bach rauf

Das Zitat habe ich bewusst ausgewählt, denn verweist auf den zentralen Aspekt für den wirtschaftlichen Erfolg Deutschlands in den kommenden Jahren. Viele kluge und nachdenklich machende Beobachtungen gibt es in dem Buch von Robert Habeck zu lesen. Cover Kiepenheuer & Witsch, Bild mit Canva erstellt.

Ich nenne Heimat das Land, dessen Problem mich direkt angehen.

Robert Habeck: Den Bach rauf

Oft musste ich während der Lektüre von Den Bach rauf an Ilko-Sascha Kolwalczuks Freiheitsschock denken. Demokratie und Freiheit sind anstrengend. Bequem kann man es auch in einer Diktatur wie der DDR haben, denn dort wird einem vorgegaukelt, alles werde für einen geregelt. Das funktioniert, bis die Realität die Propaganda überholt, bis alles „den Bach runter“ gegangen ist.

Robert Habecks Schrift Den Bach rauf zielt auf diesen Punkt: Teilhabe. Das meint nicht, auf dem Sofa sitzend und binge-scrollend durch die Dopamin-Paradiese des Internets zu treiben, sondern an der Lösung von Problemen aktiv mitzuwirken. Ohne Aussicht auf Erfolg, wohlgemerkt, denn Probleme lassen sich oft nur teilweise oder auch gar nicht „lösen“, im Sinne von beseitigen.

Frustration ist Teil der Teilhabe. Wer sich also darauf einlässt, wird zwangsläufig mit Misserfolgen konfrontiert. Zu den großen Vorzügen des Buches Den Bach rauf gehört die Ehrlichkeit, mit der Robert Habeck die drohende Überwältigung durch eine Springflut existenziell bedrohlicher Probleme nicht nur nennt, sondern auch zugesteht, dass Gedanken an einen Rückzug dazugehören.

Wenn die Bürgerinnen und Bürger nicht mehr den Eindruck haben, dass sie auch selbst handeln können – und müssen, droht Resignation. Oder die Erwartung, dass der Staat alle Probleme löst.

Robert Habeck: Den Bach rauf

Die Erwartung, der Staat könne alle Probleme lösen, wird von anderen durchaus befeuert, Hand in Hand mit schlichten Schein-Lösungen und hausfrei gelieferten Sündenböcken, wenn es – wie zu erwarten – doch nicht klappt. In der DDR waren das „der Westen“ oder die USA, im Dritten Reich „die Juden“ oder „anglo-amerikanische Plutokratien“, heute sind es „die Ausländer“ oder „der Kapitallismus“ oder Bürgergeld-Empfänger.

Dieses Sündenbock-Muster funktioniert auch noch, wenn ganze Städte in Schutt und Asche fallen. Dolchstoß-Legenden, Lügenkaskaden und Schmutzkampagnen funktionieren ebenso, wie Anne Applebaum sagt. Ein Grund ist sicher, weil sie komplizierte, widersprüchliche Probleme verschlichten und bequeme, einfache Schein-Lösungen präsentieren.

Robert Habeck will einen anderen Weg gehen. Er möchte eigene Fehler nicht anderen aufhalsen, aus dem eigenen und fremden Scheitern lernen und unter Einschluss der Bürger herandrängende Probleme lösen. In diesem Sinne stellt er sich zur Wahl, in diesem Sinne ist auch dieses Buch verfasst, das darauf verzichten, vollendete „Lösungen“ zu präsentieren.

Aber in der (Ampel)-Regierung wurde viel Richtiges, ja Überfälliges auf den Weg gebracht.

Robert Habeck: Den Bach rauf

Fehler der Ampel-Regierung verschweigt Habeck nicht, Nachtreten findet nicht statt, auch bleibt es bei einem – sachlich völlig berechtigten – Hinweis auf die schwerwiegenden, strukturellen Mängel, die aus den sechzehn Merkel-Jahren resultieren. Draufhauen brächte – vielleicht – Stimmen, doch darum geht es in Den Bach rauf nicht.

Ein schönes Beispiel für das Zusammenwirken von Staat und Bürgern ist die Abwehr einer verheerenden Gasmangellage nach dem russländischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Zu den strukturellen Hinterlassenschaften der Merkel-Jahre gehörte die frappierende Abhängigkeit von billigem russländischem Gas, dem bis heute populistische Politiker auch aus Union und SPD öffentlich nachweinen, trotz des offenkundigem Erpressungspotenzials.

Eine Beteiligung der Bürger durch das Einsparen von Gas beim Heizen war zentral, um die drohende Malaise abzuwenden. Es hat funktioniert. Ein Erfolg, der heute, kaum zwei Jahre später, bei vielen in Vergessenheit geraten ist. Ein Zusammenbruch ist leicht zu erkennen, ganz anders ein abgewendetes Desaster – dazu gehört eine gewisse Anstrengung, womit wir wieder am Anfang sind.

Aber die erste digitale Revolution ist fast vollständig an Deutschland und Europa vorbeigegangen, und wenn wir nicht aufpassen, dann wird es mit der zweiten, die der künstlichen Intelligenz, ebenso laufen. Die großen Tech-Konzerne kommen alle aus den USA, China holt nun auf.

Robert Habeck: Den Bach rauf

Es wird gehandelt. Das ist die gute Nachricht. Es sind nicht alle und das ist auch nicht nötig. Nie macht sich eine Mehrheit auf den Weg, es ist immer nur eine Minderheit, die anderen warten ab und schließen sich dann dem Weg an, der sich durchsetzt. Ermutigung ist wesentlich, insbesondere, wenn sich die Auswirkungen des eigenen Handelns nicht (sofort) zeigen oder die berühmt-berüchtigten Friktionen (Clausewitz) auftreten.

An welchen Stellen Robert Habeck ansetzen will, um die Rahmenbedingungen so zu setzen, dass Deutschland eine Zukunft hat, wird aus Den Bach rauf deutlich. Es mangelt an Investitionen, die Schuldenbremse muss renoviert und Rahmenbedingungen müssen dafür geschaffen werden, dass nicht auch die nächste digitale Erneuerungswelle an Deutschland und Europa vorübergehen.

Wird das funktionieren? Es braucht Investitionen und das Bewusstsein, dass Kredite dafür nötig sind. Dem steht der populistische Unfug der „schwäbischen Hausfrau“ und ihrer angeblichen Sparsamkeit gegenüber, was bedauerlicherweise eingängig ist.  Hoffnung gibt, dass es ist nie eine Mehrheit für eine Revolution braucht, sondern eine Minderheit. Das gilt auch für alle anderen Entwicklungen.

Demokratien können sich nicht in schläfriger Sicherheit wiegen. Auch Deutschland ist nicht die uneinnehmbare demokratische, liberale, weltoffene, unerschütterliche Bastion. Wir müssen um und für unseren Rechtsstaat kämpfen und unsere Demokratie verteidigen.

Robert Habeck: Den Bach rauf

Besonders gut haben mir die klaren Worte zum Thema Autokratie, Desinformation und die davon für die Demokratie ausgehenden Gefahren gefallen. Habeck weiß um die Achse der Autokraten, er kennt die Problematik der zersetzenden Strategie „Flood the zone with shit“ (Steve Bannon), der sich auch Teile der Union bedienen und beruft sich unter anderem auf Hannah Ahrendt, wenn es um die Frage geht, wie man sich verteidigt.

Von überwältigender Bedeutung ist das, was Habeck zu Europa sagt. In den vergangenen Jahren ist Deutschland allzu oft einen Sonderweg gegangen, Nordstream (Schröder, Merkel), zögerliche Ukraine-Unterstützung (Scholz); das aufgeregte Gewese um Stromimporte aus Europa (Gas aus Russland war demnach okay) zeigt, wie selbstvergessen mit dem größten Pfund umgegangen wird, das Deutschland hat: die EU.

Der Leser kann dem Buch Den Bach rauf trotz seines handlichen Formats eine Menge bedenkenswerter Idee und Gedanken entnehmen. Wichtig ist: Entschieden ist noch nicht, ob Deutschland den Bach rauf oder runter geht.

Robert Habeck: Den Bach rauf
Kiepenheuer&Witsch 2025
Gebunden 144 Seiten
ISBN: 978-3-462-00896-8

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