Schriftsteller - Buchblogger

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Blogmonat Juli 2025

Ein letztes Mal der Blogmonat, ein Format, das ich nicht fortführen werde. Ein Glanzlicht im Juli war der historische Roman von Steffen Thome. Außerdem gab es eine sehr gute Graphic Novel zu Fritz Lang, zwei vorzügliche historische Werke und einen ausgezeichneten biographischen Roman.

Seit Jahresanfang baue ich meine Arbeit als Schriftsteller und Buchblogger um. Der Prozess ist noch im Gange, er begann schon 2024 und wird noch einige Zeit andauern. Mehr als drei Jahre habe ich in beiden Bereichen viele Erfahrungen gesammelt und einiges ausprobiert, natürlich immer wieder Veränderungen vorgenommen, Formate angepasst und erweitert oder zusammengestrichen.

Ein Umbau reicht weiter als eine Veränderung. So habe ich mich in den vergangenen zwölf Monaten von Facebook und Zombie-Twitter (aka »X«) auf Nimmerwiedersehen verabschiedet, das hochgehandelte Threads ist der nächste Kandidat. Dort habe ich alle Postings, Antworten und Likes gelöscht, da nicht alle interessanten Leute dort auch auf BlueSky aktiv sind, bleibe ich passiv einstweilen dort. Meine Accounts bei Goodreads und Lovelybooks habe ich ebenfalls gelöscht.

Aktiv bleibe ich nur bei BlueSky und mit Abstrichen Mastodon, hinzu kommt ein drastisch verringertes Engagement auf Instagram. Dort schreibe ich gelegentlich eine Kleinigkeit auf meinem Schriftsteller-Account, außerdem kurze Versionen zu Büchern für meinen Blog-Account. Die hektische Jagd nach Reichweite, zu der Metas Algorithmen antreiben, ignoriere ich einfach.

Die Arbeit füllt die Kassen eines höchst fragwürdigen Unternehmens mit abstoßenden Methoden, die Vorteile für mich sind minimal bis nicht messbar. Ich freue mich über das Interesse an Büchern, deren Lektüre mir gut gefallen hat oder die mir wichtig sind. Aber wie misst man eigentlich? Aufrufe und Likes sind kein Interesse, ein höchst flüchtiges Medium wie Instagram und Text schließen sich im Grunde genommen aus.

Für meine Schriftstellerei sind die Internet-Plattformen defacto bedeutungslos. Auch wenn Marketing-Profis etwas anderes behaupten, in meinem Fall gibt es nur marginale Buchverkäufe via SoMe. Zur so genannten »Buchbubble« gehöre ich glücklicherweise nicht, neben brauchbaren Tipps und Anregungen gerade zu Beginn meines Weges als notgedrungener Selbstpublizierer stößt man dort auf viel gedankenlosen Unsinn und die überall anzutreffenden menschlichen Abgründe.

Das Internet wandelt sich durch so genannte Künstliche Intelligenz massiv. Wenn Suchergebnisse, die auch jetzt schon problematisch genug sind, durch KI-Antworten ersetzt oder verwandelt werden, wird sich die virtuelle Realität noch weiter von der Wirklichkeit entfernen, Manipulation und weitere Konzentration werden voranschreiten. Wer ein wenig mit KI herumspielt, macht irgendwann die Erfahrung, wie grotesk vieles ist, was die Software ausspuckt.

Ein schönes Beispiel, das KI zwar künstlich ist, aber nicht wirklich „intelligent“. Die viel beschworenen Halluzinationen der Nachahmer-Software, die sich an Wahrscheinlchkeiten entlanghangelt, sind abstrus, werden aber wohl irgendwann als Wirklichkeit gelten.

Schon jetzt ist es so, dass Internet gleichbedeutend mit Internet-Plattformen (aka »Soziale Medien«) gebraucht wird. Der Surfer hält sich vorwiegend dort auf. Was ist aber mit dem Rest? Konkret: Was ist mit meinem Blog? Kann das alles weg? Möglicherweise. In meinem Fall bleibt es allerdings dabei, dass das Bloggen über Bücher zum Teil meines Lesens geworden ist. Ausgelesen habe ich ein Buch oft erst dann, wenn ich mich damit schriftlich auseinandergesetzt habe. Die Blog-Beiträge sind immer auch Ausdruck meines Zugangs zum Buch. Ich betreibe keine Literaturkritik.

Da es absurd wäre, jedes Buch auf diese Weise zu verarbeiten (wozu auch?), fokussiere ich mich auf wenige, die es wert sind, dass ich mich mit einem ausführlichen Blogbeitrag damit auseinandersetze. Parallel will ich mehr Ressourcen ins Schreiben stecken, phasenweise auch sämtliche mir zur Verfügung stehende Zeit. Dem wird nun der Blogmonat zum Opfer fallen, der in dieser Form hier das letzte Mal erscheint. Ob und wie ich das Format, das beliebteste auf meinem Blog, ersetze, weiß ich noch nicht.

Die Juli-Bücher kurz vorgestellt

Was für ein herausragender Historischer Roman! Stephan Thome hat mit Gott der Barbaren von einem »War on Drugs» ganz anderer Art erzählt. Statt mit Gewalt den Strom von Drogen in das eigene Land zu stoppen, versuchten die Briten im 18. Jahrhundert China zu zwingen, Opium ins Land zu lassen. Während der US-Krieg gegen die Drogen ein Fiasko ist, hatten die Briten letztlich Erfolg. Thomes Roman schildert aus mehreren Perspektiven den Gang der Dinge, es ist beeindruckend, wie er die drei miteinander kämpfenden Fraktionen und ihre Weltsicht darlegt, die alle anderen faktisch ausschließt, dennoch von Zweifeln, offenen Fragen und zum Teil grotesken Widersprüchen geprägt ist. Neben dem offiziellen China und den Briten gibt es noch die Aufständischen, die versuchen, ein Paradies auf Erden zu errichten. Mit sattsam bekannten Nebenwirkungen, wie die Hauptfigur zu spüren bekommt. Ein deutscher Missionar, ehemals 1848er Demokrat auf der Flucht, wird in den Strudel hineingezogen, der Millionen das Leben kostet. Der Gott der Barbaren, der Christengott, ist Teil des Desasters. Einer der besten historischen Romane, die ich je gelesen habe.

Militärgeschichte ist keineswegs nur ein Thema für »Waffennarren und Lehnstuhlfeldherren«. Sie ist ein wesentlicher Teil der allgemeinen Geschichte und gemessen an ihrem Einfluss auf den Gang der Dinge hierzulande eher stiefmütterlich behandelt und wahrgenommen. Stig Förster nimmt sich in seiner voluminösen Darstellung einem halben Jahrtausend deutscher Militärgeschichte an. Explizit stellt er sie in den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang, nimmt Bezug auf andere Segmente der Geschichte, wenn sie etwas beizutragen haben. Deutsche Militärgeschichte* soll dabei kein Handbuch und erst recht kein Lexikon sein, sondern einem breiten Publikum einen Zugang zum Sujet verschaffen. Wie man sich denken kann, muss es naturgemäß Verkürzungen und Fokussierungen geben, doch das kann man getrost inkauf nehmen. Die längsschnittartige Behandlung der Militärgeschichte fördert interessante Erkenntnisse und manchmal auch regelrechte Glanzpunkte zutage. Parallelen und Unterschiede werden sichtbar, langfristige Trends und ihre Brüche. Mit Blick auf die Gegenwart ist Deutsche Militärgeschichte ein wichtiges Rüstzeug für die Auseinandersetzung mit einem überlebenswichtigen Thema. Das Buch ist Teil der von mir sehr geschätzten Historischen Reihe der Gerda-Henkel-Stiftung.

Große Geister, und doch auch kleinkarierte Kreaturen. Überspitzt formuliert, aber der Jenaer Freundeskreis, der sich vor der Jahrhundertwende in der kleinen Universitätsstadt zusammenfand und daranging, das »Ich« in die Welt zu entlassen, gebärdete sich auch reichlich bodennah gemessen an ihren hochfliegenden Worten, Ideen und Gedankengebilden. Andrea Wulf lässt in ihrem Buch Fabelhafte Rebellen auch diese eher profanen, zänkischen, von Eifersucht und Eitelkeit getriebenen Seiten nicht aus. Auf einem Sockel finden sich die Schlegels, Novalis, Fichte und wie sie alle heißen nicht wieder, was die Herrschaften umso lebendiger macht. Ohnehin muss man sagen, dass trotz einiger Ausnahmen mit den Frauen quasi die Hälfte der Menschheit von allem »Ich«- und Freiheitsgedröhn ausgeschlossen war, die Nöte des gewöhnlichen Volks schienen in diese Sphären gar nicht zu gehören. Für mich war die Lektüre hochspannend, die Schaffensweise und gegenseitige Stimulanz etwa von Schiller und Goethe ist ganz wunderbar geschildert, auch die politische Großwetterlage (Napoleon) rumpelt und grollt lange im Hintergrund. Am Ende weckt der Blick in die Zeit und Lebensumstände das Bedürfnis, zu den Klassikern zu greifen und zu lesen.

Zu den großen Stärken des Romans Blue Skies von T.C. Boyle gehört sein konsequent umgesetzter, kommentarloser Stil, in dem er seine Figuren in einer Welt handeln lässt, die von der Erderhitzung heimgesucht wird. Nur wenige Personen agieren an wenigen Orten. Die Personen sind sämtlich bemerkenswert makelbehaftet, was identifikatorisches Lesen fast unmöglich macht. Boyle lotet einen beträchtlichen Teil der menschlichen Abgründe aus.  Als europäischer Leser muss man mit direkten Übertragungen vorsichtig sein. Gesellschaftliche Konventionen, der Umgang und das Life-Style der US-Gesellschaft stehen im Fokus, die Klima-Katastrophe ist eher eine aktive Kulisse. Kurios, dass alle einfach weitermachen, sich in Teilen anpassen, ohne eine grundsätzliche Änderung der Lebensweise vorzunehmen. Manche Dinge sind seltsam: Inmitten harscher Wasserknappheit ist der Pool noch gefüllt, die Spülmaschine läuft ununterbrochen, trotz langer Stromausfälle. Ungereimtheiten, die übertroffen werden vom Romanende, mit dem ich hadere. Ein Natur-Elysium (als Hoffnungsschimmer?). Ausgerechnet ein Milliardär sorgt für Abhilfe, was mich schweratmend zurücklässt.

Der Tanz hatte für die Zeit der Weimarer Republik eine ganz besondere Bedeutung, wie Thomas Medicus in seiner vorzüglichen Biographie über Klaus Mann dargelegt hat. Dessen Erstling hieß nicht umsonst Der fromme Tanz. Mit diesem Wissen habe ich den Roman Der ewige Tanz von Steffen Schroeder gehört, dessen Planck oder als das Licht seine Leichtigkeit verlor mir ausgesprochen gut gefallen hat. Mit dem neuen Roman nähert sich Schroeder der berühmten und tragisch früh verstorbenen Tänzerin und Schauspielerin Anita Berber an. Die Handlung folgt ihrem Lebensweg, dessen Ende durch die geschickte Struktur der Erzählung vorweggenommen ist. Früh wird klar, wie verhängnisvoll die Mutter Anita Berbers ihrer Tochter gegenübergestanden hat, ein kleines Postkärtchen ans Sterbebett lässt in einen schwarzen Abgrund aus egozentrischer Missgunst blicken. Angenehm ist der Stil Schroeders, der Distanz hält und keine Nähe vorgaukelt, dabei aber einen unverstellten Blick hinter die Kulissen wirft. Ebenso wunderbar sind die vielen Begegnungen, die Anita Berber macht, wie immer bleibt das Bedauern, dass alles für die Katz war, als die Nazis kamen. 

Gleich zwei Bücher aus der von mir sehr geschätzten Historischen Bibliothek der Gerda Henkel-Stiftung habe ich im Juli ausgelesen. Der Historiker Pedro Barceló beschäftigt sich mit Spanien oder Hispania in der Antike, er spannt einen weiten Bogen von den Ursprüngen bis zum Beginn des Kalifats. Geschichte Spaniens in der Antike* bietet eine neue Perspektive auf bereits Bekanntes aus der Römischen Geschichte, mit überraschenden Einsichten. So wird der dramatische wie für den Aufstieg Roms zur Weltmacht entscheidende Krieg gegen Karthago nicht auf den italischen Boden fokussiert, sondern auf Hispania. Hannibals Scheitern in Italien hing einmal mit den Erfolgen Roms auf der iberischen Halbinsel zusammen, zum zweiten wurde dort die Grundlage für den Sieg gelegt und zwar auf wirtschaftlicher Basis. Die nachfolgende, schier endlose Eroberung der Halbinsel wirkte sich wiederum direkt auf die römische Innenpolitik aus, mit tiefgreifenden Folgen. Insgesamt ist der Band sehr gut lesbar, von einzelnen Passagen abgesehen, wie dem Anfang, wenn die in Hispania lebenden Stammesgruppen aufgelistet werden. Darüber sieht man jedoch gern hinweg.

Die Handlung des wohl berühmtesten Films von Fritz Lang, Metropolis, spielt 2026, also kommendes Jahr. Was für eine perfekte Gelegenheit, sich diesen Film (und vielleicht noch andere) einmal anzuschauen. Wer Fritz Lang eigentlich war, wie sein Lebensweg von der Malerei zur Regie führte, wie sich sein Schaffen in der Zeit der Weimarer Republik parallel zum Aufstieg des Nationalsozialismus entwickelte, erfährt man in der Graphic Novel von Arnaud Delalande / Éric Liberge.  Die Bilder sind grandios und ausdrucksstark. Die Rolle, die Thea von Harbou für Fritz Lang gespielt hat, wird ebenfalls deutliche, sie hat die Drehbücher für die großen Filme geschrieben und war einige Jahre Langs Geliebte und Ehefrau. In der Graphic-Novel leben sich beide unter anderem durch ihr unterschiedliches Verhältnis zum Nationalsozialismus auseinander, folgerichtig verlässt Land 1934 das Reich, während Thea dort bleibt. Thema ist auch der Tod von Langs erster Frau, offiziell ein Unfall, inoffiziell Mord. Die Graphic Novel lässt das letztlich offen, während die Hauptperson in Steffen Schroeders Der ewige Tanz, Anita Berber, von Mord ausgeht.

Blogmonat Juni 2025

Ein sehr informativer Lesemonat liegt hinter mir, drei Sachbücher aus sehr unterschiedlichen Bereichen sind dafür verantwortlich. Erzählerisch gab es ein fantastische Highlight und zwei gute Werke, ergänzt wird alles durch eine fabelhafte Graphic Novel. Cover-Rechte beim jeweiligen Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Die erste Hälfte des Jahres 2025 ist überstanden, nicht viel, gemessen daran, was uns noch bevorsteht. Doch richte ich meinen Blick erst einmal zurück auf meine Lektüre und Schreiberei in diesem Jahr. Gibt es schon Kandidaten für die Bestenliste im Dezember? Ja, da sind einige unter den bislang gelesenen Büchern. Nicht alle habe ich besprochen, dafür fehlen mir aktuell Zeit und Lust.

Romane
Leo Perutz: Nachts unter der steinernen Brücke
Walter Kempowski: Alles umsonst
Steffen Kopetzky: Grand Tour
Philipp K. Dick: Das Orakel vom Berge

Erzählungen
Warlan Schalamow: Kolyma

Sachbuch
Thomas Medicus: Klaus Mann

Es ist nicht gesagt, dass diese sechs Bücher am Jahresende zu meinen Lesefavoriten zählen werden.

Bis Jahresende werden noch einige Titel hinzukommen, ganz sicher der brillante historische Roman Der Gott der Barbaren von Stephan Thome, den ich gerade beende. Er gehört mit zu den besten Büchern des Genres, die ich kenne. Die wechselnden Perspektiven gehen mit den Stilvariationen Hand in Hand, eine ganz wunderbare Möglichkeit, sich dem historischen Gegenstand anzunähern. Der hat es in sich: Ein War on Drugs ganz anderer Art, denn die Briten wollen die Chinesen zwingen, Opium einzuführen.

Im zweiten Halbjahr erscheinen zudem noch viele sehr interessante neue Bücher, meine Liste potenzieller Rezensionexemplare umfasst mehr als fünfzig. Aus Zeitmangel werde ich aber maximal zehn davon wahrnehmen, der Fokus im zweiten Halbjahr steht auf dem Schreiben. Der Schlussband Opfergang meiner Piratenbrüder muss beendet werden, der Spin-Off-Band mit der Fortsetzung der Geschichte der Vinland-Fahrer um Stígandr, Eillir und Ryldr will vorbereitet sein.

Obendrein werde ich noch einige Bücher im Rahmen des Buchclubs auf Bluesky lesen. Aktuell beschäftigen wir uns mit T.C. Boyle, BlueSkies (wie passend), die Lektüre macht Spaß. Mit anderen gemeinsam lesen und sich austauschen, ist eine schöne Abwechslung. Jeder liest anders, nimmt andere Dinge wahr und wertet sie auf eine eigene Weise.

Kurzbesprechung der Juni-Bücher

Die Frage, welche Farbe die Haut Kleopatras, der ptolemäischen Königin Ägyptens hatte, ist »schlicht nicht zu beantworten«. Nach der Lektüre von Ann-Cathrin Harders’ Buch über Kleopatra* ist klar, dass diese Frage bedeutungslos ist. Sie verschwindet hinter einem komplexen, durch die vor allem römische Überlieferung stark verzerrten Bild, durch das eine intelligente, machtbewusst agierende, strategisch und taktisch kluge Herrscherin schimmert. Kleopatra hat im Rahmen ihrer Möglichkeiten agiert und bestaunenswerte Erfolge erzielt. Man denke nur an das Schicksal der vielen Königreiche, Herrschaften und Machthaber nach dem Sieg Roms über Hannibal. Besonders gut hat mir die Deutung ihrer Beziehungen zu Caesar und Antonius als »Arbeitspaar« gefallen, was sexuelle oder von Liebe gespeiste Bindungen keineswegs ausschließt. Leider ruht dieses lückenhafte Bild unter einem Gebirge an Fantasie-Erzählungen in der Rezeption, grotesken Zerrbildern mit unhistorischen Absichten. Dazu gehört auch der Streit um die Hautfarbe.

Jener Frühling, in dem gestorben wird, liegt nun gut 80 Jahre in der Vergangenheit. Ralf Rothmanns Roman führt den Leser mitten hinein in die letzten Monate des »Dritten Reichs«, jene aberwitzige, apokalyptische Selbstvernichtung im Angesicht der unabwendbaren Niederlage. Im Frühling sterben erzählt auf nüchterne, distanzierte Weise von zwei befreundeten jungen Männern, Walter und Friedrich, die in den Strudel des Untergangs hineingezogen werden. Kaum ausgebildet und an die Front in Ungarn geworfen, hinein in jene gnadenlose Menschenmühle, werden sie Zeugen von barbarischen Grausamkeiten der Kriegshandlung, von der die Zivilbevölkerung nicht verschont bleibt. Es ist nicht die dramatische Zuspitzung des Romans, bei der einer der beiden nach einem Desertionsversuch einer standgerichtlichen Erschießung entgegensieht und im Peloton sein Freund steht, die dessen Qualität ausmacht. Beeindruckend ist vor allem das Gefühl, wie sehr der Einzelne in einem totalitären System schutz- und rechtlos enthemmter Gewalt ausgesetzt ist, ohne etwas ändern zu können.

Mehr als zehn voluminöse Bände stehen in meinem Regal, die sich mit dem Zweiten Weltkrieg befassen. Bislang kenne ich nur den zweiten Band, jetzt habe ich mich mit dem vorletzten befasst: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg – Band 10/1: Der Zusammenbruch des Deutschen Reiches 1945 – Die militärische Niederwerfung der Wehrmacht. Es passt zeitlich zum achtzigsten Jahrestag des Untergangs, obendrein ist der umfassende Landkrieg durch Putins Vernichtungsfeldzug gegen die Ukraine in die Gegenwart zurückgekehrt. Die letzten Kriegsmonate waren eine apokalyptische und gespenstisch irreale Zeit, die Wehrmacht führte einen Krieg »fünf nach zwölf«, wie es treffend heißt. Unvorstellbaren Verlusten stand eine irrwitzige Scheinwelt gegenüber, die keineswegs auf Hitler in seinem Bunker beschränkte, sondern für weite Kreise festzustellen ist. Die Darstellung ist umfassend und ausgewogen, manchmal ein wenig trocken, wenn es um schwierige, faktisch nicht vollständig zu beantwortende Fragen wie die Zahl der in die Sowjetunion deportierten deutschen Zivilisten geht. Keine leichte Kost, aber hilfreich.

Was, wenn Hitlers Reich den Zweiten Weltkrieg nicht verloren hätte, sondern mit Japan die gesamte Welt beherrschte? Diesen ebenso faszinierenden wie erschreckenden Gedanken haben schon einige Romanciers aufgegriffen, keiner von den mir bekannten ist dabei so weit gegangen wie Philip K. Dick. Das Orakel vom Berge heißt im Original The man in the High Castle, ein martialischerer Titel, weshalb er wohl auch die Verfilmung des Romans betitelt. Das Buch setzt weniger auf Action, ist auf eine untergründige Weise spannend, die wenig mit einem Thriller á la Vaterland (Harris) oder Feindesland (Sansom) gemein hat. Es geht um tiefgreifende Fragen, etwa die nach dem Bösen und wie man damit umgeht, wenn vielleicht das Böse eher geeignet erscheint, das eigene Überleben zu gewährleisten. Wie steht es mit dem Einzelnen in einem totalitären Regime, das der Inbegriff des Lebensverachtenden ist und bewiesen hat, Massenmorde in unvorstellbarem Ausmaß durchzuführen? Mich hat das alles geradezu begeistert. Ein ganz wunderbarer Roman, der nicht mein letzter von Philip K. Dick gewesen sein wird.

Wieder einmal habe ich das Vergnügen gehabt, eine großartige Graphic Novel zu lesen. Die letzte Einstellung* von Isabel Kreitz führt mitten hinein in die so genannte »Innere Emigration« während des »Dritten Reichs«. Heinz Hoffmann, Schriftsteller und Journalist der Weimarer Zeit, bleibt nach 1933 in Hitlerdeutschland, erhält Berufs- und Publikationsverbot. Bis 1944 sitzt er im Goldenen Käfig, dann zerstört eine Bombe seine Wohnung und vernichtet seinen Besitz. Er kriecht bei seiner ehemaligen Geliebten Erika Harms unter, die bei der UfA tätig ist. Im Irrsinn des untergehenden Reichs wird nicht nur bis fünf nach zwölf gekämpft, sondern auch gedreht. Filmen ist auch ein Versuch, sich durch die Apokalypse der Vernichtung hindurchzumogeln. Der innerlich emigrierte Hoffmann gerät in Gewissensnöte, als sich durch die zupackende und realistisch agierende Erika die Möglichkeit ergibt, an einem »kriegswichtigen« Durchhaltefilm mitzuwirken. Schön, dass die Graphic Novel über das Kriegsende hinaus erzählt und ganz richtig die »Stunde Null« auch im Film als Märchen entlarvt. Das Nachwort ist sehr informativ, ebenso das Glossar, denn außer den beiden Hauptfiguren sind viele andere reale Personen in der Handlung verwoben.

Wie die Zukunft aussehen wird, weiß niemand. Sie ist offen, glaubt man manchen Wissenschaftlern, aber an bestimmte Pfade gebunden, deren Grenzen die Entwicklung wenig wahrscheinlich überschreiten würde. Trotzdem gibt es eine Menge Literatur, die sich der Zeit widmet, die noch bevorsteht. Mal im Stile einer Utopie, mal einer Dystopie, oft auch als (technologische) Space Opera. Assaf Gavron beschäftigt sich in den zwei Erzählungen des Bandes Everybody be Cool* mit einer Welt, die mehrere Jahrzehnte in der Zukunft liegt. Eine Reihe von heute drängenden Problemen sind gelöst, utopische Ideen im Stile eines Grundeinkommens realisiert. Doch erleben die Protagonisten der Erzählungen kein utopisches Bullerbü, sondern müssen feststellen, dass der Mensch allem sozialen, technologischem und politischem Fortschritt zum Trotz im Kern der gleiche geblieben ist. Autor Gavron legt den Finger in offene Wunden, denn bei jeder Entwicklung gibt es Verlierer, die sich wehren, Unzufriedene oder auch einfach Unglückliche. Die beiden Erzählungen sind daher lesenswert, wobei die titelgebende aus meiner Sicht literarisch hochwertiger ist als die längere mit dem Titel Zement.

Der Begriff »Vietnamkrieg« dürfte vertraut sein und vor allem mit dem US-amerikanischen Engagement im fernöstlichen Land verbunden werden. Doch ist das nur der zweite oder dritte Vietnam-Krieg, nach dem Ende der japanischen Besatzung versuchte Frankreich, seine Kolonie »Indochina« wiederherzustellen. Zu diesem kolonialen Gebilde gehörte auch Vietnam. In diesem Krieg, der 1954 nach der verheerenden Niederlage der Franzosen bei Dien Bien Phu endete, starben mehr als zweieinhalbtausend Deutsche. Sie kämpften in den Reihen der französischen Fremdenlegion, die traditionell immer viele Deutsche in ihren Reihen hatte. In Indochina waren es wenigstens 40 Prozent der Legionäre, eher wesentlich mehr. Das Buch L´ennemi util von Pierre Thoumelin beleuchtet auf umfassende und ausgewogene Weise den Indochina-Einsatz der Deutschen, die zum Teil aus den Reihen von Wehrmacht, Luftwaffe, Marine und in sehr geringem Umfang Waffen-SS stammten. Hierzulande ein Nischenthema, ist ein ehemaliger Wehrmachtssoldat im preisgekrönten Roman Die französische Kunst des Krieges von Alexis Jenni präsent.

Blogmonat Mai 2025

Im Monat Mai habe ich das mit Abstand dickste Buch in diesem Jahr gelesen, doch ist es das dünnste mit den schmalsten Texten, das mir am besten gefallen hat. Unbequem jenes über die Blutbäder in den USA, ein toller Krimi, eine spannende Sach-Graphic-Novel, Recherche-Lektüre und ein wichtiges Buch über eine Technologie, der keiner entkommt.

Vor einiger Zeit habe ich das Tagebuch eines Mannes beendet, der im 17. Jahrhundert in London lebte. Für gewöhnlich bezeichne ich so etwas als »Recherchelektüre«, was zunächst selbsterklärend erscheint. In diesem Fall wollte ich Impressionen eines Alltags in einer Großstadt erhalten, in der man nicht motorisiert und ebenso wenig mit einem Fahrrad unterwegs war.

Wichtig war mir, einen Eindruck der Fremdheit, des Trennenden zu bekommen. Tagebuchschreiber Samuel Pepys berichtet einiges, was dem Leser des beginnenden 21. Jahrhunderts völlig fremd ist. Manches mag man gar nicht glauben, doch hat Pepys problematische Aspekte seines Lebens, wie Korruption, Fremdgehen, Missbrauch mitso großer Offenheit notiert, dass es keinen Grund gibt, ihm Lügen zu unterstellen.

Aus der großen Masse an Impressionen werde ich nur sehr wenig tatsächlich in meinem Roman Opfergang – Piratenbrüder Band 7 konkret verwenden. Das Gelesene fließt eher indirekt ein, es bildet mit anderer Recherchelektüre ein Fundament, auf dem die fiktionale Geschichte mit ihren erdachten Figuren ruht. Es ist durchaus möglich, dass am Ende der Arbeit an Opfergang nichts wiederzufinden sein wird, was unmittelbar auf die Tagebücher von Pepys verweist.

Das ist gut so. Ein Roman ist ein fiktionales Werk, kein Sachbuch. Ich weiß, dass hierzulande gern die Frage gestellt wird, ob das Geschriebene in einem Historischen Roman denn stimme. Meine Antwort darauf lautet nein. Die Frage ist typisch für den Schulunterricht und hat mit Historiographie und Fiktion im Grunde genommen nichts zu tun. Geschichte »stimmt« nur in Teilen, der überwältigende Teil ist ein Konsens und gleichzeitige Infragestellungen dieser Übereinkunft.

Fiktion geht noch einen Schritt weiter und kreiert eine erzählte Geschichte mit erdachten Personen, deren Wurzeln in die Historiographie hineinreichen. Ich versuche mich von Geschichtsschreibung möglichst zu lösen, um die fiktionale Romanhandlung nicht zu sehr zu versachlichen. Ich mag keine Romane, die zu viel Sachwissen in den Vordergrund schieben, wie etwa See(kriegs)technik in den Hornblower-Büchern oder mannche Jugendbüchern, auf denen der Versuch geschichtlicher »Korrektheit« wie Mehltau liegt.

Ein anderes Problem ist, dass historisch überlieferte Dinge nicht glaubhaft wirken oder die Konventionen einen derart großen Wandel durchlaufen haben, dass Korrektheit schlichtweg Unlesbarkeit bedeuten würde. Das beginnt bei der Sprache, reicht über das Menschenbild und endet in der unangenehmen Erkenntnis, dass sich manche Dinge im Grunde nur wenig geändert haben, sondern die Verschleierung von Missständen geschickter geworden ist.

Im Mai ist mein jüngster Roman, Verräter – Piratenbrüder Band 6, erschienen. Es ist das große, dramatische Luftholen vor dem Schlussteil der Buchserie (Opfergang), der im kommenden Jahr erscheint. Für beide Bücher gilt das gerade Gesagte, wie auch für die anderen Teile der Buchserie um Joshua und Jeremiah.

Das dramatische Atemholen vor dem großen Finale der Buchserie um die Piratenbrüder Joshua und Jeremiah. Verräter – Piratenbrüder Band 6.

Kurzbesprechung der Mai-Bücher

Was preise ich den Tag, an dem ich Tony Hillerman und seine Buchreihe um die Navajo-Police für mich entdeckt habe! Auch der achte Teil, Sprechende Götter, ist rundum gelungen. Ein Toter neben Bahngleisen gibt Rätsel auf. Wer ist dieser Mann? Wie kam er dorthin? Und natürlich: Warum wurde er getötet? Joe Leaphorn bemüht sich um Aufklärung, während Jim Chee in anderer Angelegenheit in den Fall verstrickt wird: Ein Möchtegern-Navajo namens Highhawk mit indianischem Blut und Aktivist versucht mit spektakulären öffentlichen Aktionen die Aufmerksamkeit auf tausende Gebeine lenken, die im Museum (statt bestattet) liegen. Im fernen Washington suchen die Polizisten nach Antworten und geraten an einen professionell tötenden Killer. Toll erzählt, wunderbares Timing, Humor, ein interessantes Thema und (politisch-kultureller) Kontext, keine nervtötenden Show-Effekte oder jähen Twists, ebensowenig Gewalt oder Sex als Deckmäntelchen für fehlende Inhalte. Mit einem Wort: ein großartiger Kriminalroman.

Raumfahrt gehört zu meinen Interessen seit der Kindheit. Unvergessen das bebilderte Buch, in dem das US-Space-Shuttle als das »Arbeitspferd der 80er Jahre« angepriesen wurde – es kam anders, wie so oft bei Prognosen. Die Space-Opera in Gestalt von Romanen und Filmen taten ein Übriges, das Thema war und ist für mich interessant. Da die 2020er Jahre in Bezug auf die Raumfahrt, insbesondere die bemannte, absehbar einen Wendepunkt markieren, kommt die Graphic Novel Aufbruch ins Weltall* von Arnaud Delalande und Eric Lambert gerade recht. Die hochdramatische Phase des Wettlaufs zum Mond zwischen den USA und der Sowjetunion nimmt einen prominenten Platz ein, doch werden auch die kriegerischen Ursprünge der Raumfahrt (V2) und die politischen Rahmenbedingungen erzählt. Auch Fiction bekommt einen – kleinen – Platz im Buch, das sich am Ende der immer vielfältigeren Gegenwart widmet. Zahlreiche Nationen und die EU, finanzkräftige Investoren und Startups befeuern den Fortschritt massiv und machen das Geschehen zugleich unübersichtlich.

Wann immer es um Nino Haratischwili und ihr voluminöses Romanwerk Das achte Leben (für Brilka) ging, wurde es für mich ein wenig schwierig. Zwar konnte ich ihrem Die Katze und der General so viel abgewinnen, dass ich ihn trotz der unübersehbaren Schwächen für lesenswert hielt, doch war ich gegenüber den Lobeshymnen gegenüber dem anderen Roman skeptisch. Zum Glück habe ich mich dennoch an die Lektüre gewagt und bin nicht enttäuscht worden. Episch angelegt eröffnet der Generationenroman gerade für deutsche Leser, die allzu sehr auf Russland fixiert sind, eine neue Perspektive. Ausgesprochen interessant und geschickt inszeniert werden die vielfältigen Lebenswege einer georgischen (na, wer weiß auf Anhieb, wo Georgien liegt?) mit der Geschichte des Russischen Zarenreiches, der Sowjetunion und schließlich des unabhängigen Georgiens erzählt. Auch wenn der Erzählung am Ende ein wenig die Spannkraft ausgeht, ist der Roman einfach großartig und gerade wegen seines Umfangs lesenswert. Der heimliche Star ist die Schokolade, ein Hauch magischer Realismus inmitten dieser brutalen, menschenverachtenden Knochenmühle des bolschewistisch-stalinistischen Alptraums.

Künstliche Intelligenz ist in aller Munde. Auch ich habe davon gehört, ein wenig die Plauderroboter ausprobiert und festgestellt, dass sie bei meinem eigenen Schreiben keine Rolle spielen werden. In Romanen, wie etwa Das große Spiel von Richard Powers spielt die KI / AI eine zentrale Rolle. Doch wie weit und tiefgreifend diese Technologie, die sich rasant fortentwickelt, das Leben verändern wird, ist mir erst durch das Buch Künstliche Intelligenz von Manfred Spitzer vor Augen geführt worden. Niemand kann sich dem entziehen. Die Tragweite mancher Entwicklungen ist mit dem Wort „dramatisch“ nicht annähernd erfasst, es braucht keine Super-KI wie in den Terminator-Filmen, um die Menschheit an den Rand des Abgrunds zu bringen; die negativen Auswirkungen auf den Einzelnen und die Gesellschaft werden jetzt verursacht, befeuert durch grandioses Unwissen und darauf basierende Fehleinschätzungen. Gleichzeitig könnte KI eine Menge Positives bewirken. Könnte.

Die Tagebücher von Samuel Pepys sind von geradezu haarsträubender Offenherzigkeit. Das macht sie so lesenswert, so wertvoll. Die gravierende Unterschiede des Lebens vor fast vierhundert Jahren sind ebenso offenkundig wie bemerkenswerte Parallelen zur Gegenwart. Pepys versucht, seine Gelüste durch Gelübde in den Griff zu kriegen: Theater, Trinken, Frauen. Das gelingt manchmal einige Zeit, dann wiederum wird der Leser darüber informiert, wie er sich gehenlässt, viel Geld ausgibt, seine Frau betrügt und wegen allem ein fürchterlich schlechtes Gewissen hat. Korruption? Selbstverständlich! Pepys lebt und schreibt in den 1660er Jahren, unmittelbar nach der Cromwell-Zeit. Bewegte Jahre, kriegerische Auseinandersetzungen, der große Brand von London. Und doch sind es die Kleinigkeiten des Alltags, die Staunen machen. Man mag das oft gar nicht glauben, so grotesk klingt das Erzählte. Angesichts des Umfangs ist Das geheime Tagebuch ein langes Lese-Unterfangen, das denjenigen, der sich darauf einlässt, auf oft unterhaltende Weise in ein fremde und doch vertraute Welt führt.

Den Begriff Gulag kennt man, doch dürfte »Kolyma« vielen Zeitgenossen unbekannt sein. Es handelt sich um einen Fluss, fern im Osten Russlands, unwirtlich, kalt. Doch erzählt der Schriftsteller Warlam Schalamow in Durch den Schnee nicht von dem Fluss, sondern von einem Straflager, das bisweilen als das »brutalste« im generell menschenverachtenden und menschenvernichtenden Lagersystem unter Stalins Herrschaft bezeichnet wird. Der Untertitel ist neutral gehalten: Erzählungen aus Kolyma. Die kurzen Texte beleuchten schlaglichtartig das Vegetieren der Häftlinge in diesem Lager, das mit dem Leben wenig gemein hat. Die Impressionen und Reflexionen sind bedrückend und literarisch einfach ausgezeichnet. Dem Leser rückt das Grauen in einer klaren, unpathetischen Sprache näher, Schalamow führt auf diese Weise gekonnt vor, wie sich das angebliche (Arbeiter-)Paradies namens Sowjetunion als Hölle auf Erden realisierte. Es versteht sich von selbst, dass man nach einem Happy-End vergeblich sucht, unter Putin haben sich die nie ganz geschlossenen Tore der russländischen Verdammnis wieder weit geöffnet.

Das Buch hat mich bei einem Irrtum ertappt. Ich bin davon ausgegangen, mit einem Waffenverbot würde dem Problem der grotesk großen Opferzahl durch Schusswaffen in den USA ein Ende setzen. Theoretisch wäre das auch so, es ist reine Mathematik, dass mehr Waffen zu mehr Opfern führen. Praktisch wäre ein Waffenverbot keine Lösung, denn Millionen Amerikaner würden sich schlichtweg verweigern und dabei kräftig von Politik, Wirtschaft, Medien, Pressure- und Interessengruppen unterstützt. Exekutivorgane müssten das Verbot durchsetzen. Wie soll das bei 400 Millionen Schusswaffen funktionieren, wenn sich nur ein Teil ihrer Besitzer verweigern oder gar wehren? Paul Auster weist in seinem Buch Bloodbath Nation auf diesen Zusammenhang hin und zieht als Argumentationshilfe die unselige Prohibition heran. Es ist nicht die einzige unbequeme Sache in dieser Schrift, die angereichert ist durch zahlreiche, beklemmende, verstörende Fotos: ohne Waffen, Tote, Verletzte, Opfer, Täter – leere Orte des Verbrechens.

*Rezensionsexemplar

Blogmonat April 2025

Zum achtzigsten Mal nähert sich das Ende des Zweiten Weltkrieges, eine Graphic Novel skizziert in dramatischen Bildern den apokalyptischen Untergang. Zwei brillante Roman (und eine Enttäuschung), eine informative Abhandlung zu Hannah Arendt und vorzügliche über Leo Perutz sowie drei interessante Essays rund um das Schweigen. Ein feiner Lesemonat.

Verlage sind Unternehmen und handeln wie jedes andere Unternehmen auch. Sie sind keine Kultur- oder gar Bildungsinstitutionen, sie verfolgen primär Ziele, die aus betriebswirtschaftlichen Überlegungen hervorgehen. Gesellschaftliche Aspekte spielen eine untergeordnete Rolle. Es wird outgesourct, Kosten werden gesenkt (KI), Abläufe optimiert und aggressives Marketing (auf der Basis von Algorithmen) betrieben. Mit einem Wort: Ein Verlag macht im Kern das Gleiche wie etwa Amazon. Wirtschaftlichkeit ist dabei nichts Schlechtes, sondern das Fundament jeder Unternehmensexistenz.

Das sollte man im Auge behalten, wenn man sich mit dem Thema Verlage und Qualität von Literatur befasst. Verlage können mit Blick auf die Wirtschaftlichkeit keine Gralshüter literarischer Qualität sein, nicht nur Quell für Innovation, Progression oder Originalität. Ein Streifzug durch die Verlagsprogramme bestätigt das. Was dort an Ähnlichem und Austauschbarem präsentiert wird, ist bemerkenswert; inhaltliche Schmalspur-Massenproduktionen verpackt in knallige, ewig-gleiche Cover und farbenfrohe Buchschnitte gibt es reichlich. Umtost wird das alles von dramatisch-himmelstürmenden Lobesworten, unter »genial«, »brillant«, »Meisterwerk« oder »wichtig« geht es nicht.

Ist ein outgesourctes Lektorat für einen Verlag per se besser als eines für einen Selbstpublizierenden? Ich habe Zweifel. Doch selbst wenn das so ist, heißt »besser« nicht gut. Ein »besseres« Lektorat macht aus einer literarischen Ente noch lange keinen Schwan. Auch ein (freier) Lektor unterliegt wirtschaftlichem Druck, eine wie auch immer beschaffene literarische Qualität ist zwangsläufig zweitrangig. Das gilt erst recht für Übersetzungen, dicke Kostenbrocken in der Bilanz. Welcher Verlag wird der Verlockung der KI widerstehen, auch wenn das zu Lasten literarischer Qualität geht?

Und welchen Stellenwert kann Qualität in einer Welt haben, in der der fünfhundertste Aufguss der gleichen Geschichte noch immer Leser findet? Viele (international) erfolgreiche Buchreihen, deren Anfangsbände originell sind, erschöpfen sich in wiederholten Erzähl- und Handlungsmustern. Leser wollen nicht unbedingt überrascht, herausgefordert und schon gar nicht gegängelt werden. Sie suchen risikoscheu nach (scheinbarer) »Sicherheit«. Wer bei der Buchproduktion auf die Verkaufszahlen schaut, erliegt schnell der Versuchung, nur noch den vermeintlichen Leserwillen zu bedienen – bald mittels KI, die Bestseller vorhersagt.

Wer nun glaubt, ich sänge hier das Hohelied des Selbstpublizierens, irrt. Das wäre irrlichternder Nonsens, der eine sehr bequeme Weltsicht bedient, in der Gut und Schlecht einander gegenüberstehen müssen. Denkbar wäre ja auch Schlecht und Schlechter. Schon ein kleiner Streifzug durch Buchanfänge macht schnell manche Zumutung selbstpublizierter Bücher sichtbar. Auch Selbstpublizierer unterliegen den Mechaniken des Marktes, auch sie müssen auf die Kosten schauen. Die mantraartig vorgetragene Behauptung, ein Lektorat mache ein Manuskript besser, hilft wenig, wenn es nicht refinanziert werden kann.

Der Blick auf die Cover, Buchschnitte und bevorzugten Genres zeigt gerade auch bei Selbstverlegern einen erstaunlichen Konzentrations– und Konformitätsprozess. Die bisweilen lautstark behauptetet Progressivität und Diversität im Eigenverlagswesen wird gelegentlich auch unter Selbstublizierern als bloße Attitüde bekrittelt. KI wird von der Mehrheit – wie bei Verlagen – zur Kostensenkung und Ausstoß-Erhöhung verwendet, von Skeptikern gegenüber diesem Buch-Erstellen »Offenheit« eingefordert. Kritik begegnen viele KI-Schreiber mit einer Abwehrhaltung, die an Raucher bei Diskussionen um gesundheitliche Folgen des Tabakkonsums gemahnt.

Selbstverständlich gibt es Ausnahmen, Schattierungen sowohl bei Verlagen als auch bei Selbstpublizierern. Und das ist der Punkt: Die Kategorien »Verlag« oder »Selbstverlag« sind im Grunde irrelevant für jene, die nach Qualität, Originalität, Progressivität oder Relevanz suchen. Es ist ein Versuch, eine zunehmend unübersichtlichere Welt zu vereinfachen und diese Vereinfachung zu rechtfertigen. Man kann hier fündig werden und da, man kann hier enttäuscht werden und da.

Die Zukunft in Gestalt von KI, also Programmen, die sich entlang von Wahrscheinlichkeiten (!) hangeln und daher für einen dramatischen Konformitätsschub auf Seiten der Buchschreiber und -publizierer sowie der Leser sorgen werden, sieht auf beiden Seiten – pardon! – so richtig  sch***e aus.

Ich lese selbst aktuell ausschließlich Bücher aus Verlagen, meine Bücher veröffentliche ich jedoch selbst. Ein Widerspruch? Vielleicht. Vor allem ist es aber eine Frage der Zeit und damit der Ökonomie. Mehr als einhundert ungelesene Bücher, hunderte, die noch einmal gelesen (und auf dem Blog) vorgestellt werden wollen. Aus den Vorschauen suche ich mir zweimal im Jahr fünfzig bis sechzig Bücher heraus und versuche, mich auf fünf zu beschränken. Gelegentlich stöbere ich in selbstverlegten Werken, lese den Romanbeginn, irgendwann werde ich auch mal wieder eines vollständig lesen. Interessante Titel und Themen gibt es.

Fast vier Monate früher als geplant erscheint Verräter – Piratenbrüder Band 6. Es ist das dramatische Luftholen vor dem Finale. Das eBook wird exklusiv bei Amazon Kindle erscheinen und auch im Rahmen von Kindle Unlimited verfügbar sein, das Taschenbuch mit 424 Seiten gibt es wie üblich überall zu kaufen, wo man Bücher erwerben kann.

Kurzvorstellung der April-Bücher:

Vor ein paar Jahren las ich in der Sueddeutschen Zeitung einen Beitrag über Historische Romane. Zwei davon kaufte ich mir, neben Alejo Carpentier Die Explosion in der Kathedrale auch Der schwedische Reiter von Leo Perutz. Es ist kein Zeichen von Unbildung, diesen Namen nicht zu kennen. Perutz werde wenig gelesen, erfuhr ich in meiner Stammbuchhandlung. Ein Jammer, denn nach drei weiteren Büchern des Autors darf ich sagen: ein Großer. Ein Vergessener obendrein, wie man dem Buch Über Leo Perutz von Daniel Kehlmann entnehmen kann, das in der Reihe „Bücher meines Lebens“, herausgegeben von Volker Weidermann erschienen ist. Kehlmann ist ein engagierter Verfechter des vergessenen Autors Perutz. Seine paraphrasierende Annäherung an Nachts unter der steinernen Brücke zeigt sehr schön auf, warum das so ist. Perutz’ Hauptwerk ist höchst ungewöhnlich, ein Roman in Erzählungen, der auch etwas über seinen Schöpfer und sein tragisches Schicksal erzählt.

Auf den ersten, flüchtigen Blick scheint es sich bei Nachts unter der steinernen Brücke von Leo Perutz um eine Sammlung unzusammenhängender Erzählungen zu handeln. Einige Figuren tauchen jedoch mehrfach auf, was angesichts der Perspektivwechsel und Zeitsprünge vielleicht nicht sofort auffällt; der Ort des Geschehens bleibt jedoch gleich: Prag, um das Jahr 1600 herum, das Verhängnis des Dreißigjährigen Krieges wirft seinen langen Schatten voraus. Die Menschen selbst, vom Kaiser Rudolf bis hin zum reichen Juden Meisl treiben die Geschichte auf ihren untergründig, vielschichtig miteinander verflochtenen Lebenswegen voran. Durch die zerklüftete Form werden die Verbindungen auch für die Handelnden erst auf den zweiten, dritten Blick sichtbar, wenn es zu spät ist, der Schaden unwiderruflich angerichtet. Die Fiktion verweist auch darin auf die Wirklichkeit.

Mit der Graphic Novel Die letzten 100 Tage Hitlers* begibt sich der Leser auf eine Reise in den Mahlstrom des apokalyptischen Untergangs des so genannten »Dritten Reichs«. Das Buch setzt am 15. Januar 1945 ein, die Ardennen-Offensive ist krachend gescheitert, die Westalliierten stoßen Richtung Rhein vor, während die Rote Armee im Osten den Durchbruch erzwingt und bis an die Oder vorrückt. »Kriegführung bis fünf nach zwölf« nennen das Historiker sehr treffend. Wie das ausgesehen hat, zeigt die Graphic Novel in teilweise dramatischen Bildern. Immer wieder steht Hitlers aberwitziges Gerede im Hauptquartier kontrastierend zu dem, was in der realen Welt geschieht. Es war nicht nur Hitlers Krieg, die Eigeninitiative bei den unsäglichen Gewalt- und Mordtaten ist erschütternd. Ein Manko ist, dass die fürchterlichen Gewalttaten der Roten Armee gegenüber der deutschen Zivilbevölkerung außen vor bleiben. Doch ist der Rest nicht nur anlässlich des 80. Jahrestages ein sehr guter Beitrag, um einen schonungslosen Eindruck von der Realität im untergehenden »Tausendjährigen Reich« zu bekommen. 

Enttäuschend war der Roman Das große Spiel* von Richard Powers. Der vielversprechende Beginn weckte die Erwartung einer komplexen und vielleicht auch dramatischen Auseinandersetzung mit brandaktuellen Themen wie KI, Ökologie, Erderhitzung und (kolonialer) Ausbeutung. Vor allem der Ort, die kleine Insel Makatea im Pazifik, weckt die Vorfreude auf das Buch. Doch fokussiert sich die Erzählung auf die Freundschaft zwischen den Protagonisten Rafi und Todd, zu denen sich noch Ina gesellt. Vieles wird nur angetippt, alles bleibt sehr oberflächlich, sei es Schach, sei es das Startup-Tech-Wesen, verziert mit einer bisweilen überzogen wirkenden Sprache. Völlig losgelöst erscheint die Figur der Evelyne Beaulieu, die bis zum Ende seltsam künstlich, substanz- und gehaltlos wirkt. Die »Wissenschaft«, die sie angeblich betreibt, ist nur vorgeschützt, behauptet; stattdessen ist sie mehr eine fotogene Taucherin, deren langatmige Beschreibungen der Unterwasserwunder staunen lassen soll und doch furchtbar ermüdend ist.

Der Untertitel des Buches von Thomas Meyer über Hannah Arendt* bezeichnet sie als „Denkerin des 20. Jahrhunderts“. Schon nach ein paar Seiten wird der Leser damit konfrontiert, dass die Gedanken Arendts in der Gegenwart noch immer diskutiert werden, auf eine durchaus emotionale Weise umstritten sind. Nicht nur das geflügelte Wort von der „Banalität des Bösen“ ist bekannt. Fünfzig Jahre nach ihrem Tod scheinen die Überlegungen Arendts etwas für unsere Gegenwart zu sagen zu haben, insofern stellt sich die Frage, ob sie vielleicht auch eine Denkerin des 21. Jahrhunderts ist? Meyers Buch öffnet die Tür zur Person Hannah Arendt und ihren Werken. Notgedrungen sehr knapp, kann und soll das nicht die eigene Lektüre ersetzen, der Leser erhält einen Fahrplan, der schließlich auch keine Reise ersetzt.

Von Friedrich-Christian Delius habe ich bereits eine Reihe von Büchern gelesen, die Romane und längeren Erzählungen gefallen mir auch wegen ihrer großen, erzählerischen Dichte. Zwischen dem, was erzählenswert ist, schweigt Delius, wenn man so will. Dem Schweigen widmet der Autor ein ganzes Buch. Die sieben Sprachen des Schweigens enthält drei längere, essayhafte Beiträge, in denen es um das Schweigen geht. Delius berichtet über eine Schriftsteller-Tagung in Israel, auf der er einen Textauszug seines Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde vortrug, mit überraschenden Folgen. Im zweiten Teil geht es um einen Spaziergang mit Imre Kertész in Jena und die Gedankenschleife, die das auslöste. Der Schlussteil schildert Denkfolgen eines Delirs nach einer Operation. Der Leser bekommt in diesem Buch nicht nur Bedenkenswertes vorgesetzt, es schildert auch den Gang des Schreibens. Ganz nebenbei gibt es Glanzlichter, etwa Worte: »die Bequemdenker, die Begriffszufriedenen, die Klischeemaler«. Es ist das dritte Buch meines Lesevorhabens 12für2025.

Fabelhaft fabulierend ist der Roman Grand Tour von Steffen Kopetzky. Er schickt seine Leser auf eine nicht enden wollende Reise durch Europa, die Hauptfigur, Leo Pardell, nimmt nämlich in großer Not einen Job als Schlafwagenschaffner an. Eigentlich sollte er in Buenos Aires weilen, doch nur die willentlich um einige Stunden verstellte Zeit seiner Armbanduhr ist das Einzige, was den Trip über den Atlantik zumindest virtuell schafft. Die erzählte Wirklichkeit spielt sich in Europa, vorzugsweise in Zügen, Bahnhöfen, Hotels, Spielkasinos, der Erinnerung und weiten Gedankenflügen ab. Eine ganz besondere Uhr spielt in diesem verwickelten Geschehen eine zentrale Rolle: Die Handlung spielt 1999, der Jahrtausendwechsel naht und mit ihm die große Stunde einer Uhr, deren »Komplikation«, also mechanische Funktion, das Ereignis nachvollziehen kann. Auf ihrer Spur ist ein Sammler, dessen Weg Pardell kreuzt – wie so mancher anderer wundervoll gezeichneten Figur. Ganz am Ende bricht der Virus tatsächlich aus, in einem Lokal, auf dem Brenner, zur Jahrtausendwende. Neben Propaganda und Damenopfer ein weiterer, spektakulärer Roman von Steffen Kopetzky.

Blog Gestöber

Zu den Orten, die ich in den vergangenen Jahren oft aufgesucht habe, gehören Bücherschränke. In Göttingen gibt es zwar auch welche, doch dort komme ich selten vorbei; dafür in einem kleinen Ort bei Göttingen, den ich regelmäßig beim Wandern durchquere. Dort steht eine alte Telefonzelle mit Büchern, die für mich zumeist uninteressant sind und leider oft in einem schauerlichen Zustand.

Ein Hinweis, dass dies keine »Blaue Tonne« (für Altpapier) wäre, zeigt, wie manche Zeitgenossen ihre persönlichen (oder ererbten) Schätzchen mit wertvollen Büchern verwechseln. Ich habe also darauf geachtet, dass kein Buch aus meinen Regalen dort landet, das älter als die Nullerjahre ist. Von den mittlerweile mehr als 250 Büchern, die ich aussortiert habe, sind nur einige Dutzend in der Bücherzelle gelandet und zumeist innerhalb weniger Tage verschwunden. Sie haben also Leser gefunden – angesichts der Konkurrenz, ist das kein Wunder.

Daher bin ich sehr froh, diesen Bücherschrank entdeckt zu haben; ein weiterer ist zuletzt bei einer Wanderung jüngst hinzugekommen, der etwas besser sortiert ist. Dort werde ich sicher einmal ein Buch hintragen, wenn es wieder eines gibt, das sich aus meinen Regalen verabschiedet. Das ist eine zufriedenstellende Weise, sich von Büchern zu verabschieden. Die Mehrzahl wandert jedoch in den Müll bzw. in die echte Blaue Tonne.

Bei www.lesestunden.de gibt es eine Karte mit Bücherschränken, die einen raschen Überblick erlaubt, wo in der Nähe welche zu finden sind. Eine schöne und hilfreiche Sache, denn so habe ich zwei weitere Orte entdeckt, die ich bei meinen Wanderungen regelmäßig ansteuere und wo ich einen Bücherschrank finden kann. Sehr fein!

Blogmonat März 2025

Wieder eine hübsche Lese-Mischung, wobei diesmal ein klarer Schwerpunkt auf Rom liegt. Hier liest mein Recherche-Auge mit. Klarer Top-Titel ist Alles umsonst von Walter Kempowski, der eigentlich in den Februar gehört. Cover beim jeweiligen Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Vor rund einem Jahr war ich mir sicher, dass ich mir zwölf Monate später wünschen würde, die Zeit wäre stehengeblieben. Das war kein Versuch, die Zukunft zu lesen, mich wichtig zu machen oder irgendjemanden zu frustrieren, es war eher Ausdruck einer pessimistischen Hilflosigkeit. Die vorsichtige Formulierung ist meiner damaligen Hoffnung geschuldet, die US-Demokraten würden es irgendwie schaffen, Trump zu verhindern.

Naiv, rückblickend betrachtet. Eine weitere Fehleinschätzung war die FDP, ich dachte, die Herrschaften kleben wenigstens so lange an ihren Sesseln, wie es geht – um den konstruktiven Kräften der Ampel Zeit zu verschaffen. Weder hätte ich Lindner die Courage zugetraut, den Sprung ins Dunkle zu wagen, noch die grandiose Idee, das mit einem politischen Sprengstoffgurt um den Bauch zu tun.

Nun ist die Welt düsterer geworden. Was mich besonders betroffen macht, ist die Wiederholung von Fehlern. Ich meine damit die immer und immer wieder auftretende Neigung, Äußerungen von Trump, Putin & Co. so auszulegen, dass sie in den eigenen Referenzrahmen passen. Wenn der US-Präsident sagt, Europa wäre ein Gegner, dann meint er das. Auf eine andere Weise als Putin, doch mit kaum weniger schwerwiegenden Konsequenzen.

Ich bin verblüfft, wenn Leute das Gehabe von Trump, den Mullahs und Kim als »Irrsinn« brandmarken. Das ist eine Einbahnstraßen-Sicht, wie bei Putin vor 2022, 2014, 2008 und auch in Zukunft. Ich habe weiter oben nicht umsonst auf Christian Lindner verwiesen, von außen betrachtet war es auch »Irrsinn«, die Koalition zu sprengen und die eigene Partei in den Abgrund zu reißen – trotzdem hat er diesen »Irrsinn« mit Hilfe vieler einflussreicher Parteimitglieder durchgezogen.

Aus meiner Sicht braucht man sich über den wirtschaftlichen Absturz der USA nicht sonderlich zu freuen, denn der wird – vermutlich – für Trump keine unmittelbaren Folgen haben. Sündenböcke (Europa, Migranten) lassen sich leicht finden, Erfolge auf Kosten anderer (Ukraine, Osteuropa, Grönland, Panama) phantasieren und damit ist das Instrumentarium der Autoritären noch lange nicht ausgeschöpft. Die Macht der Desinformation ist gigantisch, Timothy Snyder hat in Über Freiheit geschildert, dass er schon vor knapp zehn Jahren erstaunt registrierte, wie gut russische Propaganda in den USA funktioniert.

Was kann man tun? Nun, zum Beispiel die Ukraine unterstützen. Lesen, was Ukrainer schreiben. Spenden. Private Spenden sind wichtig, auch wenn sie sich gegenüber dem, was Staaten zahlen, gering ausnehmen. Bei näherem Hinblicken sieht es anders aus. 5,30 Euro pro Kopf und Monat beträgt der Gegenwert der deutschen Unterstützung – das kann man als Einzelner locker übertreffen. Um etwas zu bewegen, müssen nicht alle mitmachen, aber jeder einzelne zählt.

Kurzvorstellung der März-Bücher

Im letzten Blogmonat vergessen, daher jetzt rasch nachgetragen: Alles umsonst von Walter Kempowski führt den Leser in den Januar 1945 nach Ostpreußen. Die Rote Armee steht zum Sturm bereit, doch im Gut Georgenhof nahe der (erdachten) Kleinstadt Mitkau lebt man, als ob nichts wäre. Die Personen sind in Unwirklichkeiten versponnen, dabei kann man das dräuende Unheil kaum übersehen. Kriegsgefangene, verschleppte Zivilisten leben und arbeiten auf dem Hof und in der Umgebung, es gibt Andeutungen über die grausamen Verbrechen im Osten, Luftangriffe, an die Front rollende Panzer, handfeste Warnungen. Die Zeichen sind leicht zu deuten, doch reagieren die Bewohner viel zu spät, zu zögerlich und geraten in den Mahlstrom des Untergangs. Ich konnte gar nicht anders, als zu überlegen, ob sich dahinter nicht eine allgemeingültige menschliche Verhaltensweise verbirgt. Ein ganz großer Roman, der erste meines Lesevorhabens Wiedergelesen – 4für2025.

Wer ermordete Julius Caesar? Die Frage lässt sich recht leicht beantworten, die Namen der Männer, die den Diktator mit zahlreichen Messerstichen töteten, sind bekannt. Einige darunter sind berühmt, etwa Brutus, der Vorgang ist zahllos in Dramen (Shakespeare), Romanen (Robert Harris) und anderen fiktionalen Werken behandelt worden. Wozu also noch ein Buch über die Mordsache Caesar? Autor Michael Sommer hat gute Gründe, sich dem Fall anzunehmen, denn die eigentliche Frage ist doch die nach den Motiven der Mörder. Wann und warum wurde der weitreichende Entschluss gefasst, Caesar zu töten? Die Spurensuche führt tief in die römische Geschichte, sie enthüllt für uns recht fremde Gegebenheiten der römischen Politik, in der Herkunft, Namen, Abstammung und Ruhm eine so immense Bedeutung hatten und schildert anhand von ausgewählten Personen die Werdegänge der späten Republik. Der Leser bekommt ganz nebenbei einen Eindruck, wie schwerwiegend die Abkehr von einem bestimmenden Politik- und Gesellschaftsstil sein kann. 

Mit Schreibratgebern stehe ich auf Kriegsfuß. Zu groß finde ich die Gefahr, dass kreatives Schreiben zu regelkonformen Tippen verkommt, einer Art Malen nach Zahlen; schlimmstenfalls auch noch auf Marktkonformität getrimmt. Im Zentrum meines Schreib-Interesses steht das Thema, das mich so beschäftigt, dass ich mich damit schreibend auseinandersetzen möchte. Daher interessieren mich Bücher wie Becoming a Writer von Dorothea Brande, auf die Hilary Mantel in einem Interview aufmerksam gemacht hat. Es ist ein Ratgeber, der sich jedoch mit der Person des Autors befasst und – wenn man so will – vor der Beschäftigung mit Schreibtechniken und vielleicht auch Schreibkursen gelesen werden sollte. Es geht nämlich um das Wichtigste im Leben eines „Writers“, nämlich einer zu sein, wie einer zu leben und zu arbeiten. Sie betont die Eigenverantwortlichkeit des Schriftstellers, von der ihn niemand befreien kann, weder Lektor noch Testleser noch Schreibratgeber.

Eine Menge Erstaunliches hält Faramerz Dabhoiwala in seinem Buch Lust und Freiheit für den Leser bereit. Der Fokus liegt auf England, vor allem dreht es sich um das 17. und 18. Jahrhundert. Der Wandel im Verhältnis zur Sexualität ist verblüffend, eine Disruption würde man heute sagen. Nicht zu unrecht verwendet Dabhoiwala den Begriff Revolution. Ausgehend vom Mittelalter und der Frühen Neuzeit mit ihren Versuchen, ein sexuelles Moral-Regime zu errichten, beschreibt das Buch, wie die Betrachtungsweisen peu á peu aufweichen und einer neuen Haltung Platz machen. Es sind kuriose, zum Teil erschreckende Befunde, die aus den ausführlich zitierten Quellen sprechen. Frauen mussten eine Menge schauerlicher Dinge erdulden, die errungene Freiheit galt vor allem für (sozial höhergestellte) Männer. Wie die Französische Revolution und die von 1848 wurde ein Teil der Gesellschaft vom Streben nach Freiheit ausgeschlossen,  die verheerende Doppelmoral schuf erbarmungswürdige Zustände und abenteuerliche Versuche der Abhilfe.

Ein mäandernder Streifzug durch die Lebenswelt der Römer, wie sie in Geschichtsbüchern oft nur am Rande erwähnt wird. Michael Sommer bringt Licht ins Dunkel des Dark Rome, ein Unterfangen, das sich glücklicherweise nicht darin erschöpft, durch Schlüssellöcher die intimen Sphären des (außer-)ehelichen Lebens auszuspähen. Apropos Schlüssel: Wohlhabende Römer stellten ihren Reichtum durch Ringe mit Schlüsseln daran zur Schau. Neben solchen Details geht es aber auch um Grundsätzliches, etwa die Notwendigkeit, legitime Nachkommen in die Welt zu setzen. Das galt vor allem für die Oberschicht, keusches Verhalten der Frauen war von zentraler Bedeutung. Die Sittenstrenge lockerte sich, je weiter die gesellschaftliche Leiter hinabgestiegen wurde, doch auch dort war die Not groß, wenn ungewollt Kinder gezeugt wurden. Dark Rome ist ein Kaleidoskop der widersprüchlichen Vielfalt römischen (Alltags-)Lebens.

Die Gedichte von Paul Celan kann man mit verständnislosem Staunen lesen und wiederlesen, sich daran abarbeiten, assoziierend nachdenken. Oder aber man greift zu einer Ausgabe, die neben den Poemen erhellendes Material bereithält. Die Todesfuge und andere Gedichte ordnet eine Auswahl von Celans Gedichten ein, erläutert Textpassagen und einzelne Wörter und unternimmt erste Schritte Richtung Interpretation. Naturgemäß ist dieser Teil wesentlich umfangreicher als die Lyrik. Der Leser wird zudem über Celans Leben informiert, außerdem ist eine recht lange Rede des Dichters anlässlich der Verleihung des Büchner-Preises abgedruckt. Das ist ein wenig wie bei einer Kunstflugschau, bei der man dem kurvenden Kreisen in luftigen Höhen staunend zuschaut und unwillkürlich die Frage stellt, ob die Schwerkraft vielleicht doch nicht allgegenwärtig ist.

Die Pflanze im Schnabel der Friedenstaube ist kein Zufall. Ausgerechnet Cannabis soll der DDR die dringend benötigten Devisen verschaffen, bezahlt vom Klassenfeind aus dem Westen, gehandelt in einer Art Grauzone an Grenzübergängen. Die Idee, im besten Gewissen zum Vorteil der DDR und des sozialistischen Bruderlandes Afghanistan erdacht, entwickelt ungeahnte Dynamik (und Gelächter beim Leser), eine Drogen-Flut droht aus dem Osten in den Westen Deutschlands zu schwappen. Alles ist so wundervoll harmlos, lustig, grotesk erzählt, unter diesem Deckmantel herrlich subversiv. Die Figuren entlarven den verlogenen DDR-Sozialismus (und nebenbei auch die Bigotterie im Westen – Milliarden-Kredit!) und brechen aus den verkrusteten Strukturen aus. Wie Grischa mit einer verwegenen Idee beinahe den Weltfrieden auslöste* von Jakob Hein ist ein Schelmenroman im besten Sinne. Chapeau!

Wie lebten und wie starben die Leute von Pompeji? Diesen Fragen geht das Kompendium Die letzten Tage von Pompeji* von Martin Pfaffenzeller und Eva-Maria Schnurr (Hg.) in vielen kurzen Beiträgen nach. Klar ist, dass die Umstände der Katastrophe apokalyptisch waren: Bimssteinregen, der die Gassen überflutete und Dächer zum Einsturz brachte; heiße Aschewolken; eine Glutlawine. Die Stadt, die davon betroffen war, platzte förmlich aus allen Nähten. Die sozialen Verhältnisse waren von dramatischen Unterschieden geprägt, Superreiche hier, prekäre Massen dort. Die Vielfalt der Lebensumstände, die Fremdheit von Alltagsdingen wie Thermen, öffentlichen Bedürfnisanstalten, Betrug beim Zocken, Krawallen, Heilkunst, Saufkunst, Kochkunst spiegelt sich in der Vielfalt der Beiträge dieses sehr informativen und leicht zugänglichen Buches. Besonders gefallen hat mir, wie die Aussagekraft archäologischer Funde kritisch unter die Lupe genommen wird.

*Rezensionsexemplar

Blog-Gestöber

Manchmal komme ich mir vor wie in einem Irrenhaus. Es geht dabei keineswegs nur um Trump & Co., nein, es reicht ein Blick zur Sueddeutschen Zeitung, wo Heribert Prantl nach mehr als drei Jahren vollumfänglicher Invasion und Vernichtungskrieg noch immer Täter-Opfer-Umkehr betreibt und fern der Wirklichkeit von einer Feindschaft gegenüber Russland schwadroniert. Die hartnäckige Verweigerung der Realitäten reicht weit hinein die deutsche Gesellschaft, was in der Ukraine, dem angegriffenen, zerstörten, erpressten, halbherzig unterstützte, aber immer noch tapfer verteidigenden Land mit Kopfschütteln quittiert wird. Auf den Punkt bringt es zuverlässig Christoph Brumme mit seinen Beiträgen auf seinem Blog Honigdachs.

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